Zenon

 

Zenon sagt: „Der fliegende Pfeil ruht.“ D. h.: wenn man genau darüber nachdenkt, ist es un­möglich, dass er fliegt. Er kann gar nicht fliegen. Was nämlich in jedem Augenblick einer gegebenen Zeitspanne an einer genau fixierten Position still­steht, be­wegt sich nicht. Wenn der Pfeil in jedem Augenblick in einer ganz bestimmten Posi­tion ver­harrt, kann er sich insgesamt nicht bewegen.

Was in einem einzelnen Augenblick genau den Raum einnimmt, der seinem Ausmaß ent­spricht, bewegt sich nicht. Es ruht im Augenblick. Im fixierten Augenblick, an jedem beliebi­gen Kontrollpunkt, findet also keine Lagever­änderung statt. Nun aber ruht der Pfeil in jedem Augenblick der Zeitspanne, in der sich bewe­gen sollte. Was an der Stelle feststeht, an der es sich befindet, ruht.

Zenons Pfeil bewegt sich zu keinem Zeitpunkt seines Fluges, sondern er nimmt in jedem Zeitpunkt genau den Raum ein, der seiner Länge entspricht.

 

Zenon hatte sich weitere Bewegungsparadoxien ausgedacht. Z. B. Achill im Wettrennen mit einer schlauen Schildkröte, die sich wegen ihrer zehnfachen Langsamkeit einen Vorsprung erbeten hatte. Jedesmal wenn Achill die vor­herige Position der Schildkröte erreicht hat, hat sich diese Kreatur wieder ein kleines Stück fortbewegt. Soviel mal, wie man sich nur denken kann oder will. – Sage mir eine Anzahl, und ich sage dir eine größere. - Der Vorgang des Einholens kann wegen der übermäßig großen Anzahl der Teil­vorgänge nicht [niemals] vollendet werden. Achill, you can’t win the competition.

 

Wieder eine andere Überlegung. Bevor man eine Wegmarke erreicht, muss man die Hälfte der Wegstrecke durchlaufen. Vor dem Ziel steht das Teilziel. Und so weiter, über alle gege­bene Zahl hinausgehend. Achill, you can’t get started. – Der Vorgang kann hier wegen der übermä­ßig großen Anzahl der Teil­schritte gar nicht erst begonnen werden.

 

Es gibt noch ein weitere Beispiele, z. B. mit einer ruhenden und zwei entgegengesetzt be­wegten Linie. Auch hier spielt die Überlegung wegen der Anzahl von Einheiten bei den Li­nien und der Zeitstrecke die tragende Rolle für die Herleitung einer Paradoxie. Das Beispiel ist aber schwieriger aufzufassen als der Achill oder der fliegende Pfeil.

 

Die Paradoxien des Zenon sind in den Schriften des Aristoteles überliefert. Im 6. Buch [Z] seiner Physik.

 

