Gegenstand und Eigenschaft

 

Wenn wir, - wirklichkeitsgemäß, - etwas von etwas denken, dann ist da etwas, der Gegen­stand, von dem wir etwas denken, und etwas, die Eigenschaft, die wir davon denken. Etwas, wovon wir etwas denken, ist Gegenstand, etwas, was wir von etwas denken, ist Eigenschaft. Es ge­lingt uns, unter günstigen Umständen, uns denkend auf den Gegenstand [im Unterschied zu anderen Gegenständen] zu beziehen und an ihm eine Eigenschaft [im Unterschied zu ande­ren Eigenschaften] zu erken­nen, [indem wir sie von ihm denken,] gemäß der kategorialen Aussa­gestruktur: etwas von etwas, griechisch: ti kata tinos.

Eine identifikatorische Leistung liegt dabei in zweierlei Hinsicht vor: Der Gegenstand muss im Unterschied zu anderen bezeichnet werden, denn sonst wäre nicht bestimmt, wovon die Aussage gilt, und die Eigenschaft muss im Unterschied zu anderen Eigenschaften an ihm als vorhanden erkannt werden.

 

Bei einer Aussage der Form „einige A sind B“ muss allerdings kein einzelner Gegenstand identifiziert werden können. Hier geht es um die Schnittmenge zweier Begriffsumfänge. Eigenschaften führen zur Mengenbildung, indem diejenigen Ge­genstände, auf die eine Eigenschaft zutrifft, zum Begriffsumfang gerechnet werden. – Begriffe sind Begriffe von Eigenschaften [auch Relationen] und deshalb klassifikatorisch. - In mo­derner Sprechweise spricht man von Aussagefunktionen. Die entsprechenden Mengen sind dabei alle diejenigen Dinge, welche die Aussagefunktionen erfüllen. Die Wahrheit der Eigen­schaftsprädikation führt also zu klassifikatori­scher Mengen­bildung. Bei „einige A sind B“ sagt man: „Es gibt etwas, das sowohl A als B ist, zumindest eins, vielleicht meh­rere.“ Es muss dabei aber nicht gelingen, genau auf diese einzelnen Gegenstände in identifizieren­der Weise Bezug zu neh­men.

 

Ein weiterer Aspekt ist folgender: Wiederkehrendes Etwas sind beide, Gegenstand und Eigen­schaft. Gegenstand ist dasjenige Etwas, das in unterschiedlichen Situationen, mit unter­schiedlichen Eigenschaften und in verschiedenen Zuständen wiederkehrt. Eigenschaft ist dasjenige, was da an unterschiedlichen Gegenständen dasselbe ist. Beide sind also wiederkeh­rende „Identitäten“ in Bezug auf ansonsten Unterschiedliches.

 

In beiden Fällen haben wir es mit der Wieder-Erkennung von Wiederkehrendem zu tun. Inso­fern besteht ein Zusammenhang von Erkenntnis und Erinnerung. Abstraktion und erneute Vergegenwärtigung wiederkehrender „Daseinsmuster“ gibt es in beiden Fällen. Bei der Erin­nerung spielt möglicherweise die Art der Vergegenwärtigung eine größere Rolle als dort, wo wir einfach von „Erkenntnis“ reden. Einbildungskraft, als eine Fähigkeit der Vergegenwärti­gung ohne direkte Gegenwart der Sache selbst, spielt in beiden Fällen eine Rolle, tritt aber bei der Erinnerung, die sich auf Vergangenes bezieht, deutlicher hervor. – In der Erkenntnis tat­sächlicher Gegenwart gibt es den Sonderfall, dass wieder erkennbares Daseinsmuster, ein „Begriff“, allererst abstrahiert und „verfertigt“ wird. Aber eine „absolut“ neue Situation, bei der nichts Wieder-Erkennbares ist, würde uns völlig überfordern.

 

Wir leben in einer Wirklichkeit, in der es in verschiedenen Situationen wiederkehrende Ge­genstände gibt; - und an verschiedenen Gegenständen wiederkehrende Eigenschaften. Dies ist eine [empirische!] Voraussetzung, unter der es uns gelingt, etwas von etwas zu sagen und Themen sowie Gegenstände zu fixieren. Denkbar ist jedoch, dass es in der raum-zeitlichen Wirklichkeit so kunterbunt zuginge, dass es gar nichts Wiederkehrendes gäbe.

 

Es wäre denkbar, dass dieselbe Eigenschaft an nichts ein zweites Mal sich wiederfindet. Al­les wäre immer wieder etwas anderes.

