Peri Hermeneias, Kapitel 9 [De Interpretatione]

[ein Plädoyer für eine mehr als zweiwertige Logik bei A.]

[Offenheit der Zukunft]

[Wahrheitsundeterminiertheit als Charakteristikum partikularer Zukunftsaussagen]

 

„Dass bei“ „Aussagen über die Zukunft“ „tiefliegende logische Probleme auftreten werden, hat ... schon Aristoteles klar gesehen. Er bezweifelt ..., dass der von ihm selbst ... als allgemein aufgestellte Satz vom ausgeschlossenen Dritten für Aussagen über zukünftige Ereignisse Geltung habe .... Ist der Satz „morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ heute notwendigerweise an sich entweder wahr oder falsch? Wäre dies der Fall, so wäre heute an sich bestimmt, ob morgen eine Seeschlacht stattfinden wird. Man hätte also den Determinismus aus dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten hergeleitet. Nun mag der Determinismus wahr sein; aber es scheint also eine unzulässige Erschleichung, ihn, der eine positive metaphysische Behauptung ist, aus einem Satz der Logik herzuleiten. Es ist aber schwer zu sehen, was an dieser Herleitung falsch sein soll, wenn nicht die Prämisse, jener Satz über die Zukunft sei in der Gegenwart wahr oder falsch.“ [C. F. v. Weizsäcker, Aufbau der Physik, 2. Kapitel, Punkt 1, S. 51]

 

Aristoteles formuliert den Satz vom ausgeschlossenen Dritten an mehreren Stellen. Es sind mir zwei Stellen gegenwärtig, die ich hier betrachten möchte:

 

Es ist „nicht möglich, dass es ein Mittleres zwischen den beiden Gliedern des Widerspruchs gibt, sondern man muss eben eines von beiden entweder bejahen oder verneinen.“ [Metaphysik, IV. Buch (Gamma), 7]

 

„Unter dem Entgegengesetzten aber hat der Widerspruch kein Mittleres; denn der Widerspruch ist ja eben eine Entgegensetzung, von deren beiden Gliedern eines jedem beliebigen Ding zukommt, ohne dass es zwischen ihnen ein Mittleres gibt.“ [Metaphysik, X. Buch (Jota), 7]

 

Man bezeichnet dieses Prinzip als „tertium non datur“, Prinzip des ausgeschlossenen Mittleren unter zwei kontradiktorischen Gegensätzen, verkürzt gesprochen als Satz des ausgeschlossenen Dritten.

 

Man kann das Prinzip aussagenlogisch und prädikatenlogisch auffassen. Aussagenlogisch bedeutet es, dass von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen eine wahr sein muss. Wenn eine Aussage falsch (d. i. nicht wahr) ist, dann ist ihre Negation [notwendigerweise unter dieser Prämisse] wahr. Prädikatenlogisch aufgefasst besagt er: Von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten begrifflichen Aussageinhalten [Prädikaten] kommt einem Ding eines dieser Prädikate [notwendiger Weise] zu. - Wenn wir von etwas Existierendem sprechen und ihm Eigenschaften prädizieren, so kommt ihm [notwendiger Weise] von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Eigenschaften eine zu. Z. B. ändert sich entweder das Wetter, oder es ändert sich nicht, damit sind alle Möglichkeit umfasst, und deshalb gibt es keine weitere Möglichkeit. „Sowohl – alsauch“ scheitert an der ausschließenden Abgrenzung der Alternativenteile, „weder – noch“ am allumfassenden [alle Möglichkeiten umfassenden] Charakter der Alternative. Es gilt unter dieser Voraussetzung: „notwendigerweise eines von beiden“, „entweder – oder“.