Aristoteles hat versucht, den Paradoxien des Zenon im 6. Buch [Z] seiner Physik auf bemer­kenswerte Weise beizukommen. Daraus schöpfe ich die Hoffnung, dass es vielleicht doch möglich ist, Bewegung und Wandel als zumindest etwas Denkbares darzustellen. Tatsächlich sind wir es doch gewohnt, Bewegung und Wandel nicht nur für etwas Denkbares, sondern sogar für etwas Wirkliches zu halten. Nehmen wir den fliegenden Pfeil, der sich in keinem Augenblick be­wegt. Wenn man nun sagt, dass er sich deshalb auch innerhalb einer gegebenen Zeitstrecke nicht be­wegt, heißt das, dass man sich diese Zeitstrecke aus einer [unendlichen] Menge von Einzel­punkten zusammengesetzt denkt. Es kann aber nicht sein, dass eine Zu­sammensetzung von ausdehnungslosen Punkten eine bestimmte Ausdehnung ergibt, denn ausdeh­nungslose Punkte, endlich viele, oder meinetwegen auch unendlich viele, erzeugen keinen zeitlichen Zusam­menhang. Zwischen je zwei verschiedenen Punkten ist wieder ein dritter. Also können zwei verschiedene Punkte, so nah sie auch beieinander liegen mögen, nicht aneinander gren­zen oder gar einander berühren. Der Punkt, der zwischen ihnen liegt, trennt sie ja. Also besteht eine zusammenhängende Strecke nicht aus Punkten. – „Besteht aus“ und „ist zusammengesetzt aus“ ist hier äquivalent. - Eine Strecke besteht aus Teilstre­cken, welche die Punkteigenschaft der Unteilbarkeit nicht besitzen. Strecken, so klein sie sein mö­gen, besitzen die Eigenschaft, in Teilstrecken teilbar zu sein. Der Punkt ist etwas Un­teil­ba­res, die Linie aber besteht aus wiederum teilbaren Teilstrecken. Diese bilden einen Zu­sam­men­hang, indem die Ränder zweier Teilstücke eine Einheit bilden.

 

So A.s Definition des Kontinuums: die Ränder zweier Teilstücke fallen in eins, bei einer Li­nie z. B. in einen Punkt, bei einer Fläche in eine Linie usw.. Aber eine Linie besteht nicht aus Punkten, eine Fläche nicht aus Linien.

 

Nun ist klar, dass in jedem noch so kleinen Zeitabschnitt eine entsprechend kleine Lage­ver­änderung des fliegenden Pfeils stattfinden kann. Zenons Paradoxie bedeutet die Unmög­lich­keit der Bewegung lediglich unter der Prämisse, dass die Zeitstrecke eine Zusammenset­zung aus Zeitpunkten ist. Nur so konnte er sagen, dass der Pfeil, weil er in jedem fixierten Augen­blick ruht, auch insgesamt ruhen muss. Das Denken muss, um die Bewegung begreifen zu können, ne­ben den Zeitpunkten auch noch ganz besonders kleine Zeitstrecken anerkennen, kleiner als jeder angebbare Wert, in denen der Bewe­gungsvor­gang in beliebig kleinen Teilvor­gängen verlaufen kann. Die beliebig kleine Zeitstre­cke ist nicht gleich dem Zeitpunkt, die beliebig kleine räumliche Lageveränderung nicht gleich Null. Zenon aber setzt die unend­liche Teilbarkeit der Strecke gleich einem Bestehen aus unendlich vielen erstreckungslosen Punk­ten.

 

Die Paradoxien des Zenon resultieren aus der Tatsache der unendlichen Teilbarkeit räumli­cher und zeitlicher Strecken. Dabei sah Zenon zwei Alternativen. Fasst man das Phänomen [dieser unendlichen Teilbarkeit] so auf, dass eine gegebene Strecke aus unendlich vielen Teil­strecken endlicher Länge besteht, wird die gegebene Strecke über alle Maßen groß. Fasst man das Phänomen dieser unendlichen Teilbarkeit aber so auf, dass die gegebene Strecke nicht aus über alle angebbare Zahl vielen Teilstrecken, sondern aus über alle Zahl vielen Punkten be­steht, wird die Strecke unendlich klein.

 

Im Grunde genommen führte Zenon mit seinen Überlegungen die Lehre des Pythagoras ad absurdum. „In allen Dingen ist Maß [bestimmte Anzahl]“, könnte man diese Lehre paraphrasieren oder: „Was existiert, ist ein Vielfaches aus Einheiten.“ „Gut“, könnte Zenon dazu gesagt haben, „bei ei­ner gegebenen Strecke bestehen die Einheiten wieder aus Einheiten und sind selbst ein Vielfa­ches von Einheiten.“ Ist nun die kleinste Streckeneinheit eine Strecke vom Maß 0, führt das sogar bei endloser Vervielfachung nicht zu bestimmten Strecken von endlicher Länge, son­dern ebenfalls nur zum Maß 0, ist die kleinste Strecke aber eine Teilstrecke von lediglich kleinem, aber nicht unendlich kleinem Maß, haben wir, weil wir eben von der unbegrenzten Teilbarkeit der Ursprungsstrecke aus­gingen, eine gegebene Strecke von einem über alle Maß­zahl hinaus­gehenden Maß. Also ist der Pythagorismus in der Geometrie absurd, gleichgültig welche der beiden Alternativen man wählt.

