atque metus omnis et
inexorabile fatum
subiecit pedibus
strepitumque Acherontis avari.
(Vergil [70 - 19 v. Chr], Georgica. 2, 490 ff.)
Selig,
wem es gelang, die Gesetze der Welt zu erkennen,
wer,
von Beängstigung frei, das unerbittliche Schicksal
und
des gierigen Acheron Rauschen zu Füßen sich legte!
Übersetzungshilfen:
strepitus, us |
Geräusch, Rauschen |
Acheron |
Fluss in der Unterwelt, schwarz, trübe und bitter.
Über seine traurigen Fluten geleitete Charon, der Fährmann, die Seelen der
Abgeschiedenen auf Nimmerwiederkehr. |
avarus |
gierig, unersättlich |
Hunc solem et stellas et
decedentia certis
tempora momentis sunt
qui formidine nulla
inbuti spectent: quid
censes munera terrae,
quid maris extremos
Arabas ditantis et Indos
ludicra, quid plausus et
amici dona Quiritis,
quo spectanda modo, quo
sensu credis et ore?
(Horaz [65 - 8 v. Chr.], Briefe, I, 6, Ad
Numicium)
Diesel
Aufsatz enthält 2 Exkurse: über den Ausdruck “Bestimmung”, und über “höhere
Werte”.
Einige betrachten unsere
Sonne, die Sterne und den gesetzmäßigen Wandel der Jahreszeiten und sind dabei
von keinerlei Sorgen bedrückt: was zählen dann die Güter der Erde, der kostbare
Tand des Meeres, den es an fernen Gestaden den Arabern und Indern spendet? Was
gilt der Beifall und die Gunstbezeugungen des wählenden Bürgers? Wie willst du
diese Dinge einschätzen, was möchtest du dazu sagen?
Übersetzungshilfen:
hunc |
gleich
hanc, von hic, haec, hoc, also Akk. fem. sing. |
imbuo,
imbui, imbutus |
1.
tränken 2. Beflecken |
imbutus
formidine nulla |
von
keiner Furcht bedrückt |
formido, inis |
Schreck,
Furcht |
munus, muneris |
1.
Pflicht, Obliegenheit, Amt, Dienst, Posten 2. Liebesdienst 3. Geschenk, Gabe |
didi, dididi, diditus |
ähnlich
do, dedi, datus (geben): verteilen |
Arabes |
Bewohner
der arab. Halbinsel, wegen ihres Handels mit Balsam, Weihrauch, Myrrhen und Edelsteinen als reich geltend |
Indi |
Einwohner
von Indien, im äußersten Osten gelegen, berühmt wegen Reichtum an Gold und
Perlen |
ludicrum |
zur
Kurzweil dienend; n. pl. subst.
Tändeleien, Tand |
quiris, itis |
Römer im bürgerlichen
Leben, Gegensatz romanus (militärisch) z. B. ius Quiritum volles
Bürgerrecht |
plaudo, si, sus |
1.
klatschen 2. Beifall klatschen |
|
|
Der Normalsinn der meisten
Menschen ist befangen in Nützlichkeitsdenken, in Alltagsinteressen und in
Alltagsstress. – Alltagsstress ist ein Gemisch aus Übereilung, Unrast, Termindruck
und überforderten Erwartungen. - Das allein ist nicht besonders schlimm, es
kommen falsche Prioritäten [falsche Präferenzen] und die Verkennung „höherer“
[und dennoch „wahrer“] Werte des menschlichen Lebens hinzu. Es entsteht im
menschlichen Mit-, Gegen- und Durcheinander viel Eifer für das Falsche. Den
Ernst des Lebens finden wir allzu oft im undurchsichtigen, trickreichen [und
eventuell sogar unfairen und bösen] Spiel.
Der Ausdruck „Durcheinander“
steht hier in bewusster Mehrdeutigkeit. Menschliche Tätigkeiten führen zu
ihren gewollten und ungewollten Ergebnissen vermittelst anderer Tätigkeiten,
also in wechselseitig sich ergänzender Zusammenwirkung und Arbeitsteilung. –
Menschen sind zu kooperativen Verhaltensweisen befähigt, aber es gibt auch
viele Beispiele für unterschiedliche Interessen, bis hin zu geheimer
Gegnerschaft, manchmal bis hin zu offenem Kampf und Konflikt. Jedenfalls geht
vieles durcheinander im Sinne von unbeabsichtigten und doch unvermeidlichen
Auswirkungen unseres Tuns. Dies ist der zweite Aspekt des „Durcheinander“.
Unter den effektiven Auswirkungen unseres Tuns sind oft unbeabsichtigte Nebenwirkungen.
- Z. B. die „Kollalateralschaden“ auf militärischem Gebiet. Oder die Nebenwirkungen,
ohne die es in der Pharmakologie keine Hauptwirkung gibt. – Darüber hinaus gilt ganz allgemein für
den Lauf der menschlichen Dinge: Die Folgen unserer Verhaltensweisen entgleiten
uns sehr weitgehend. Nur wenig, wenn überhaupt etwas, vollzieht sich nach
einem verabredeten Gesamtplan. Ganz zu schweigen von einem allgemein für gut
befundenen und verabredeten Gesamtplan. – „Es gibt kein
gesamtgesellschaftliches Subjekt“, so kann man diesen Sachverhalt formulieren.
Die beiden Dichter weisen uns
in ihrer gehobenen Sprechweise darauf hin, dass uns der Anblick des Himmels
und die zeitweilige Beschäftigung mit astronomischen Sachverhalten ein spezifisches
Glück der Betrachtung gewähren. Beiden Autoren zufolge sind diese astronomischen
Betrachtungen mit einer Distanzierung von unseren alltäglichen Sorgen und
gängigen Prioritäten verbunden. Die Distanzierung von unseren gewöhnlichen
Interessen ist uns von Zeit zu Zeit erforderlich; einmal zum Zweck der
Stimulierung unserer Geisteskräfte, zum andern zur Psychohygiene. Die
zeitweilige Loslösung unseres Denkens von der Verstrickung in Alltagssorgen
und in falschen Eifer ist ein besonderes Motiv vieler antiker Weisheitslehren.
Dies gilt für platonische, aristotelische, stoische und epikureische
Traditionslinien gemeinsam. – Horaz hat das Programm seiner Dichtung
weitgehend auf den Sätzen epikureischer Glücksphilosophie aufgebaut: „Angstfrei
leben! Aus dem Augenblick das Beste machen! Nicht zu sehr vor den Augen der
Öffentlichkeit leben!“ Auch der Gesang Vergils ist diesem Motiv verbunden. Er
denkt über den gesetzmäßigen Wandel der Dinge nach, in erhabener Untätigkeit,
angstfrei, entspannt und losgelöst von der alltäglichen Betriebsamkeit. – So
hohe Begriffe hatte man einmal von der Dichtung und von der Philosophie. - Mit
dem Wettlauf um die genauste physikalische Messung, den wir in der heutigen
Wissenschaft finden, hat das nichts zu tun.
Starke und anhaltende
Alltagssorgen engen das Denken des Menschen ein. In diesem Sinne machen die
Sorgen und Interessen [„den Sehenden“] „blind“. Man kann an nichts anderes mehr
denken als an das, was einen besorgt. Es kommt zu einer Einengung des Denkens,
es kommt zu einem weitgehenden Verlust des Distanzierungsvermögens, es kommt
zur Konstruktion fragwürdiger Zusammenhänge.– Es hängt alles mit allem in der
Welt irgendwie zusammen, aber die Bezüge, die unser Interesse in Bezug auf
unser persönliches Wohl und Wehe allenthalben konstruiert, sind oft
übertrieben. – Die Anzahl der Blütenblätter einer Blume kann uns zum Orakel
werden: „Sie liebt mich, sie liebt mich nicht, …“ Das hat mit wirklich
bestehenden Zusammenhängen nichts zu tun, zeigt aber die tendenziös-selektive
Arbeitsweise unseres Geistes: Er verknüpft Aussageinhalte, Stimmungen und
Emotionen nach vielerlei subjektiven und objektiven Aspekten zugleich. Die
„Fixierung“ des Geistes durch Stress und Sorge ist ein Aufmerksamkeits- bzw.
Bewusstseinsphänomen. Man kann auch von der Anhaftung unseres Denkens an die
Gegenwart und an die gegenwärtige Situation und Stimmung sprechen. Die Zukunft
ist dabei mehr oder weniger offen, und wir besetzen diese Offenheit mit Erwartungen,
mit Befürchtungen und mit Hoffnungen, also mit der Konstruktion von
Möglichkeiten, die wir als erwünscht oder unerwünscht bewerten. Wiederum anders
gewendet: „mentale Präokkupation ist ein Phänomen der
Selektivität unseres Wahrnehmens und unseres Denkens.“ Die Einseitigkeit der
Alltagsbelastungen und die gewöhnliche Tendenz unserer Interessen [zu
fragwürdigem Eifer] führen zu einem Mangel an guter Bewegung sowohl im
körperlichen als auch im geistigen Bereich. Der Wert überpersönlicher und ungewöhnlicher
Interessen, welche über die Interessen und Sorgen des Alltags hinausführen, besteht
u. a. in einer Kompensation von Einseitigkeiten, auf die wir uns in
alltäglicher Betriebsamkeit festgelegt haben. Es ist kein gutes Zeichen,
wenn ein Mensch allzu fest in seinen Gewohnheiten und Interessen wird und nur
noch an seine Routine und an seinen kurz- und mittelfristigen Vor- und
Nachteil denkt bzw. zu denken vermag. Der Mangel an Distanzierungsvermögen
macht unser Verhalten kleingeistig, ängstlich und überbesorgt.