 

Ein „anderes“ logisches Prinzip, nämlich der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch [ebenfalls ein Ausschlussprinzip] besagt, dass von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Alternativen nicht beide wahr sein können und beinhaltet insofern einen Gesichtspunkt für das, was zusammen nicht wahr sein kann. Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten dagegen enthält den Gesichtspunkt, dass eine von beiden [kontradiktorisch entgegengesetzten Alternativen] wahr [und die andere falsch] sein muss. Zusammen bilden die Sätze vom [ausgeschlossenen] Widerspruch und [ausgeschlossenen] Dritten das Prinzip der zweiwertigen Logik, wobei „wahr“ und „falsch“ eine vollständige Disjunktion [Alternative] bilden, so dass eine Aussage, die nicht wahr ist, [unter dieser Voraussetzung] notwendigerweise falsch ist.

Nimmt man den Aspekt von entscheidbarer und unentscheidbarer Wahrheit und Falschheit in die Betrachtung auf, so hat man den Fall, dass ein Satz mit unentscheidbarer Wahrheit zwar der entscheidbaren Wahrheit entgegensteht aber nicht notwendiger Weise falsch ist. In diesem Fall wäre die vollständige Disjunktion [Alternative] erst erreicht mit: entweder entscheidbar wahr oder entscheidbar falsch oder unentscheidbar [eventuell unentscheidbar wahr und entscheidbar falsch]. Erkennbare Wahrheit und erkennbare Falschheit bilden keine vollständige Alternative. [Wir hätten einen dritten Wahrheitswert: „unbestimmt“ (‚unentscheidbar’, ‚unerkennbar in seiner Wahrheit’, ‚nicht zu objektivieren’ o. dgl.]

[So ist nach Kant die Aussage, dass Gott existiert, [für die empirisch-theoretische und naturwissenschaftliche Vernunft] unentscheidbar, also keine entscheidbare Wahrheit, ebenso aber auch die [dazu kontradiktorische] Aussage, dass Gott nicht existiert. Das Feld des unentscheidbar Wahren, auch des unentscheidbar Falschen, wird in seiner Konzeption von Glaubensrationalität, d. i. in der Religionsphilosophie wichtig. Der „vernünftige“ Glaube wird zur Option für einen Standpunkt in objektiv unentscheidbaren Fragen. Unter Beibehaltung dieser „objektiven“ Unentscheidbarkeit.]

Zurück zu A.. Es finden sich bei A. auch verschiedene Kurzformulierungen der genannten logischen „Sachverhalte“. Für den Satz vom Widerspruch: „Eines von zwei kontradiktorischen Gegenteilen ist notwendiger Weise falsch“ [„Nicht beides wahr“, „nicht beides zugleich“. „nicht so und auch nicht“], für das Tertium non datur: „Eines von beiden [...].“ Es besteht ein Zusammenhang, m. E. sogar Äquivalenz der beiden Prinzipien, wenn man sie wie folgt auffasst: Weil nicht beides zugleich [wahr] sein kann, muss eines von beiden [wahr] sein. Das „weder – noch“ und „sowohl – als auch“ sind [allerdings nur] deshalb ausgeschlossen, weil [im Falle von kontradiktorischen Gegenteilen] die Disjunktion als vollständig [d. h. als alle Möglichkeiten umfassend] und als ausschließend angesehen wird. Das setzt die hinreichend scharfe „Definition“ der [begrifflichen] Ausssageinhalte voraus, funktioniert also eher für idealisierte als für alltagssprachliche Prädikate.

 – C. F. von Weizsäcker hat [in einer Diskussion] für den Bereich der politischen Dinge den Schluss von der Falschheit [Unrichtigkeit] des gegnerischen Standpunkts auf die Wahrheit des eigenen geradezu als den politischen Fehlschluss bezeichnet. Tatsächlich werden die erforderlichen Voraussetzungen indirekter Beweisverfahren oft übersehen und haben insofern indirekte Argumentationsverfahren in Misskredit gebracht. Oft verfällt man in eingeschränkter Sichtweise auf ein „entweder – oder“, wo ein „sowohl - alsauch“ oder ein „weder – noch“ viel eher angebracht wäre. [Dazu auch mythologische Beispiele: Einer Göttin wurde zwar die Unsterblichkeit für ihren zunächst sterblichen Geliebten gewährt, was den beiden aber vorschwebte, war aber ewige Jugend, wofür sie lediglich glaubten, die Sterblichkeit negieren zu müssen. Sie fielen auf eine Voraussetzung herein, die sie stillschweigend, aber fälschlich angenommen hatten.]