 

Das Wieviel-fache aus den allerkleinsten Teilen ist aber nun eine gegebene Strecke? Aus wie viel Teilstücken besteht denn nun die unbegrenzt teilbare Strecke? Wir sagen: aus einer über alle angebbare Anzahl hinausgehenden hohen Zahl. Nicht einfach: aus unendlich vielen Teilstücken. Und wie klein sind diese kleinsten Teilstre­cke davon? – Übermäßig klein. Ein über­mäßig Vielfaches einer übermäßig kleinen Strecke kann demnach eine Größe von endlicher Länge ergeben. In einer unbegrenzten Anzahl von Schrit­ten kann man sich so einer bestimm­ten endlichen Größe beliebig nähern. Beliebig nähern, nicht exakt fixieren. Aber dennoch mit jedem Maß von geforderter [und auch fixierter] Genauigkeit. Sage mir, wie genau du es haben willst, und ich führe die erforderliche Anzahl von Rechenschritten aus. Auf zwei Dezimal­stellen genau, aber auch auf drei oder vier. Oder eben noch mehr.

 

Wenn man fragt: „Aus wie viel Teilabschnitten besteht ein Streckenabschnitt von endlicher Länge, er muss doch aus einer gewissen Anzahl von Teilstrecken bestehen?“ so entpuppt man sich als Anhänger des Pythagoras, den Zenons Argumente in die Enge treiben werden. Die Antwort lautet: „Sie besteht aus so vielen Teilstücken, wie immer du willst.“ – „Und wie klein sind diese?“ „So klein, wie du willst, aber ungleich der Länge null sind sie.“ Sie sind nicht aus­dehnungslos.

 

Problemen wie dem des Achill mit der Schildkröte ist man in der Mathematik mit Hilfe [der Methode] der Grenzwertbetrachtung beigekommen. Nehmen wir an, Achill ist zehnmal so schnell wie die Schildkröte und erhält 100 m Vorsprung, die er in 10 sec läuft. [Die Schild­kröte ist für eine Schildkröte um der Leichtigkeit der Rechnung willen sehr schnell und läuft in 10 sec 10 m. Achill läuft 100 m, dann 10 m, dann 1 m usw., Zeitdauer ist 10 sec, 1 sec, 1/10 sec. Nach 111 m und 11 cm hat er das gemeine Tier fast erreicht, es fehlt nur noch ca. 1 mm. Nach 111,12 m hat er es aber schon überholt, also nach 11,12 sec ist der genaue Zeit­punkt der Einholung bereits vergangen.. Im Fall der Längen haben wir eine geometrische Folge mit dem Anfangsglied a = 100 m und dem Faktor q = 0,1, mit dem wir das n+1-te Glied aus dem n-ten Glied errechnen können. Mit wachsendem n nähert sich die Folge der Teil­summen [nicht Summe der Summen!] dieser endlosen Reihe einem endlichen Grenzwert. Man spricht deshalb von einer konvergierenden Folge, die man genau dann hat, wenn der Faktor q kleiner 1 ist. Endlich ist der Wert, insofern er zwischen Werten endlicher Größe liegt, in unserem Beispiel: 111,11... m. Man kann dem Grenzwert so nahe kommen wie man will, ihn aber mit keinem noch so groß gewählten n überschreiten. Die Grenzwert der Folge der Teilsummen nennt man „Summe der unendlichen geometrischen Reihe“. Nun kann man sagen: „Die Summe der Glieder einer kon­vergierenden, geometrischen Folge hat einen endli­chen Grenzwert.“ Das bedeutet: Die Folge der Teilsummen strebt im Falle von q < 1 mit un­begrenzt wachsendem n einem Grenzwert endlicher Größe entgegen.