Die Hochschätzung freier,
selbstbestimmter Zeit [lat. otium, griech. schole: Anhalten, Rast, Muße] als
kostbarstes Gut des Menschen ist ein Gedanke, der in ähnliche Richtung führt.
Es geht darum, ein Gegengewicht zu alltäglichen Orientierungen zu finden. –
Fehlorientierungen sind häufig. - Impulse zu einer distanzierteren, weniger
wertverblendeten Lebensführung sollten gestärkt werden. – Alltägliche
Sorgenmacherei und Betriebsamkeit artet jedenfalls fast zwangsläufig in Eifer
für das Falsche und in „Wertverblendung“ aus.
„Wenn man auch beides
braucht, so ist doch die Muße wünschenswerter als die Arbeit; sie ist das Ziel,
und man muss sich fragen, was man in der Muße tun soll. ...
Die Muße scheint ihre Lust
und Glückseligkeit und das selige Leben in sich selbst zu haben. Dies kommt
nicht den Arbeitenden zu, sondern jenen, die Muße haben. Denn der Arbeitende
arbeitet auf ein Ziel hin, das noch nicht erreicht ist, die Glückseligkeit aber
ist ein Ziel und ist nach allgemeiner Ansicht nicht mit Schmerz, sondern mit
Lust verbunden.
Freilich fassen nicht alle
diese Lust in derselben Weise auf, sondern jeder für sich nach seiner Art, der
Beste aber wählt die Beste und die vom Schönsten her entspringende. So ist
klar, dass man auch für das Leben in der Muße bestimmte Dinge lernen und sich
aneignen muss, und dass diese Lehr- und Bildungsgegenstände selbstzwecklich
sind; jene dagegen, die mit der Arbeit zu tun haben, dienen der Notdurft und
einem fremden Zweck.“ [Aristoteles, Politische Schriften, VIII, 1337 b ff.]
Aristoteles’ Betrachtung ist
nicht frei von einem aristokratischen, ideologischen Ideal, das uns dazu
verleiten kann, die gesellschaftliche Unterdrückung [von Sklaven] als
Voraussetzung der höheren Lebens-, Denk- und Verhaltensformen zu übersehen. –
Die Güter und Werte des gehobenen Lebensbedarfs werden fast ausnahmslos in
gesellschaftlicher Arbeitsteilung produziert, aber es gibt keine allseitig
akzeptierte, gerechte Organisationsform dieser Arbeitsteilung und Arbeitsleistung.
Es gibt auch keinen allseitigen Konsens bezüglich der gerechten Verteilung der
gemeinsamen Erzeugnisse der arbeitsteiligen Gesamtleistung. Man kann sagen: „An
der sinnvollen Organisation des gesellschaftlichen Zusammenwirkens sind die
Menschen historisch und bisher leider gescheitert.“ Dass es einen fast
beständigen Kampf [teilweise gegensätzlicher Interessen] um die besseren
Plätze im Arbeitsteilungssystem gibt, möchten wir nicht verschweigen. – A.
stellt fest, dass Handwerk und Lohnarbeit das Denken unruhig und niedrig
machen [1137 b], und dass es sich für die Großgesinnten und Edlen am allerwenigsten
gehöre, überall bloß den Nutzen zu suchen [1338 b]. Im Kontext dieser Feststellungen
ergibt sich die Frage, welche unserer Bildungs- und Wissensinteressen „um
ihrer selbst willen“ motiviert sind.
Da wir heute die
Zusammenhänge höherer Kunst und Wissenschaft mit der Sphäre unumgänglichen
Nützlichkeitsstrebens kennen, bleibt uns bei der Betrachtung der Alternative
„nützlich – selbstzwecklich“ nur der Rat: ne quid nimis, meide Übertreibung und
Übereifer! Denn ebenso wie es übertriebenes Nützlichkeitsstreben und die
Angst, etwas zu verpassen [sogar „Nützlichkeitsterror“] gibt, gibt es auch ein
übertriebenes Pathos des Selbstzwecklichen. Vielen Menschen der heutigen
westlichen Hemisphäre muss man allerdings tatsächlich erst einmal erklären,
dass der Mensch nicht alles um fernerer Zwecke willen tut. [Die Menschen der
anderen Hemisphäre neigen leider zu der Ansicht: „Eure Sorgen möchten wir haben.“]
Es gibt Dinge, die man um ihrer selbst willen tut, sei es, dass man sie für
schön oder auf eine andere Weise für wertvoll und beglückend in sich selbst
hält. Der Amateur tanzt um des Tanzes willen, das Denken findet in vielen
Bereichen teilweise um des Denkens selbst willen statt, die Musik zum Teil um
der Musik willen, manchmal sogar die Liebe um der Liebe willen.
Man kann die Frage des
Worum-Willens [der „extrinsischen“ und „intrinischen“ Motive und Zwecke] noch
weiter verfolgen, indem man sich fragt, ob der, der einen andern um der Liebe
willen liebt, diesen auch um seiner selbst [dessen Selbst?] willen liebt oder
nur um der Liebe willen. Aber ohne eine innere und innige Bejahung des andern,
bei einer bloßen Instrumentalisierung des andern als Liebes- und Lustobjekt,
hätten wir keine Liebe. - Alle diese Punkte sind zugegebener Maßen auf
spezifische Weise heikel, oft, vermutlich sogar meistens, vermischen sich vielfältige
Motive auf undurchsichtige Weise. Dass es in unseren Bestrebungen aber
„selbstzweckartige“ Zwecke gibt, nehme ich an. Das Problem mit Macht, Geld
und Sex als üblichen, naheliegenden und fast „selbstverständlichen“ Zielen
ist es gerade, dass hier „Dinge“ als Selbstzwecke aufgefasst werden, die
eigentlich nicht zu Selbstzwecken tauglich sind. Sie sollten und können
nicht zu gedanklich [konstruierbaren und] haltbaren Zwecken werden, weil sie
eigentlich keine Zwecke dieser Art sind. Es fehlen ihnen entsprechende gedankliche
Eigenschaften: das Fundamentalprinzip wahrheitsgültiger Gedanken ist
allgemeine, bzw. wechselseitige Gültigkeit [für prinzipiell einsichtsfähige
Lebewesen]. Wenn unsere letzten Zwecke die falschen und [eigentlich] [in
ihrer Gültigkeit] nicht zu rechtfertigenden sind, dann werden wir der Aufgabe
nicht gerecht, auf uns selbst aufzupassen. – Aufmerken und achtsam sein auf
Denk- und Verhaltensweisen, die wir uns angeeignet haben, sollten wir aber, um
aus unserem Leben, soweit als möglich ist und von uns selbst abhängt, „etwas Gutes“,
„etwas Sinnvolles“ oder auch nur etwas „Stimmiges“ zu machen. – Unsere Aufgabe
ist es, auf uns selbst aufzupassen und unsere Freiheit zu wahren. So weit es
in unserer Macht steht, und so viel als möglich.
Die menschliche Aufgabe ist
es, eine Übereinstimmung [Harmonie, Zusammenfügung] unserer Bedürfnisse,
Wünsche und Stimmungen mit dem Anspruch des besseren Bewusstsein [der
gemeinsamen Freiheit] zustande zu bringen. Man kann auch sagen: „die eigene,
innere Melodie finden“. Im ersten Fall hat man „Harmonie“, im zweiten von
„Melodie“ gesprochen. Beides sind sinnvolle Metaphern, weil sie den
Gesichtspunkt der Integration von Einzelheiten [Tönen] zu einem Ganzen
enthalten. Zusammengefügt zu einer Übereinstimmung werden im menschlichen Falle
das höhere und das niedere Ich, also das Potenzial der allgemeinen Freiheit
mit meinen „empirisch gegebenen“ Bedürfnissen, Wünschen, Stimmungen [in
bestehenden und herbeigeführten Situationen].