Das principium contradictionis enthält einen [den?] logischen Gesichtspunkt der Falschheitsdetermination, weil bestimmte Aussagen nicht zugleich wahr sein können. Das tertium non datur enthält umgekehrt einen [den?] Gesichtspunkt der Wahrheitsdetermination. Zusammen beruhen diese Gesichtspunkte [beruht dieser eigentlich singuläre Gesichtspunkt] auf der Auffassung, dass eine [hinreichend präzise] Aussage genau dann wahr ist, wenn sie nicht falsch ist.

[Nun wird es zu einer kopfzerbrechenden Frage, ob alle hinreichend präzisen Aussagen wahr oder falsch sind. Ob es z. B. darüber hinaus noch wesentlich unentscheidbare, eventuell sinnlose Aussagen gibt usw.]

 

Nun zu der Passage selbst aus ‚Peri Hermeneias’ [De Interpretatione]. Die Klammern „[...]“ enthalten verdeutlichende Zusätze von mir:

 

„Bei dem Gegenwärtigen und Vergangenen ist ... notwendig die Bejahung oder die Verneinung wahr oder falsch. .... Bei dem Einzelnen und Zukünftigen aber verhält es sich nicht so.

Denn wenn jede Bejahung und Verneinung wahr oder falsch ist, so muss auch alles [entweder] [so] sein, [wie einer sagen könnte] oder nicht [so] sein. Sagt demnach der eine, dass etwas [so] sein werde, und bestreitet der andere eben dieses, so muss offenbar einer von ihnen recht haben, wenn jede Bejahung und Verneinung wahr oder falsch ist. Denn bei solchen Dingen kann nicht beides zugleich sein.

Denn wenn es wahr ist, zu sagen, dass etwas weiß oder dass es nicht weiß ist, so muss es weiss oder nicht weiß sein, und wenn es weiß oder nicht weiß ist, so war es wahr, es zu behaupten oder zu bestreiten; und wenn es nicht [so] ist, [wie man sagt], sagt man die Unwahrheit, und wenn man die Unwahrheit sagt, ist es nicht [so, wie man sagt]; und so ist denn notwendig entweder die Bejahung oder die Verneinung wahr oder falsch. Folglich ist nichts und wird nichts und geschieht nichts durch Glück oder Zufall, noch wird etwas durch Glück oder Zufall sein und nicht sein, sondern alles ist aus Notwendigkeit und nicht durch Zufall [so, wie es ist]. Es wird ja entweder der Bejahende oder der Verneinende recht haben. Denn sonst könnte es ebensogut geschehen wie nicht geschehen. Denn das Zufällige kann ebensogut so sein oder bevorstehen wie so.

Ferner, wenn etwas jetzt weiß ist, so war es vorher wahr zu sagen, dass es weiß sein werde, und also war es immer wahr, von allem, was je geworden ist, zu sagen, dass es [so] sei oder oder sein werde. Wenn es aber immer wahr war zu sagen, dass etwas [so] sei oder [so] sein werde, so ist es nicht möglich, dass es nicht [so] wird oder nicht [so] sein werde. Wovon es aber unmöglich ist, dass es nicht [so] wird, das muss [so] werden. Also wird alles, was in Zukunft [so] wird, notwendig [so], und mithin wird nichts durch Glück oder Zufall [so] sein. Denn wenn etwas durch Glück [so] wird, wird es nicht notwendig [so].