Es wäre auch denkbar, dass ein und derselbe Gegenstand nur so kurzzeitig existiert, dass er schon nicht mehr existierte, wenn ein Eigenschaftswechsel an ihm anstünde. Es könnte kein Ei­gen­schaftswandel an ihm stattfinden, weil es ihn schon nicht mehr gäbe.

Es wäre ebenfalls denkbar, dass kein Gegenstand so lange existiert, dass wir ihn einmal in einer ande­ren Situation erneut erkennen [re-identifizieren] könnten.

Gewissermaßen leben wir nun tatsächlich in einer Wirklichkeit ohne Wiederkehr ganz genau des­selben. In der Physik der kleinsten Teile und Energiefluktuationen gibt es tatsächlich keine wieder-erkennbaren und genau zählbaren Einzelgegenstände, nur Messergebnisse der glei­chen oder ähnlicher Art, die statistischen Wahrscheinlichkeitsge­set­zen unterliegen. Das immer andere und niemals Wiederkehrende fügt sich zwar zu wieder er­kenn­baren Gestaltun­gen., aber es handelt sich dennoch letztlich um nicht reproduzierbare, kurz­fristige Daseins­fluktua­tionen. Im Grunde genommen ist im­mer wieder alles anders und den­noch ereignet sich immer wieder Ähnliches.

Die Einheit der größeren Gegenstände, die wir in wechselnden Situationen re-identifizieren, beruht auf einer Einheitlichkeit der Gestaltung und des Gepräges der in ihnen enthaltenen, selbst wechselnden und nicht recht dingfest zu machenden Bestandteile. Ähnlich wie der Rhein heute und der Rhein morgen nicht dasselbe Wasser führen und doch irgendwie das­selbe sind, so bestehen auch andere Gegenstände, auch Menschen und Tiere, heute und mor­gen nicht aus denselben Bestandteilen. Aber eine Zeit lang bleiben gewisse typische Züge [an ihnen] erhal­ten und bilden durch eine charakteristische Anordnung und Nähe zueinander für eine gewisse Zeit dauernde Ein­heiten und wieder erkennbare Konfigurationen innerhalb eines Sammelsuriums von flie­ßen­den Prozessen.

Es kommt also zu benennbaren und wiederkehrenden Dingen und Eigenschaft in einer Wirk­lichkeit, in der es letztlich und grundlegend nichts Wiederkehrendes gibt.

Das Woraus-des-Bestehens der Dinge dieser Wirklichkeit sind die Stoffe, die wir che­mische Elemente nennen. Auch diese Gliederung ist ein Gruppierungsmuster der eigent­lich endlos und unfixiert fluktuierenden Wirklichkeit. Aus der Tatsache, dass gewisse Arten von Fluktu­ationen ausgeschlossen sind, erklärt sich die Fixierung der Natur auf einen be­grenzten Vorrat von Stoffarten. Das Atom einer gewissen Stoffart kann nicht einfach ein Energiequantum beliebiger Größe absorbieren oder emittieren und in der Verwandlung zu etwas anderem jeg­lichen Zwischenzustand annehmen. Das setzt der Diversifikation der Stoffe be­stimmte Gren­zen und schließt ein Übermaß an Wandlungsfähigkeit aus.

Selbstverständlich wäre es denkbar, dass wir immer wieder auf Gegenstände träfen, die aus noch nie gefundenen Stoffen und Bestandteilen bestünden. Dann wären wir mit unserem Denken noch mehr überfordert, als wir es sowieso schon sind.

Vielleicht wäre das menschliche Denkvermögen in einer Welt des allzu chaotischen Wandels und der fast generell misslingenden Abstraktion kein zweckmäßiges Ausstattungsstück für darin vorkom­mende Lebewesen gewesen. Dass eine Menschheit mit diesem sonderbaren Vermögen [Fähigkeit], zumindest für kurze Zeit, in dieser Wirklichkeit hat entstehen können, zeigt, dass es mit der Wieder-Er­kennbarkeit des Gleichen immerhin derart steht, dass es kein lebensgefährlicher Nachteil ist, diese Fähig­keit zu trainieren und zu kultivieren. Wobei man sagen muss: Die Wiederkehr des Gleichen ereignet sich in ansonsten Unter­scheidbarem. Allerdings werden auch die Unterschiede typisiert.

In all diesen Fragen hängt unsere Fähigkeit, etwas als etwas zu erkennen, an der Vorausset­zung, dass wir Wiederkehrendes in unterschiedlichen Situationen herauszufinden vermögen, also an einem Prinzip von Einheit und Unterschied, Identität und Differenz. Der Einheitsge­sichtspunkt befindet sich dabei auf der Seite der Begriffsbildung und des Wieder-Erkennens, der Unterschiedsgesichtspunkt auf der Seite der nicht wiederkehrenden konkreten Wirklich­keit, die einen Zauber an wiederkehrenden und wieder-erkennbaren Mustern hervorbringt.