 

Betrachten wir zur Festigung der Überlegung den Fall der unendlichen Dichotomie einer Ein­heitslänge: ½ + ¼ + 1/8 + 1/16 usw.. Anfangsglied ist hier ½, der Quotient zweier aufeinander­folgender Glieder ebenfall ½. Damit haben wir eine präzise Bestimmung für den Übergang von Glied n zu Glied n + 1. Die Folge der Teilstücke nähert sich der Länge von der Maßzahl 1 in jedem geforderten Grad an fixierter Genauigkeit. Man sieht hieran, dass der Grenzwert einer endlosen geometrischen Reihe auch ein einfacher, natürlicher Zahlenwert sein kann.

 

Die unendliche Teilbarkeit ist nach der genannten Überlegungsmethode eine potentielle Un­endlichkeit, insofern es lediglich eine präzise Regel für den Übergang von n zu n+1 gibt. Man kann nicht sagen: „der Vorgang besteht aus einer vollendeten, aktuell gegebenen unendlichen Menge von Teilschritten.“ – Eine solche Formulierung sollte eigentlich wegen Unverständ­lichkeit Erstaunen erregen. Wagner lässt Wotan in Rheingold singen: „Vollendet [ist] das ewige Werk.“ Bei einer solchen Formulierung fällt uns auf, dass man eine Menge von unend­lich vielen Schritten in der Tat niemals vollzogen haben kann. Aber man kann natürlich sa­gen, dass man einen Wert von endlicher Größe in einem beliebig geforderten Maß von fi­xierter Genauigkeit in einer abzählbaren Menge von Schritten erreichen kann. Und genau auf diese Weise wird die Rede vom Grenzwert gerechtfertigt. – Umgekehrt ist die minimal kleine Ab­weichung vom Grenzwert infinitesimal klein, die unendlich kleine Größe. Es ist die Größe, die kleiner ist als jeder beliebig geforderte Wert von fixierter Genauigkeit.

 

Durch die Betrachtung einer endlosen geometrischen Reihe konvergierender Art, also mit q < 1, hat man eine Darstellung der endlosen Teilbarkeit entwickelt, welche der Potentialität die­ser Unendlichkeit gerecht wird. Man redet nicht einfach vom unendlich Kleinen, was rätsel­haft wirken könnte und z. B. den Spott Berkeleys hervorrief, der ungefähr so sprach: „Es sind keine endlichen Größen und doch auch nicht keine Größen. Sind es die Geister verstorbener Größen?“ – Nein, wir nähern uns auf einem eleganten und gangbarem Weg dem unendlich Kleinen, indem wir die Folge der Summen von immer mehr und immer kleiner werdenden Werten betrachten, die wir durchaus berechnen können. Wir haben eine Regel, von n zu n + 1 überzugehen. Der Fortschritt zum immer Kleineren wird dadurch genau so selbstverständlich möglich wie das „usw.“ des natürlichen Zählens. Auch hier gibt es keine größte Zahl. Es gibt keine Zahl, bezüglich der es nicht noch eine größere gäbe. Und so gibt es auch keinen Teil­wert einer Streckenabschnittseinheit, bezüglich dessen es nicht wieder den millionsten Teil davon gäbe.