Exkurs zum Ausdruck
„Bestimmung“
Man kann einen Bogen ziehen
von „Stimme haben“ zu „Bestimmung“ und „Übereinstimmung“. Man gruppiert damit
verschiedene Worte und Begriffe zu einer Wort- bzw. Begriffsfamilie um den
Bedeutungsbestandteil „Stimme“, wobei verschiedene Assoziationen naheliegend
sind:
Der Mensch hat Stimme und
Atem, vermittelst derer er zur Verlautbarung seiner Gedanken,
Willensentscheidungen, Stimmungen und Gefühle befähigt ist. - Nun erfolgt ein
Übergang von „Stimme“ zu „Bestimmung“: Der Mensch ist zu einem Leben in der Gemeinschaft
„bestimmt“ [„angelegt“, „vorgesehen“]. Er ist zu einem gemeinschaftlichen
Leben in der Polis „bestimmt“, wobei es seine „politische Bestimmung“ ist, im
Rat über gemeinschaftliche Angelegenheiten eine „Stimme“ zu haben. –
Gemeinschaftliche Angelegenheit ist die Regelung der wechselseitig zu
gewährenden Freiheitsspielräume. Entsprechende Regelungen müssen gefunden, bzw.
erfunden, verabredet und „gesetzt“ werden. Das läuft auf „Partizipation“, „Repräsentation“
und „Mitbestimmung“ der Betroffenen hinaus. Der einzelne, mit seinem Denken
und Sprechen, muss in den von Menschen für Menschen ausgedachten Regeln des
gemeinsamen Lebens ein „Mitbestimmungsrecht“ haben, um in der Politie nicht
entrechtet zu sein. Mit „Stimme“ und „Bestimmung“ ist hier ein
grundsätzlicher, [„natur- oder vernunftrechtlicher“] Rechtsanspruch auf
„Mitbestimmung“ verbunden.
Darüber hinaus war im 18.
Jahrhundert die Rede von der „Bestimmung des Menschen“ auch in weiter gehender
Absicht populär. Johann
Joachim Spalding veröffentlichte z. B. ein Werk mit dem Titel „Betrachtung über
die Bestimmung des Menschen“ [1748]. [Der Mensch ist in diesem
aufklärungstheologischen Text letztlich zur Unsterblichkeit bestimmt. Auch Kant
und Fichte schrieben über „die Bestimmung des Menschen“, bei Fichte ist es
sogar der Titel einer eigenen Schrift. [Sie erschien 1800 im Zusammenhang mit
dem sog. „Atheismusstreit“.] – Der vorkritische Kant verwendet „Bestimmung“
oft im Sinn von „Determination“, im Sinn der Beilegung eines Prädikates [mit
Ausschluss des Gegenteils]. [Nach heutiger Redeweise: „deskriptive
Prädikation“] So sprechen wir ja auch von „Ortsbestimmung“ im Sinne einer
Ortsangabe. In der K. d. U. finden wir dann häufig teleologische
Verwendungsweisen des Ausdrucks „Bestimmung“. [Wir finden hier sowohl normative
als auch teleologische, bis hin zu organisch funktionellen Prädikationen.] Der
Mensch besitzt hier „Bestimmung“ zur Zivilisation, Kultur und einer Moral der
wechselseitig bestehenden Freiheit. Im Falle des Normativums einer
wechselseitig zu gewährenden Freiheit kann man „Bestimmung des Menschen“ ohne
Weiteres mit dem Ausdruck „[höherer] Sinn und Zweck des menschlichen Lebens“ paraphrasieren.
Der höhere Sinn und Zweck des menschlichen Lebens ist die freie Sitte, kann man
sagen, wobei dieser Satz nicht mit jeder, sondern nur mit „bestimmter“
Bedeutung von „Freiheit“ wahr ist. – Frei nach Platon [Philebos]: Ich bin
nicht der determinierte Gefangene meiner Stimmungen und Triebe, sondern frei
dazu, die Wahrheit in diesem oder jenem Falle zu erkennen und um ihretwillen
etwas zu tun. „Etwas“ heißt hier: „so viel als möglich“, also keinesfalls
mehr. Wegen „ultra posse nemo obligatur“: über das Können hinaus kann eigentlich
niemand zu etwas verpflichtet sein.
Der
Mensch ist letztlich sogar zur „Selbstbestimmung“ im Denken und Handeln
befähigt und „bestimmt“. Er besitzt grundsätzlich die Fähigkeit des
allgemeingültigen und wahrheitsfähigen Denkens sowohl in
naturwissenschaftlich-theoretischen als auch in praktisch-moralischen Fragen.
– Das „Selbstdenken“ bedeutet hier ein sachliches Vergleichen von Gründen und
Gegengründen unter Hintansetzung von „persönlichen Gründen“. Man
berücksichtigt sozusagen Stimmen und Gegenstimmen und fertigt nach bestem
Wissen etwas „Stimmiges“ daraus. Einen Text, bzw. ein Gewebe von Denkinhalten.
Es ist eine „kommunikative“ Vernunft, die sich unter anderem an der
Möglichkeit allgemeiner Übereinstimmung in Wahrheitsfragen orientiert. –
„Unter anderem“ deshalb, weil wir immer multifunktional denken und sprechen:
mit „theoretischen“, „praktischen“, emotionalen, affektiven,
aufmerksamkeitslenkenden, appellativen, selbstdarstellenden, stimmungsmäßigen
Bezügen. – Eine Systematik der bewussten und unbewussten Zwecke unseres
Sprechens erscheint uns an dieser Stelle als philosophisches Desiderat von
hohem Interesse, möglicherweise ist dieses Thema aber unerschöpflich und zu
umfangreich, um auf angemessene Weise bearbeitet zu werden.
Eine
„existenzialistische“ Variante von Selbstbestimmung ist der Anspruch, in
eigenem Namen zu denken und zu handeln. Gemäßigt: in eigenem Namen mehr und
mehr denken und handeln zu lernen, da man der eigenen Verantwortung ohnehin
nicht entrinnen kann. Die Propagierung dieser Denkungsart ist eng mit dem
„sapere aude“ Kants verwandt. Man bemerkt, dass man nichts im Denken und
Handeln annimmt bzw. annehmen kann, ohne sich selbst etwas zueigen zu machen,
was man für gültig und richtig hält. „Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen“. Mit diesem Spruch beschreibt Goethe das Phänomen
einer gedanklichen Durchdringung, Bewertung und Modifikation von Traditionen,
die man sich befürwortend oder ablehnend zueigen macht. Trotz aller
Fremdbestimmung, die mit Überlieferung und Tradition [bezüglich unseres Denkens
und Verhaltens] verbunden ist, bleibt es unverlierbar eine Sache des einzelnen
Menschen, selbst, sozusagen nach eigenem Ermessen, zu denken, zu wählen und
Entscheidungen zu treffen. „Der Mensch denket, wählet und richtet“, heißt es an
anderer Stelle. – Das Erwachen des Bewusstseins geht hier damit her, dass
vieles eine Frage der Entscheidung ist, was man vorher als unabänderliche
Gegebenheit und „Sachzwang“ angesehen hat. Aus unbewussten Vorentscheidungen
können derart bewusste Entscheidungen, modifizierende und ablehnende Stellungsnahmen
werden. Dahinter steht das „existenzialistische“
Sich-nicht-nicht-Verhalten-Können“. – Das heißt nicht, dass man in allen Fällen
pro oder contra Stellung nehmen muss. Nach dem Motto: „Bist Du dafür oder
dagegen?“ Eine prüfende Haltung für und wider, Suspension des Urteils und eine
übergeordnete Entscheidung zu einer untergeordneten Unentschiedenheit zählen
ebenfalls zu den „gegebenen“ Optionen.
Ein
merkwürdiger Doppelaspekt der „Selbstbestimmung“ klingt hier an: Der Mensch ist
mit der Anlage zur Selbstbestimmungsfähigkeit „ausgestattet“. Er ist zur
Selbstbestimmung disponiert. Dies läuft zugegebenermaßen darauf hinaus, dass
er dazu gezwungen ist, sich auf höherer oder niederer Ebene irgendwie selbst zu
entscheiden. In diesem Sinne erfolgte Sartres Diktum, dass der Mensch zur
Freiheit „verdammt“ sei. Die Unentrinnbarkeit von freier Entscheidung und der
entsprechenden Verantwortung hat eben auch eine erschreckende Seite, selbst
dann, wenn man bemerkt, dass man weit weniger oft vorschnelle Entscheidungen in
parteiischen Angelegenheiten treffen muss, als man zunächst glaubt.
Ende
des Exkurses über „Bestimmung“.
Wir
besprechen nun das Motto: „Auf sich selbst aufpassen und die Freiheit wahren!“
Was kann es heißen, „auf sich
selbst aufzupassen und die Freiheit wahren?“ Auf sich selbst aufzupassen, erschöpft
sich nicht darin, nach kurz- und mittelfristigen Vorteilen und Nachteilen zu
fragen, obwohl man der Frage nach den spezifischen Vor- und Nachteilen
[irgendwelcher „Dinge“] sehr viel Gewicht in der persönlichen Lebensführung
einräumen muss. Es gilt aber ebenfalls zu bedenken, dass wir die „geistigen“
[und „kommunikativen“] Bedürfnisse „in uns“ nicht zu sehr vernachlässigen
sollten, die mit unserem Denken, Sprechen und Verhalten, d. i. mit unserer
„inneren“ Natur, verbunden sind. Sie sind sogar zwangsläufig damit verbunden.
Wir sollten nach einer Übereinstimmung mit unserem geistigen Wesen streben.