 

Unser Denken ist wesentlich ein klassifikatorisches Denken. Es hängt an der Hypothese ähn­lich wiederkehrender Gegenstände, ähnlich wiederkehrender Eigenschaften und ähnlich wie­derkehrender Situationen. Es ist wesentlich abstrakt und steht mit mehr oder weniger fixierten Begriffen einer fluktuierenden Wirklichkeit annähernd wiederkehrender Daseinsmuster ge­genüber.

 

Mit Gegenstand meine ich all das, worüber wir sprechen und nachdenken können. Was dem Denken zu denken gibt, wovon das Denken das Denken ist, das ist Gegenstand. Dabei halte ich die objektive materielle Wirklichkeit für einen Teilbereich des Denkbaren. Hinzu kommt die Subjektivität unserer Gefühle, Empfindungen und Wahrnehmungen, sofern es sich dabei um Subjektives im Sinne eines wesentlich Nicht-Objektiven und Nicht-Objektivierbaren han­delt. Dass es dergleichen gibt, wird uns klar, wenn wir uns verschiedener unserer Bewusst­seinszustände inne werden, ohne ein objektives Urteil über irgend etwas zu wagen. Hinzu [zu nunmehr objektiv und subjektiv Bestehendem] kommen weiterhin begriffliche, logische und mathematische Entitäten, sofern wir hier auf Zusammenhänge geistiger Konstruktionen sto­ßen, die wir nicht empirisch ableiten. Wenn ich sage, es gibt tatsächlich eine Zahl, die mit sich selbst multipliziert 625 ergibt, dann ist diese Zahl eine begrifflich fixierte Entität nicht-empirischer Art, von der ich gemäß einem abstrakten Regelwerk für den Umgang mit abs­trakten Entitäten, nämlich Zahlen, sprechen kann.

 

Der Mensch hat es nicht allein mit der empirisch-objektiven Realität zu tun, sondern ganz wesentlich auch mit subjektiven Befindlichkeiten und mit mehr oder weniger abstrakten Denkbarkeiten. [Hinzu kommen verschiedene Sorten von Wertungsfragen: das Angenehme, das Nützliche, das Schöne, das Gute usw..] Dabei übersieht man oft die [ein wenig willkür­lich] gedachten Zusammenhänge und hält sie für unmittelbar gegebene empirische Realität. Es kommt natürlich bei den Zusammenhängen darauf an, welche dieser Zusammenhänge tatsächlich existieren, welche konstruiert und welche übersehen werden. Außerordentlich schwierig wird die Wirklichkeitsfrage, wenn ohne Aufwand an begrifflichen Hilfskonstrukti­onen und fiktiven Idealisierungen, deren man sich sogar bis zu einem gewissen Maße bewusst ist, eine Beschreibung gewisser Realitäten nicht gelingen kann, z. B. in der Psychologie oder in der Gesellschaftsanalyse. Wir sind dann fast gezwungen, von Dingen zu sprechen, die wir in der Einzelerfahrung nur annähernd nachweisen können. Fast jede feste Aussage in man­chen Angelegenheiten fordert den Zweifel an ihrer Gültigkeit direkt heraus.

 

Übrigens gilt auch für erkannte und wieder-erkannte Zusammenhänge der Gesichtspunkt von Einheit und Unter­schied.

 

Man spricht von Kunstströmungen, z. B. vom Impressionismus, sogar in so verschiedenen Gebieten wie Malerei, Musik und Literatur. [Der Gegenstand „Impressionismus“ erfüllt die Aussagefuktion „... ist eine Kunstströmung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.“] Da man auch in diesem Fall von etwas spricht, wie ich annehme, werde ich mich nicht scheuen, auch so etwas einen Gegenstand zu nennen. Ein Etwas, wenn auch allgemeiner und übergrei­fender Art, das etwas mit dem Verhalten von künstlerisch täti­gen Menschen und deren Produktionen zu tun hat. Insofern ist es auch Eigenschaft. Weil von dieser Eigenschaft durch das Prädikat „Kunstströmung“ wiederum etwas prädiziert wird, ist es Gegenstand höherer oder abstrakter Stufe. Ebenso spricht man von Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsformen. Auch das sind in meiner Terminologie Ge­gens­tände. Der Beg­riff des Gegenstan­des und der des The­mas, worum es einem Nachdenken geht, ist also fast das­selbe. Dabei erkenne ich an, dass die kul­turellen Gegenstände der höhe­ren und abstrakte­ren Ebenen sehr viel schwieri­ger zu fassen und zu identifizieren sind, als die gewöhnlichen Gegenstände alltagstauglichen Formats. So kann man z. B. darüber streiten, ob wir in einer Markwirtschaft le­ben oder nicht. Manche der erkennbaren Üblich­keiten in unse­rem gesellschaftlichen Er­werbsleben sprechen dafür, manche dagegen. Es kommt sehr viel darauf an, wie man das Prädikat „x ist eine Marktwirtschaft“ definiert. Aber es ist ein Eigen­schaftsprädikat und insofern nenne dasjenige Etwas, das diese Aussagefunktion erfüllt, einen wirkli­chen Gegenstand. Durch die Frage, ob es dergleichen gibt oder nicht, wird im Falle eines schwer zu definierenden Prädikates auch die Frage der Existenz eines Anwendungsfalls schwer ent­scheidbar. Es ist dann schwer zu entscheiden, ob wir von etwas reden oder von nichts.