 

Durch die Grenzwertbetrachtung der „Summe“ einer endlosen, geometrisch konvergierenden Reihe von Zahlenwerten wird das unmessbar Kleine ebenso wenig rätselhaft [bzw. ebenso rätselhaft] wie das endlose „usw“ des natürlichen Zählens. Bereits hier hätte man den Pytha­goras fragen können: „Herr Pythagoras, Sie sagen, alles was es gibt, habe natürliches Maß und existiere als Anzahl von zählbaren Einheiten. Aber wie viel verschiedene Anzahlen gibt es denn selbst?“ Ja, denkt man wehmütig: „Soviel man will:“ „Eine größte Zahl, die gibt es nicht. Und das letzte Wort ward nicht gesprochen.“

 

Das unendlich Kleine ist also keine Größe von fixierter Ausdehnung. Dennoch, wenn es sol­che Größen nicht gäbe, entkämen wir den Paradoxien des Zenon, - unter der Vorausset­zung endloser Teilbarkeit – nicht. – Wir könnten dann wohl sagen: „In der wirklichen Welt gilt die Mathematik der unendlichen Teilbarkeit nicht. Infinitesimal kleine Größen gibt es nicht in der wirklichen Welt.“ Es gäbe demnach solche Größen nur in der Mathematik des Konti­nuums, der zusammenhängenden Größen mit dem gemeinsamen Rand, die A. so genial defi­nierte. Nach der Revolution der Quantenphysik ist das Wirklichkeitskontinuum tatsächlich nicht mehr aktuell. Eine endliche Größe ist ein endliches Vielfaches einer sehr kleinen, den­noch fixiert anzuge­benden Größe. Man hört einfach nach einer endlichen Anzahl von Teil­schritten mit der Teilung auf. Es geht nicht immer noch kleiner. Man darf einfach nicht fra­gen, was zwi­schen zwei Kontrollpunkten mit dem kleinstmöglichen Abstand ist. Warum darf man nicht? Weil die Natur eben nur ganze Sprünge macht und in der Hälfte einer sehr kleinen Zeiteinheit einfach nichts geschieht. Der Pfeil des Zenon steht im fixierten Zeit­punkt still. So war es auch bei Zenon. Im nächstmöglichen Zeitpunkt steht er woanders still, ein ganzzahli­ges Vielfaches einer sehr kleinen Einheitsstrecke entfernt. Da­zwischen ist er einfach nicht unterwegs. – Hier wird uns das Quantenszenario befremdlich. – Der Pfeil ist hier oder dort, niemals dazwischen. Zeit und Raum der Wirklichkeit sind hier keine zusammenhängenden [kontinuierlichen] Größen mehr. Auch damit ist den Bewegungsparadoxien der Boden entzo­gen.

 

Der „Achill“ ist ein Sophisma, weil er verkennt, dass eine endlose Folge von immer kleineren Teilschritten sich einer bestimmten Größe beliebig nähert. Der „Pfeil“ ist ein Sophisma, weil er unterstellt, dass eine wie immer große Anzahl von Punkten eine Strecke bildet.

 

Zum Abschluss noch eine Reflexion auf den fließenden Augenblick. Im fixierten Augenblick, dem exakt fixierten Anfang oder Ende einer Zeitstrecke, findet keine Bewegung [Lageverän­derung] statt. Soweit hat Zenon recht. Nach einer endlich kleinen Zeitspanne hat eine Bewe­gung stattgefunden. Eine endlich kleine Lageveränderung wird registriert. Nun gibt es eine Zeitspanne, die kleiner ist als jede beliebig klein angegebene Zeitpanne, dennoch aber größer als null. Und es gibt eine Lageveränderung, die kleiner ist als jede beliebig geringe Lagever­änderung, dennoch aber größer als null. Der genau fixierte Augenblick weitet sich nicht aus zum unendlich kleinen und dann zum endlich kleinen Zeitabschnitt. Man muss die kleinen und kleinsten Teile kontinuierlicher Größen vielmehr vom Ganzen gegebener Größen und von deren endloser Teilbarkeit her begreiflich machen.

 

Wie klein ist die kleinste ausgedehnte Größe? – Die kleinste Größe ist beliebig klein. Was heißt das: „beliebig klein“? Fixiere einen sehr kleinen Wert und denke, dass sie noch kleiner ist.