Tun wir es nicht, geraten wir in eine Art von Gegnerschaft und in Widerspruch
zu uns selbst. – Insofern wir diese Gegnerschaft und diesen Widerspruch
manchmal schmerzlich empfinden, ist der innere Einklang [mit dem „höheren“
Selbst] sogar ein „Wellnessfaktor“. - Der Anblick des Himmels nun, verbunden
mit besonderen Wahrnehmungs- und Empfindungsqualitäten [ästhetischer Art],
führt unsere Überlegungen darauf, dass wir die Dinge nicht nur nach dem unmittelbaren
und kurzfristigen Vorteil schätzen sollten, den sie für uns abwerfen. Das ist
der „Sinn für’s Höhere“, den A. in’s Spiel bringt, wenn er a. a. O. vom
„Banausentum“ spricht. Denn „Banausen“ sind solche, denen es am Sinn für’s Höhere
fehlt. „Überall bloß den Nutzen zu suchen, gehört sich für die Großgesinnten
und Edlen aber nicht.“ [1338 b 2 f.]
Wiederum haben wir das Problem,
dass der „Sinn für’s Höhere“ oft mit unangenehmen, ideologischen Konnotation
verbunden wird: einer Abwertung angeblicher Banausen und Barbaren. Die Frage,
die sich stellt: „Gibt es auch eine unideologische Rede von höheren Werten,
höherem Selbst und besserem Bewusstsein?“
Ich antizipiere: Das „höhere“
Selbst, dieses sonderbare „innere“ Wesen, ist nichts anderes als eine
Potenzialität: die Fähigkeit, mit andern und uns selbst in Übereinstimmung,
bzw. in harmonischer Wechselwirkung, bzw. in übereinstimmender Ergänzung zu
sein. So viel als möglich, so weit es in unserem Vermögen steht. Dies betrifft
die Wahrheitsfähigkeit unserer Denkweisen und die Verantwortbarkeit unserer
Verhaltensweisen. – Der Mensch hat, wie bereits Platon [im „Philebos“] meinte, die
Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen und um ihretwillen etwas zu tun.
Jedenfalls „prinzipiell“. Auch wenn sein Geist oft irrend schweift.
Um nicht in Gegnerschaft zu
uns selbst zu geraten, müssen wir nicht nur nach einer Übereinstimmung mit uns
selbst streben, sondern auch mit andern. Wir sollen ein gewisses Maß an Harmonisierung
unserer Denk- und Verhaltensweisen mit den Denk- und Verhaltensweisen anderer
erstreben. Freiheitsspielräume, die wir für uns selbst erlangen konnten,
soll[t]en, soweit als möglich, mit dem Freiheitsanspruch anderer in ein
[freies, einvernehmliches] Wechselspiel gebracht werden. – Ein Wechselspiel
nach gemeinschaftlich zu verabredenden und festzulegenden Regeln [der gemeinsamen
Freiheit]. – Derart würde [die] Freiheit [des einen] nur durch [die] Freiheit
[der anderen] begrenzt. Dies ist letztlich der Gedanke der „politischen
Freiheit“. Die Gemeinschaft von Freiheitswesen in der Polis, wo die Freiheit
des einen so wenig als möglich zu Lasten der Freiheit des andern geht. Ein politisch
utopischer, m. E. aber normativ gültiger Gedanke. – Ich möchte aber hier mehr
darauf hinaus, dass der einzelne in seinem alltäglichen Leben den Gedanken des
freien Miteinanders nach dem „Gehalt“ der Wechselseitigkeit [der Goldenen Regel]
beachten sollte. Das ist ein Grundsatzgedanke, der sich selbst empfiehlt. –
Der Grundsatz der „freien Sitte“, der durch keinen höheren Grundsatz
argumentativ zu begründen ist, weil er direkt im Verhältnis „zur Unmöglichkeit
des Gegenteils“ steht. – Allerdings wird durch diese grundsätzliche Empfehlung
z. B. der Kampf der Gegensätze vermieden, der aus einem Zustand der
„veruneinigten“ Freiheit resultiert. Auch dies ist ein Gesichtpunkt, durch
den die Rücksicht auf „das Höhere“ uns über unseren unmittelbaren Vor- und
Nachteil hinausweist. Es ist in diesem Falle ein ethisch-normativer Gültigkeitsanspruch.
Ergänzend stelle ich fest:
Nicht nur die letzten Zwecke und Ziele, sondern auch die Handlungsarten und
Verhaltensweisen, vermittelst derer wir unsere Ziele zu erstreben, sollten der
normativen Regel der gemeinsamen Freiheit, so weit als möglich, entsprechen.
... Die heikelste Frage, die es dabei gibt, ist vielleicht folgende: „Wie
sollen und dürfen die Freunde der Freiheit mit den [dafür gehaltenen] Feinden
und Gegnern der Freiheit verfahren?“ Es wird erfahrungsgemäß Gegner der
Freiheit geben. – Man sprach z. B. in Zeiten der französischen Revolution von
Feinden der Republik, also von Feinden der gemeinsamen Sache. - Es wird zu
Meinungsunterschieden kommen, welche Vereinbarungen, Vorschriften und Gesetze
zum Zweck der gemeinsamen Freiheit [„soviel als möglich“] erforderlich sind. Es
ist vorauszusehen, dass es auch bei den Freunden der politischen Freiheit
Uneinigkeit geben wird. – Wir erörtern hier aber nur den grundsätzlichen
Gedanken der „allgemeinen Freiheit“.
Der Geltungsgrund der
Goldenen Regel ist nicht das Motiv der Leidensvermeidung durch Konfliktvermeidung
bzw. Konflikt-Deeskalation. Die Freiheit des guten Miteinander, wo und soweit
sie möglich ist, empfiehlt sich vielmehr durch sich selbst. Sie ist von der
Art eines höchsten Ziels. Auch die Methode und Verfahrensweise, dieses Ziel zu
erstreben, steht unter der Gültigkeit des normativen Anspruchs eines freien
Miteinanders, d. i. der Goldenen Regel reziprok bestehender
Freiheitsspielräume. – Bzw.: unter der Aufgabe einvernehmlich [„so weit als
möglich“] zu findender Regeln für reziprok bestehende Freiheitsspielräume [aller
Geschehens-Beteiligten und Betroffenen]. Für dieses „Bestehen“ [der
gemeinschaftlichen Freiheit] gilt ebenfalls der Zusatz: „so weit als möglich
[sollen wir derart handeln]“. – Die Philosophie der freien Sitten mit ihrem
normativen Absolutum „Reziprozität der Freiheit“ muss mit solchen Vagheiten
leben, welche sich [nicht nur] mit dem Phänomen der normativen Wahrheit verbinden.
Unter einem Absolutum
verstehe ich hier einen nicht nur mutmaßlich und hypothetisch, sondern
schlechthin gültigen, Aussageinhalt unseres [möglichen] Denkens. – Ein
Absolutum ist etwas „absolut“ Wahres, etwas nicht nur hypothetisch Wahres, das
auch als solche Art von Wahrheit erkennbar ist. [Kantisch gesprochen erfordert
es eine besondere „Erkenntnisart“, die Erkenntnisart a priori aus Begriffen
bzw. Begriffskomponenten.] – Es handelt sich um eine besondere Art von Denkbarkeit.
Im Falle aufgegebener [durch die innere Stimme wahrhafter Vernunft „wirklich“
vorgeschriebener] Handlungsarten [gemäß der Goldenen Regel] handelt es sich
um normative Gültigkeitsinhalte, bzw. um [normative] Aussagen [Werturteile],
die sittlich-normative Wahrheiten zum Inhalt haben. Diese Denk- und
Aussageinhalte sollen unser Verhalten soweit als möglich steuern [abgeschwächt:
modifizieren]. Eine Tatsachenbehauptung über unsere faktisch bestehenden Fähigkeiten,
diesem Anspruch [diesen Ansprüchen] gerecht zu werden, machen wir allein mit
diesem normativen Reziprozitätsgedanken zunächst nicht. Zunächst geht es um
den Inhalt des normativen Reziprozitätsgedankens. Unter entsprechend
günstigen Umständen besitzt der Mensch die Fähigkeit, die [unverstellte]
Stimme der Vernunft zu hören. „Richte dich, soweit als möglich, nach der Regel
der gemeinsamen Freiheit! Finde [bzw. erfinde] für die Situationen, in denen
Du bist, Regeln der gemeinsamen Freiheit!“, sagt sie. Ob ich nun auch die
Fähigkeit besitze, dem Gehörten und Geforderten Folge zu leisten, ist eine weitere
Frage. Es ist die Frage nach der motivierenden Kraft des normativ für gültig
Erkannten. Ich spreche mich dafür aus, dass auch diese Fähigkeit des Handelns
im Einklang mit der Fähigkeit des gültigen Denkens besteht, eben wegen diesem
geheimnisvollen Zusatz „soweit als möglich“. – „Ultra posse nemo obligatur“,
heißt das bereits zitierte römische Sprichwort. - In concreto muss man damit experimentieren,
was dem Anspruch der gemeinsamen Freiheit am meisten gerecht wird, „so weit
als möglich“. Absolute Erkenntnisfähigkeit haben wir lediglich [bzw. „immerhin“]
bezüglich des allgemeinen Reziprozitätsgedankens. Wir entdecken diesen Reziprozitätsgedanken
in der Art unseres Sprechens und Denkens und erkennen an ihm die
Beschaffenheit dessen, was auf prinzipielle Art „für alle“ und „wechselseitig“
gültig ist. Die Entdeckung eines solchen Prinzips ist keine Ableitung aus
irgendwelchen anderen, höheren Voraussetzungen. Es ist eine Herausstellung
einer Voraussetzung für sich selbst. Man zeigt an einem gegebenen
Aussageinhalt, den man zur Debatte stellen kann, dass er sehr allgemeiner, ja
sogar prinzipieller Natur ist.