 

Auch Religionen, wie z. B. Christentum und Buddhismus, sind Gegenstände. Hier ist der Ge­genstand nicht nur mit „Thema“ gleichzusetzen, er wird sogar zum weitläufigen Themenfeld. Die Voraussetzung einer Einheitlichkeit oder Einheit des Gegenstands wird fast schon zum Erkenntnishindernis. Dennoch stellt man z. B. Fragen wie: „Ist das Christentum, zumindest seinem Wesen nach, eine sanfte Religion?“ Es kommt natürlich bei solchen Fragen sehr dar­auf an, was man unter der Sache versteht. Genau in solchen Dingen fehlt uns allerdings die hinreichend präzise Definition, bzw. allgemein anerkannte Definitionen gibt es nicht in sehr vielen Themenbereichen. Man könnte vermuten, je abstrakter und höherstufiger ein Gegen­stand ist, desto mehr ist er vieldeutig und eine Einheit von Disparatem. Ich möchte das aller­dings hier nicht behaupten, denn offenbar besteht ein großer Unterschied zwischen abs­trakten mathematischen und logischen Gegenständen und kulturell historischen Phänomen. Die Ein­deutigkeit und Eleganz der mathematischen und logischen Gegenstände hat wohl damit etwas zu tun, dass es sie in der konkreten menschlichen Wirklichkeit nicht gibt. Mit den kulturellen Abstrakta will man dagegen historisch gegebene, oft mehrdeutige Phänomene mit einer un­übersehbaren Fülle von Aspekten klassifizieren.

Weizsäcker sagt im Falle der Religion, er unterscheide „in der Fülle der Phänomene, die unter den Namen der Religion gebracht werden können,“ „vier Momente“: „Religion als Träger einer Kultur, Religion als Grund einer radikalen Ethik, Religion als innere Erfahrung, Reli­gion als Theologie.“ [Zeit und Wissen, I 10, S. 500]

 

Unter den Namen „Nominalismus“ diskutierte man einst die Maxime Occkams: „Entia prae­ter necessitatem non sunt multipicanda.“ Die Überlegungen, die ich hier vorführe, zeichnen sich ganz entgegen dieser Maxime durch eine gewisse Hemmungslosigkeit in der Annahme von abstrakten, höherstufigen Gegenständen aus. Dabei halte ich Überlegungen wie z. B. die, dass ein Phänomen wie „Industrialisierung des Erwerbslebens“ etwas über die zu einer be­stimmten Zeit in einem bestimmten Gebiet üblich werdenden menschlichen Verhaltenswei­sen aussagt, für angebracht und sinn­voll. Aber ich glaube nicht, dass sich der höherstufige Gegenstand „Industrialisierung“ als facon de parler aus all unseren Texten eliminieren lässt, in­dem wir mit weniger abs­trakten Ausdrucksmitteln einfach dasselbe sagen und dadurch näher an der konkreten Einzel­erfahrung bleiben. Das hängt zum Teil mit der Natur theoreti­scher Konstruktionen zusam­men, die sich, zumindest nicht vollständig, in Begriffen einer Beo­bachtungssprache definie­ren lassen. Zudem ist natürlich auch der Begriff einer reinen Beo­bachtung suspekt. Da wir nun dennoch über strukturelle Gegebenheiten, existierende und nicht-existierende Zusam­menhänge usw. reden und debattieren, habe ich wenig Hoffnungen, dass sich das zunächst so sympathische Vorhaben einer begrifflichen Askese nach Art von Occkams Rasiermessers durchführen lässt. Sollten allerdings derartige Definitionen gelingen, nach denen man dann wirklich wüsste, von was eigentlich man redet, wären sie sehr begrü­ßenswert und im Grunde genommen großartig.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2004