 

Inwiefern beinhaltet das Regelwerk für die Betrachtung der „Summe“ einer endlosen, kon­vergierenden, geometrischen Reihe die Vorstellung eines unendlich Kleinen? – Genauer ge­sagt, beinhaltet es die Vorstellung eines beliebig Kleinen. Fixiere z. B. den millionsten Teil einer Strecke und errechne davon wieder den millionsten Teil. Man begreift die Sache also nicht von der Gegebenheit des Allerkleinsten her, sondern von der Endlosigkeit des Fort­schreitens her zu immer weiteren Teilungsschritten. Es gibt nicht das Allerkleinste, sondern den beliebig weiteren Fortgang der Teilungen. – Dabei gibt es weder den vollendeten Fortgang zur größten Zahl noch den vollendeten Fortgang zum kleinsten Teil.

 

Die endliche kontinuierliche Größe besteht also aus beliebig vielen beliebig kleinen Teilen. Nicht aus unendlich vielen gegebenen kleinsten Teilen, die man gedanklich fixieren könnte. Sie sind so klein, wie man sie haben will, unter jeder beliebig festgelegten Größe, aber größer als Null. Diese beliebig kleinen Teile einer Größe bauen nicht die Gesamtgröße auf, sondern sind von der endlichen Gesamtgröße her durch die Methode der endlosen Teilung mit jedem geforderten Maß an Genauigkeit zu erfassen. Eine Ausdehnung vom Maße null ist ihr uner­reichbarer Grenzwert, nicht ihr Wert.

 

Die unendlich kleine Größe gibt es nicht, sondern die beliebig kleine. Beliebig klein heißt: Sage mir einen sehr kleinen Wert, und ich sage dir einen kleineren. Beliebig klein heißt: klei­ner als jeder angebbare Wert. – Umgekehrt die beliebig große Anzahl: Größer als jeder an­gebbare Wert. Sage mir eine sehr große Zahl, und ich sage dir eine größere. Gegeben ist hier jeweils ein angegebener Wert und eine Regel, den nächsten in der Reihe zu bestimmen. Ge­geben ist nicht die unendlich große oder unendlich kleine Größe.  Vielleicht redet man besser von endlosen Reihen als von unendlichen Reihen. Das „Gegebensein“ des vollendet unend­lichen [Großen oder Kleinen] ist ein Problem, das Gegebensein einer Größe mitsamt einer Regel, die nächste in der Reihe zu bestimmen, ist unproblematisch. Bzw. so problematisch wie das endlose „usw.“ des natürlichen Zählens. Es gibt eine Zahl, so groß wie du sie haben willst, aber keine größte.

 

Zenon war ein Anhänger des Parmenides und versuchte mit den Bewegungsparadoxien, des­sen Argument für die unteilbare und unbewegte Einheit des Seienden zu stützen. Beweisziel dieser Paradoxien war also: die Undenkbarkeit der Bewegung trotz all dem verwirrenden Au­genschein, der uns umgibt. Methode der Argumente: die reductio ad absurdum.

 

Weiteres unter Parmenides.

 

Ich verweise auf einen Aufsatz, der im Jan. 1995 in der Zeitschrift „Spektrum der Wissen­schaft“ erschien. Autor ist William I. McLaughlin, der dort eine Zahlentheorie des Logikers Edward Nelsons bespricht; - im Zusammenhang mit Zenons Bewegungsparadoxien. Dieser Aufsatz ist das Beste, das ich je über Zenon  gelesen habe. Der Aufsatz heißt: „Eine Lösung für Zenons Paradoxien.“ Überschrift: „Seit der altgriechische Philosoph zu beweisen suchte, dass jegliche Bewegung logisch unmöglich sei, grübeln Denker über seinen Rätseln. Nun bietet die mathematische Logik eine Lösung an, indem sie das unmassbar Kleine in strenge Begriffe fasst.“

 

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2004