Die Goldene Regel, in dieser
Art aufgefasst, ist also das Absolutum in unserem verhaltensrelevanten,
bzw. in unserem verhaltensmodifizierenden Denken. – Argument ist folgendes:
„In Überlegungen bezüglich sittlich normativer Verhaltensgesichtspunkte sollt
ihr [!] mit der Empfehlung der allgemeinen Freiheit anfangen. Umgekehrt: Ihr
dürft nicht [!] mit individuellen Vorrechten beginnen, sozusagen nach dem
Motto „eines schickt sich nicht für alle!“, weil dies dem Gedanken allseitiger
Gültigkeit widerspräche.“ – Das ist bereits der ganze Inhalt der Goldenen
Regel. Sie beinhaltet einen Standpunkt in einer Begründungs- und Geltungsfrage
bezüglich einer besonderen Art von normativen Aussageinhalten. „Was käme als
Empfehlungsgrund freier Sitten in Frage?“ Mit dieser Überlegung beginnt man.
Danach bemerkt man, dass aus der Art der Gültigkeitsanforderung die Art des
normativen Inhalts direkt resultiert. Methode und Gegenstand der in Frage
kommenden Erkenntnisart koinzidieren. – Anders ausgedrückt: Es gibt Wahrheiten,
die bereits aufgrund der metatheoretischen Möglichkeit der in Frage kommenden
Wahrheit festgelegt sind. – Das ist das Notwendigkeits- bzw. Apodiktizitätsmotiv:
Dieser Gültigkeitsmodus besteht in der Unmöglichkeit [der Gültigkeit] des Gegenteils.
Im Fall der ethisch-normativen Wahrheit ist „die Unmöglichkeit“, deren
Gegenteil wir suchen, der Anfang mit dem Vorrang persönlicher Freiheiten. –
Als Reflex dieses Gedankens finden wir in den Plädoyers für Vorrechte deshalb
auch immer einen Begründungsversuch der Vorrechte, z. B. mit der Besonderheit
der Geburt, der Tüchtigkeit, der Leistung usw.. – Dies enthält die Anerkennung
der gleichen Freiheit für den Fall, dass es keine Gründe gäbe, Ausnahmen zu
machen und Vorrechte zu begründen. – Die nächste Frage ist dann die Frage nach
der Stichhaltigkeit der Vorrechts- und Kompetenzbegründungen. Ich gehe davon
aus, dass sich Vorrechte und besondere Kompetenzen in vielen Angelegenheiten
nicht vermeiden lassen. Es gibt m. E. tatsächlich akzeptable Begründungen in
diesem oder jenem Falls. Aber manchmal beruhen unsere Begründungsversuche auch
auf Anmaßung und Missbrauch.
Noch einmal zu dem Thema
„Zweck und Mittel“: vom Gesichtspunkt der „echten“ Verbindlichkeit her, wie
man handeln soll, geht es um eine besondere Art des Handelns und Verhaltens.
Das Handeln des Menschen wird als modifizierbar durch begrifflich
aufzufassende bzw. begrifflich zu entwerfende Handels- und Verhaltensarten
angesehen. Die Art des Handelns umfasst Zielsetzung und Verfahrensweise
[sofern kennzeichnend für die Handlungsart] gleichermaßen. In der Rechtspflicht
[innerhalb eines beherrschten Gemeinwesens] „darf“ es auf die Verhaltensabsicht
nicht ankommen. Hier „wird“ [normativ!] nur das äußere unseres Betragens
normiert. – Eine Norm also für Rechtnormen. - „Innerlich“ aber „steht“
[normativ!] der Mensch mit Absichten, Zwecken und Zielen unter dem Anspruch der
„freien Sitte“. – Mit allem, was von ihm selbst abhängt, steht er unter diesem
Anspruch. – „Faktisch“ aber steht er unter vielerlei Arten von Verhaltensbeeinflussung.
Darunter befinden sich angebliche und „echte“ Verbindlichkeiten gleichermaßen,
oft in schwer so sondernder Mischung. Wir unterliegen einer Moral der gemeinsamen
Unfreiheit, einer Art menschlicher „Kleinzüchterei“, wenn man in Anlehnung an
Nietzsche sprechen möchte, was allerdings sehr gewagt ist, weil Nietzsche für
„Herrenmoral“ und Amoralismus optierte. Aber wir stehen nicht nur unter einer
Moral der gemeinsamen Unfreiheit, sondern ebenfalls unter dem Anspruch einer
„echten“ Moral der gemeinsamen Freiheit bzw. der freien Sitte. – Das Phänomen
der sozialen Kontrolle nährt sich aus verschiedenen Quellen. – Vor dem
Hintergrund von Stress- und Stimmungsmache erleben wir einen fast beständigen
Begriffs- und Etikettenschwindel. Dieser Etikettenschwindel entspringt zum
Teil aus unserer Denkart in unvermeidlichen Vagheiten und Mehrdeutigkeiten.
Unpräzise Regeln, angebliche und wirkliche Ausnahmen, machen unsere Angelegenheiten
unübersichtlich und verwirrend. Thema aber all dieser Überlegungen ist nicht
der Kosmos, sondern das Lebewesen „Mensch“ selbst in seinen Situationen. Der
Mensch selbst mit seiner Fähigkeit und Unfähigkeit zu verhaltensmodifizierenden
Denkweisen.
Exkurs „höhere Werte“: Mit „höheren“ Werten des
menschlichen Lebens meine ich Werte ästhetischer und moralischer Art. Neben
materiellen Nützlichkeitswerten gibt es „höhere“ Werte, wobei alle, auch die
materiellen Nützlichkeitswerte „wahre“ Werte sind bzw. sein können. – Ein Teilbereich
des materiell Nützlichen ist das Lebens- und Existenznotwendige, der unverzichtbare
Lebensbedarf, ohne den man nicht leben kann, sondern sterben muss. - Die „höheren“
Werte sind weitgehend kommunikativer Art und hängen stark mit der Denk- und
Sprechfähigkeit des Menschen zusammen. – Von besonderer Gültigkeit und
Bedeutung ist unter den „höheren“ Werten der Gedanke einer von wechselseitigem
Einverständnis getragenen Verabredung von Verhaltensregeln zwecks
wechselseitig bestehender Freiheitsspielräume. Kurz: die Regel der gemeinsamen
Freiheit. - Dazu ein Hinweis auf Konfuzius, der den umfassenden Stellenwert
dieses Gedankeninhalts erkannt hatte. Zigong fragte: "Gibt es einen
Begriff, nach dem man das ganze Leben hindurch handeln kann?" Der Meister
antwortete: "Das ist wohl die Gegenseitigkeit: Was man selbst nicht
wünscht, das tue man anderen nicht an." – Die Goldene Regel ist eine
Regel bezüglich [der Akzeptabilität] anzunehmender Verhaltensregeln,
Verhaltensmuster und Verfahrensweisen. Ein „Prinzip“ höherer Ordnung.. Unser
Verhalten hat eine sprach- und bewusstseinsmäßige Struktur und bildet
[vermittelst Gewohnheitsentstehung] Verhaltensmuster aus, wobei es wegen der
Gemeinsamkeit der Freiheit zu einem Regulierungs- und Beschränkungsbedarf
kommt. Die Regeln, die man annimmt, um diesem „Bedürfnis“ [gemeinsamer
Freiheit] gerecht zu werden, unterliegen dem normativen Anspruch allgemeiner
Reziprozität.
Auch die Erforderlichkeit von Schiedsgerichtsbarkeit
als einer Institution der Rechtszuerkennung und [eventuell]
Rechtsdurchsetzung ergibt sich aus der „Anwendung“ der Goldenen Regel [auf die
Handlungsarten interessengeleiteter Individuen]. Ich „kann“ nicht Gesetzgeber
und Richter in eigener Sache sein, und ein Mitmensch, mit dem ich eventuell in
Interessenkonflikt gerate, „kann“ es ebenfalls nicht. Beide „sollen“ darauf
verzichten, mit „Gewalt“ dasjenige erzwingen zu versuchen, was ihnen zum Zweck
der Gerechtigkeit als notwendig erscheint. Die Lösung eines Konfliktes, nach der
Regel der gemeinsamen Freiheit, macht es also erforderlich, dass wir uns einem
Schiedsspruch unterwerfen. Ohne Zuerkennung von Kompetenz an einen Dritten,
der einen solchen Schiedsspruch fällen darf, erscheint diese Unterwerfung
nicht [normativ!] denkbar. – So lässt sich Herrschaft von Menschen über Menschen
konzipieren. Beim Schiedsrichter wird sich Macht anhäufen, bzw. wir müssen eine
gewisse Macht bei ihm bereits voraussetzen. Weil er in der Lage sein soll, in
Streitfällen eine Entscheidung zu treffen, nach der man sich richten muss.
[Dafür besteht das Erfordernis einer vorauszusetzenden Anerkennung und
Unterwerfung.] - Mit der Zuerkennung solcher Kompetenzen
[Rechtszuerkennung und Rechtsdurchsetzung] in prinzipiell möglichen
Streitigkeiten entsteht Herrschaft zum Teil auch tatsächlich. – Oder man
wendet sich an jemanden, der bereits eine gewisse Macht und „etwas zu sagen
hat“, in der Hoffnung, dass er diese Fähigkeiten gebraucht, um für die
allgemeine Rahmenbedingungen des menschlichen Miteinanders [gemäß der Regel
gemeinsamer Freiheit] etwas zu tun. – Das ist der Punkt, wo die ethisch-normative
Philosophie zur politischen Theorie übergeht. Man kann mit Kant sagen: „Es
gibt auch einen „metaphysischen Anfangsgrund“ dafür, dass sich in der
Wechselwirkung menschlicher Verhaltensweisen Schiedsgerichtsbarkeit und institutionalisierte
Herrschaft herausbildet.“ „Metaphysisch“ steht hier für „nicht-empirisch“ und
„a priori gültig“, wobei es sich um ein normatives Apriori handelt. In diesem
Falle um einen Anfangsgrund [Prinzip, Regel, Motiv] des öffentlichen Rechts. –
Zurück nun zu unserem allgemeinen Reziprozitätsmotiv:
Der Inhalt der Goldenen Regel, - er ist für sich
selbst genommen sehr abstrakt -, ist ein Normativum von m. E. absoluter [d.i.
nicht nur hypothetischer] Gültigkeit. Wer etwas vorsichtiger sprechen möchte,
könnte sagen: „von außerordentlich umfassender Gültigkeit“. Andere Beispiele
für „höhere“ Werte, z. B. ästhetische, z. B. künstlerische und literarische
Gesichtspunkte, besitzen diese Art von [umfassender] Gültigkeit nicht, weshalb
es z. B. in einer Moral der freien Sitten möglich ist, sich dafür zu
entscheiden, dass materiellem Nützlichkeitsstreben [weitgehend] der Vorzug vor
ästhetischen Anforderungen gegeben wird. Unter dem Gesichtspunkt des „Höheren“
gruppieren sich ästhetische und moralische Werte zur Einheit [zu einer Art von
Gemeinsamkeit], weil sie sehr viel mit der kommunikativen Natur des Menschen
zu tun haben. Unter dem Gesichtspunkt der „Notwendigkeit“, bzw. der
„unverzichtbaren“ Gültigkeit, und unter dem Gesichtpunkt der hohen Priorität
und Dringlichkeit, gruppieren sich materielle Nützlichkeitswerte und Goldene
Regel zu etwas Gemeinsamem.
Diese Gruppierung der „hohen Priorität“ beruht zum Teil
auf Bedeutungsvariationen des Ausdrucks „notwendig“. – „Notwendig“ im Sinne
von „lebensnotwendig“ und „existenznotwendig“, „notwendig“ andererseits im
Sinne von „absolut gültig“. Wobei das „absolut Notwendige“, dieses
rätselhafte Normativum der Wechselseitigkeit, selbst wiederum zu einem Erfordernis
des Überlebens werden kann. Es kann lebensnotwendig und nützlich sein, dem
Erfordernis der gemeinsamen Freiheit Rechnung zu tragen, weil wir mit den
Folgen unseres Tuns, dem feedback vonseiten anderer, leben können müssen. Was
wir andern antun, tun wir uns auf diese Weise [eventuell] selbst an. Dies ist
aber nicht der wahrhafte Geltungs- und Empfehlungsgrund der anzunehmenden
Regel, weil man ja durchaus auf den Gedanken verfallen kann, unangenehmes
Feedback in einigen Einzelfällen durch entsprechende Machbarkeit [bzw. Macht]
vermeiden zu können. Der wahre Geltungsgrund ist lediglich [bzw. immerhin!]
die Gemeinsamkeit der Freiheit als eines Verhaltenspotentials.
Noch ein Wort zum Ausdruck bzw. Begriff des Wertes:
Einen Wert hat eine Sache, Situation, Geschehensfolge, Verhaltenssequenz oder
Handlungsweise bezüglich unserer Bedürfnisse, Wünsche und Ziele. Die
Werteigenschaft, bzw. der Wertgesichtspunkt ist also relationaler Art. – Besondere
Bedeutung hat die Relation „einer Sache“ bezüglich der Modifizierbarkeit bzw.
Freiheit unseres Verhaltens selbst. Wenn also etwas getan werden muss, um
unsere Handlungsfähigkeit zu erhalten oder gestaltend zu erweitern. Freiheit,
als ein Modus unseres begrifflich strukturierten Verhaltens, - lenkbar bzw.
modifizierbar durch Aussageinhalte, -kann sowohl als Verfahrensweise [Mittel]
als auch als ein Ziel [Zweck] unseres Verhaltens angesehen werden. Der freie
Handlungsmodus lässt sich u. U. auch als selbstgenügsamer Zweck menschlichen
Verhaltens darstellen, obwohl es „in der Praxis“ um eine Integration von psychophysischen
Erfordernissen, sinnlichen Bedürfnissen und den Anforderungen der gemeinsamen
Freiheit geht. – Das Streben nach der gemeinsamen Freiheit hat dabei den Wert
in sich selbst, weil es ein Ziel darstellt, das eigentlich [in seiner
Plausibilität] von keiner weiteren Absicht abhängig ist. Aber das Glück
selbstgenügsamer, stoischer Weisheit ist nicht glaubhaft und ausreichend für
normale Menschen. Deshalb soll und darf niemandem zugemutet werden, Tugend
und hohen Freiheitssinn in Situationen schwerer Entbehrung oder gar auf der
Folter zu beweisen.
Stichwort „Realität, Gegebensein bzw. Existenz der
Freiheit“. Ob die Freiheit unserer Verhaltens- und Handlungsweisen
nachweisbar ist, ist eine heikle Frage. Man kann fragen: „Objektiv
nachweisbar? Nachweisbar nach naturwissenschaftlichen Standards?“ – Aber es
kommt auch zur Rückfrage: „Nach welchen Standards? Wer kann die Standards
definieren? Gibt es eine Verbindlichkeit für diese Standards?“ – Die exakte
Physik jedenfalls handelt nicht von menschlichen Verhaltensarten und den damit
verbundenen Eigenschaften und Relationen sondern von physikalischen
Messwerten und von den Relationen dieser Messwerte. Z, B. von Weg, Zeit und Geschwindigkeit
eines bewegten Körpers. Oder, im Falle der Quantenphysik, von den Wechselwirkungen
der Elementarteilchen und deren Detektoren. – Angenommen sei, dass
menschliches Verhalten, trotz all seiner Plastizität, keine „Naturgesetze“
aufheben oder ändern kann, wenn es nur wirklich Naturgesetze sind. – Dass z.
B. Frauen Kinder gebären können und Männer nicht, ist m. E. lediglich eine
bekannte Tatsache, aber kein „Naturgesetz“. Als Beispiel für ein Naturgesetz
schlage ich hier irgendwelche Quantenbedingungen der Elektronenbahnen vor. Oder
die Tatsache der Gravitationsanziehung. Oder auch die Existenz einer
Erhaltungsgröße in allem physikalischen Geschehen.
Mit der Freiheit des menschlichen Verhaltens aber
haben wir ein außerordentlich voraussetzungsreiches Thema „des menschlichen
Lebens“. Einen Aspekt der Stellung des Menschen im Gesamtbereich der
Denkbarkeiten, der Möglichkeiten und der Wirklichkeit.
Im inneren Gespräch [„der Seele“, „des Geistes“] mit
sich selbst, im Denken und in der Reflexion, d. i. im Bedenken eigener und
fremder Denk- und Verhaltensweisen, fragt sich der Mensch, welche Möglichkeiten
und Optionen bezüglich seiner Denk- und Verhaltensweisen bestehen. – Das geht
über die handgreifliche Wirklichkeit weit hinaus, denn hier geht es auch um die
Existenz von Möglichkeiten, Optionen, Eventualitäten. Möglichkeiten, Optionen
und Eventualitäten haben etwas Gespenstisches. Man weiß, dass sich die
Möglichkeit von der Wirklichkeit unterscheidet und spricht doch so, als
existiere da etwas Wirkliches neben anderem Wirklichen. - Unsere
Denkfähigkeit hat einen wesentlich utopischen Zug. [Rem. an Ernst Bloch.]
Man wird sich also der Existenz von Möglichkeiten und
Optionen bewusst, insbesondere auch der Existenz von Möglichkeiten und
Optionen bezüglich der Möglichkeiten des eigenen Denkens und Verhaltens. – Man
kann seine Verhaltensdispositionen modifizieren und modulieren. - Dieses
Bewusstsein weitet sich sogar mehr und mehr aus, auch wenn es [mehr oder
weniger schnell] an Grenzen stößt und von vielen Hindernissen „der Freiheit“ zu
erzählen weiß. Vieles ist eine Frage der Entscheidung und der Option, obwohl
man es zunächst nicht wahrhaben will. – Zu gegebener Zeit, außerhalb von
Stress und Gedränge, wird einem das bisweilen klar. - Wenn der Mensch erkennt,
was von ihm selbst abhängt, und was er als unabänderlich hinnehmen muss, dann
bleibt ihm bezüglich des Unabänderlichen sogar noch die Frage, wie er das
Unabänderliche am besten hinnimmt.[Rem. an Niebuhrs Gelassenheitsgebet.] – Am
besten, ohne zusätzlichen Schaden zu erzeugen, den er sich durch eine unzweckmäßige
und allzu aufgeregte Art des Sich-nicht-damit-Abfinden-Wollens leicht schaffen
kann.. – Wenn man in Schwierigkeiten ist, schafft man sich durch nahe liegende
Arten des Reagierens erstaunlich oft Zusatzschwierigkeiten. Durch Verhaltensweisen
des Stresses, der Aufregung, der Angst oder gar der Panik. – Gerade in diesen
Fällen wird die Frage nach Optionen und Alternativen des Verhaltens oft
übersehen. Aus nahe liegenden und verständlichen Gründen, kann man hinzusetzen,
aber dennoch nicht zu Recht und nicht zum Besten aller Beteiligten. – Primum
nil nocere, sollte man als Motto einüben. Ruhe, Unaufgeregtheit und
Gelassenheit bewirken in vielen Situationen Besseres als Stresserzeugung und
Übereifer. - Übereifer für das Falsche, wie man oft feststellen muss. – „In der
Ruhe liegt die wirkende Kraft“, sagt man mit Anspielung auf das Wu Wei des
Laotse.
Die Freiheit des menschlichen Verhaltens ist „gegeben“
in der Art einer Potentialität. Menschliches Verhalten ist vielfältig
modifizierbar und von großer Plastizität. Der Anlage nach kann der Mensch sein
Verhalten modifizieren im Hinblick auf Optionen und Möglichkeiten, letztlich
im Hinblick auf den Gesichtspunkt der gemeinsamen Freiheit, jedenfalls „so viel
als möglich“. – Auch wiederum ein wesentlich „unexakter“ Begriff. – Die
verwirklichte Meisterschaft des Freiheitsgebrauchs finden wir „natürlich“
nicht bei normalen, alltäglichen Menschen, die wir sind, sondern nur dieses
Potential „finden“ wir. Wir werden uns dieser Potentialität bewusst, wir sprechen
davon [eventuell nur zu uns selbst]in diesem oder jenem Falle. Es ist sozusagen
die Existenz einer unverwirklichten Möglichkeit. Man kann sich also nach
„Dingen“ richten, die es „in der Wirklichkeit“ „eigentlich“ [noch] gar nicht
gibt. – Nicht einmal, dass es sie irgendwann einmal geben wird, kann man sagen.
Es handelt sich um unverwirklichte, aber „bestehende“ Möglichkeiten.
Das innere Gespräch „mit sich selbst“ bedient sich
historisch und kulturell erzeugter Redeweisen, auch in der Verständigung des
Denkens selbst über sich selbst [seine Inhalte, Gegenstände, Themen, Motive
und Hintergründe]. Innerhalb dieser Redeweisen und unter ihnen entdecken wir
den Begriff der Freiheit als eines Potentials zur Option, aus gegebenen Situationen
„irgendwie“ „das Beste zu machen“. – Besonders wichtig: „das Beste“ im Hinblick
auf die Wechselwirkung der gemeinsamen Freiheit aller Beteiligten. Mit dem
Zusatz: „so viel als möglich“. Das wäre das „gute Miteinander“. - Es wird uns
in vielen Fällen nicht gelingen, von unserer Seite her „das Beste“ zu tun. Es
wird uns in vielen Fällen nicht gelingen, „die Freiheit“, so viel als
möglich, zu verwirklichen, indem wir die Entscheidung für „das Beste“ in einer
Reihe von Optionen treffen. – Irrtümliche Realitätseinschätzungen, „törichte“
und unfriedfertige Wünsche und unzweckmäßige Verfahrensweisen, z. B. der
Missbrach von Werkzeugen und Suchtmitteln, erschweren dies. – Und wir erleben
oft den Sieg der Begehrlichkeit über „die Vernunft“. – Wir sind dann nicht
gehorsam auf die „leise Stimme der Vernunft“. Zynismus erleben wir ja überall.
Die „leise Stimme der Vernunft“ gilt uns nicht immer viel. - Wenn wir z. B.
„zynisch“, mit „realistischem Blick“ auf Natur und Art des menschlichen
Verhaltens, davon ausgehen, dass „das Glück“ des einen zwangsläufiger Weise zu
Lasten anderer gehen müsse. Nach dem Spruch: „Ich oder Du.“. Solche
Situationen gibt es zwar tatsächlich, aber man verallgemeinert sie auch oft
in unzweckmäßiger Weise und vergisst, dass es auch Spiele gibt, wo einer
nicht nur auf Kosten von andern gewinnen kann. Es sind ja auch Spiele des guten
Miteinander denkbar, bei denen alle Beteiligten gewinnen. – Man darf sich nicht
[zu sehr] auf die harten Spiele des Lebens fixieren.
Man kann darüber diskutieren, ob die Freiheit des
Denkens und Verhaltens eine Illusion des menschlichen Bewusstseins darstellt. –
Selbst für diese Ansicht gibt es eine Option und starke Plausibilitäten. - Es
gibt ja viele Voraussetzungen und Abhängigkeiten unserer Existenz, derer wir
uns nicht bewusst sind. Man fühlt sich frei oder unfrei, aber das Gefühl kann
auf Irrtum und Illusion beruhen. Für
unser Denken und Handeln gibt es durchaus die Option, die Freiheit des
menschlichen Verhaltens als Irrtum und Illusion zu behandeln. Wobei sich
ironischer Weise zeigt, dass wir damit das Phänomen einer Freiheit „höherer
Ordnung“ im Spiel haben. Wir optieren ja damit für die Theorie der
Bewusstseinsillusion als der harten Wahrheit bezüglich unseres
[Freiheits-]Bewusstseins. Das kann als Selbstdementi ausgelegt werden. – Wer
aber ganz so weit nicht geht und lediglich zur Debatte stellt, dass unser
Freiheits- und Wahrheitsbewusstsein weitgehend auf Irrtum und Illusion beruhen
könnte und vielleicht auch wirklich weitgehend darauf beruht, der braucht das
Argument der höheren Freiheit und des besseren Bewusstseins nicht zu fürchten.
Er beansprucht die Illusionsthese nur in besonderen [in besonders vielen?]
Einzelfällen und nicht generell in jeglichem Thema.
Potentialität der Freiheit ist ein unvermeidlicher
Modus unseres Denkens und Handelns. Es besteht die „spirituelle“ „Tatsache“
der Unvermeidlichkeit von Optionen in unserem Leben. Wenn wir eine dramatische
Ausdrucksweise lieben, können wir mit Sartre sagen, wir seien zur Freiheit
verdammt. Es ist für uns unvermeidlich, Optionen bezüglich irgendwelcher Denk-
und Verhaltensweisen zu treffen. Wir können aber auch einfach sagen: „Wir sind
[von Natur aus] zur Freiheit befähigt.“ – Der innere Gehalt dieser Befähigung?
– Zunächst die Plastizität des menschlichen Verhaltens, die Tatsache seines
multifaktoriellen Gepräges, letztlich und in der Hauptsache aber die Befähigung
zum guten Miteinander, zum verabredeten verantwortlichen Wechselspiel von
Freiheitsspielräumen.
Realisiert oder „verwirklicht“ ist damit die
Befähigung „zur Freiheit“, die Befähigung zum Wechselspiel der
Freiheitsspielräume mit andern, noch nicht. – Der Mensch ist von Natur aus
befähigt zum „guten Miteinander“, aber die Entfaltung dieser Fähigkeit gelingt
ihm lediglich in eingeschränktem Maße. Ist man pessimistisch, sagt man: „Es
gelingt ihm nicht.“ Sieht man es weniger dramatisch, sagt man: „Es ist eine
Teilverwirklichung.“ Die Lage ist sozusagen ernst, aber nicht völlig
hoffnungslos.
Das Bestehen dieser Befähigung, diese unvermeidliche
Potentialität, ist eine sonderbare „Tatsache“. „Ontologisch“ bedeutet dies
[das Sprechen vom Bestehen einer unvermeidlichen Potentialität] nur, dass
wir, „so weit als möglich“, die Entscheidung für eine Harmonie unserer Freiheitsspielräume
treffen könnten, dort wo sich Entscheidungsalternativen „tatsächlich“ stellen.
– Wo es nichts zu entscheiden gibt, gibt es eben nichts zu entscheiden. - Frage
ist somit, in welchen Fällen wir tatsächlich in Entscheidungsituationen
stehen. Gibt es so etwas wie die Existenz einer Entscheidungssituation und der
damit verbundenen Existenz von unverwirklichten Möglichkeiten? – Rein
indikativisch kann man nämlich die Existenz von Entscheidungsalternativen
nicht ausdrücken. Sprachlich braucht man den Konjunktiv dafür: „Du könntest
diese Option wählen, du könntest doch z. B. dieses oder jenes tun.“ Das ist
die Existenz von Denkbarkeiten, nicht die Existenz von rein indikativisch zu
konstatierenden Fakten. Wir haben sozusagen das Parmenides-Problem, dass wir
auch von Dingen reden, die es „eigentlich“ [noch] gar nicht gibt. Wenn wir von
der Existenz irgendwelcher Möglichkeiten reden. Das sind keine ganz „harten“
Fakten. Wenn man sagt: „Tatsache ist, dass du jetzt dies oder jenes tun
könntest.“ In der Sprache der reinen empirischen Beobachtung, die nur konstatierende
Ausdrücke erlaubt, ist diese Formulierung sehr problematisch. Aber so reden
und denken wir.
Stichwort „Subjekt der Freiheit“:
Es geht nicht darum, dass „ein Subjekt“ da ist, das
die Befähigung zur allgemeinen Freiheit hat. Diese Potentialität selbst ist
„das Subjekt“. Sie [diese Potentialität] ist auch der Modus unseres Denkens und
unserer begrifflich modifizierbaren Verhaltensweisen. – Die Rede vom „Modus“
ist lediglich die Kennzeichnung unter einem anderen Aspekt [als dem
relationalen Aspekt]. Der Aspekt der Relation zerlegt eine Tatsache in etwas,
von dem etwas prädiziert wird, und etwas, was davon ausgesagt wird: so ist der
einzelne Mensch Träger typischer Merkmale und Verhaltensweisen. Der Aspekt
der Modalität reflektiert auf eine allgemeine, „formale“ Beschaffenheit von
inhaltlich vielfältigen Einzelheiten. Unter diesem Aspekt ist die Befähigung
zur Freiheit und Option ein grundsätzlicher Gesichtpunkt menschlichen Agierens
und Reagierens. Man kann z. B. von Optionen in der Art des Reagierens bezüglich
unvermeidbarer Dinge sprechen, von der Art des Sich-Abfindens mit Dingen, die
man nicht ändern kann. In der Art, wie ich eine für mich unveränderliche
Situation aufnehme, zeigen sicht Aspekte von Freiheit und Option. Ich finde
die Aspekte von Freiheit und Option oft nicht ausreichend vorhanden und klage
über die „Enge“ der „Verhältnisse“, die ich kaum ändern kann. Aber die Frage
ist einfach, wofür Optionen bestehen und wofür nicht. Die sybillinische Auskunft
in dieser „Sache“ heißt: das Wechselspiel der allgemeinen Freiheit
realisieren, „so weit als möglich“ und natürlich nur insofern, als Optionen
dafür „tatsächlich“ bestehen.
„Was ist die „Sache“ meiner Freiheit?“ kann ich mich
fragen. Vieles, was ich wünsche, kann ich nicht tun. Vieles steht nicht in
meiner Macht. – „Was nützt mir meine Freiheit?“ ergibt sich als abschätzige
Nachfolgefrage. – Die „Sache“ meiner Freiheit ist die Fähigkeit zur allgemeinen
Freiheit, zum „guten“ Miteinander, „so viel als möglich“ und dort, wo Optionen
„tatsächlich“ bestehen.
Wenn man also über „Freiheit“ als einer Eigenschaft
menschlichen Verhaltens sprechen möchte, kann man mit der „Plastizität“ des
menschlichen Verhaltens beginnen. Plastizität heißt Gestaltbarkeit. Zunächst
kann man sagen, diese Plastizität stehe einfach für das Phänomen der schwierigen
Erklärbarkeit menschlichen Verhaltens. Man hat z. B. biologische, medizinische
und sozialpsychologische Faktoren. Also kann die Plastizität in der Tatsache
sehen, dass wir eine Kombinationstheorie und Faktorenanalyse für das
menschliche Verhalten benötigen. Es ist multifaktoriell. Damit ist man bei
vielerlei Determinanten angelangt, bei Undeterminiertheit bzw. bei einem
gewissen Maß von Undeterminiertheit eigentlich aber noch nicht.
Vielfältiges Determiniert-Sein heißt noch nicht
Undeterminiert-Sein [in irgendeinem Bereich]. Das hat Kant sehr deutlich
gesehen, allerdings vor dem Hintergrund eines Zeitgeistes, der Determinismus
in zwangsläufiger Verbindung mit vollendeter Naturwissenschaft sah. – Der
Laplace’sche Dämon kann sämtliche Zustandswerte an sämtlichen Wirklichkeitspunkten
zu sämtlichen Zeitpunkten berechnen. Das ist eine deterministische
Erklärbarkeitsbehauptung, ein gigantisches Forschungsprogramm. Keine in ihrer
Gültigkeit erhärtete empirische Einzelaussage. – Kant also hat gesehen, dass
erst die Frage „wozu sind wir frei?“ effektiv über Determinismus hinausweist.
Das „Gesetz“ der freien Sitte, die Fähigkeit zum guten Miteinander, natürlich
nur, soweit als möglich, ist ihm ratio cognoscendi der Freiheit als einer
Eigenschaft des menschlichen Wollens. Dies ist ein berühmter Passus in der
Vorrede zur K. d. p. V.. Es läuft auf die Motivierbarkeit des Menschen durch
eine erkennbar gültige normative Aussage hinaus.
Die Formulierung in der Vorrede zur K. d. p. V.:
lautet: Freiheit ist die „ratio essendi des moralischen Gesetzes, das
moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit“. Das Normbewusstsein
ist „die Bedingung, unter der wir uns der Freiheit bewusst werden können“. Zunächst
erwähnt Kant den spekulativen Freiheitsbegriff: Gibt es in der Wirklichkeit so
etwas wie „das Vermögen“, dass eine „Reihe von Begebenheiten“ „von selbst“
beginnt? Diese Frage entsteht aus Überlegungen bezüglich der kausalen
Verknüpfungen von Zustandsfolgen. Die Änderung eines Zustandes an einer Stelle
der Wirklichkeit zieht ja [in der Zeitfolge] Zustandsänderungen an vielen
Stellen der Wirklichkeit [gemäß erkennbarer Regelmäßigkeiten] nach sich,
eventuell an der ersten Stelle selbst und an anderen Stellen. Das ist der
„Kausalnexus“ einer „Reihe von Begebenheiten“. Wir gehen nun von der Existenz
vorbedingter Zustandsfolgen aus. Genauer: wir gehen von der Existenz eines
durch eine Reihe von Vorbedingungen bedingten Zustandes [an einer
Wirklichkeitsstelle zu einem gegebenen Zeitpunkt] aus. Es erhebt sich die Frage
nach der Eigenschaft der vollständigen Reihe der entsprechenden Vorbedingungen.
Endlich oder unendlich? Begrenzt oder unbegrenzt? Dies ist eine gedankliche
Spekulation bezüglich der Eigenschaft der Ganzheit [Vollständigkeit] dieser Vorbedingungen.
Optiere ich für eine unendliche Menge an Vorbedingungen, muss ich sagen, zu
einem bestimmten Zeitpunkt sei eine unendliche Menge an Vorbedingungen erbracht
worden, was unmöglich erscheint. „Vollendet das ewige Werk!“ singt Wagners
Wotan in Rheingold, eigentlich ein Widerspruch, aber auf der Bühne macht es
doch Effekt. Optiere ich für eine endliche Menge an Vorbedingungen, muss ich
sagen, die vollständige Reihe bedingter Zustandsänderungen beginne irgendwann
„von selbst“. Mit einem erstbewegenden Anstoß. Das Argument ist natürlich
nicht zufrieden stellend. Überlegt man sich die Behauptung dieses „von selbst“
im Kontext einer Betrachtung über lückenlose Kausalverknüpfungen, ergibt sich
sofort die Frage, wie es zu diesem ersten Anfang [in einer Folge von
Zustandsänderungen] kam. – Dieses Schwanken der Option zwischen
Aktual-Unendlichkeit und aufzählbarer Endlichkeit als Eigenschaft der vollständigen
Bedingungsreihe nennt Kant „Antithetik der spekulativen Vernunft“. Der Begriff
der Freiheit ist hier der Begriff einer Fähigkeit [in der Wirklichkeit], dass
eine Reihe von Begebenheiten „von selbst“ anfängt. Den Begriff selbst [von
einem solchen Wirklichkeitsphänomen] hält er für widerspruchsfrei, die
„Möglichkeit der Sache“ aber für unbegreiflich. Er sagt: Der Begriff einer
solchen Sache sei „nicht unmöglich zu denken“ [a.a.O, S. 4]. Aber die
„objektive Realität“ sei nicht „zu sichern“.
–
Ende des Exkurses über
die „höheren“ Werte.
P.S.: Goethe hat viele der
angesprochenen Sachverhalte ebenfalls im Blick, wenn er dichtet:
„Die Sterne, die begehrt man
nicht,
man freut sich ihrer Pracht.“
© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2005/2009