Man kann aber auch nicht behaupten, dass keines von beiden wahr ist, dass nämlich etwas [so] sein kann, was weder [so] sein noch nicht [so] sein wird. Denn dann wäre erstens, wenn die Bejahung falsch wäre, die Verneinung nicht wahr, und wenn diese falsch wäre, folgte, dass die Bejahung nicht wahr wäre. Und es muss zweitens, wenn es wahr ist zu sagen, dass etwas weiß und groß ist, beides [so] sein, und etwas wird, wenn es morgen [so] sein wird, morgen [so] sein. Wenn es aber morgen weder [so] sein noch nicht [so] sein wird, so gäbe es kein Zufälliges, z. B. keine Seeschlacht. Denn es müsste dann morgen eine Seeschlacht weder bevorstehen noch nicht bevorstehen.

Diese und andere solche Ungereimtheiten müssten sich ergeben, wenn bei jeder entgegengesetzten Bejahung und Verneinung ... die eine notwendig wahr und die andere falsch sein müsste und nichts von allem, was geschieht, zufällig sein könnte, sondern alles notwendig [so] wäre und geschehe. Man brauchte mithin weder zu überlegen noch sich zu bemühen in dem Gedanken, dass das und das geschehen werde, wenn man so und so, und nicht geschehen werde, wenn man nicht so verfährt.

Es könnte ja auch von zwei Personen die eine selbst aufs zehntausendste Jahr im voraus behaupten, dass etwas geschehen werde, während die andere es bestritte, und folgerichtig müsste dann jedes von beiden, was man damals zutreffend voraussagte, notwendig geschehen.

Es trüge auch nichts aus, ob bestimmte Personen das kontradiktorisch Entgegengesetzte behauptet hätten oder nicht. Denn die Dinge verhalten sich offenbar so, wie sie sich verhalten, auch wenn der eine etwas nicht behauptet und der andere es nicht bestritten hat. Denn sie stehen nicht wegen einer vorausgegangenen Bejahung Verneinung bevor oder nicht bevor. ... Wenn es demnach zu jeder Zeit so stand, dass das eine Glied der Kontradiktion wahr war, so musste es entsprechend geschehen und stand es mit allem Vergangenen immer so, dass es notwendig geschah. Denn einerseits konnte etwas, wovon man zutreffend gesagt hatte, dass es geschehen werde, unmöglich nicht geschehen, und andererseits war es von dem, was geschieht immer wahr, zu sagen, dass es geschehen werde.

Wenn denn nun alles dies unmöglich ist ....

Es ist notwendig, dass alles entweder [so] ist oder nicht [so] ist und [so] sein wird oder nicht [so] sein wird. Es ist aber nicht notwendig, dass man eines von beiden getrennt für sich behauptet. Ich will z. B. sagen, dass morgen eine Seeschlacht sein oder nicht sein wird, es ist aber nicht notwendig, dass morgen eine Seeschlacht sein wird oder dass sie nicht stattfindet; notwendig aber ist, dass sie entweder stattfindet oder nicht.

... es muss zwar ein Glied der Kontradiktion wahr sein bzw. falsch, aber nicht dieses oder jenes bestimmte Glied, sondern beliebig das eine oder das andere von beiden, und es muss vielleicht auch das eine eher wahr sein als das andere, aber doch nicht so, dass es notwendig wahr wäre oder falsch.“ [Peri hermeneias, Kap. 9]

 

Dazu eine Passage aus einem philosophischen Wörterbuch, in der Standpunkt des A. als unberechtigt zurückgewiesen wird:

 

„Die universelle Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten ist seit dem Altertum Gegenstand der Diskussion. So bestritt z. B. Aristoteles seine Gültigkeit für Zukunftsurteile über zufällige Ereignisse. Zur Verteidigung der Auffassung des Aristoteles wird oft angeführt, es sei nicht möglich festzustellen, ob es zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt an einem bestimmten Ort regnen werde oder nicht regnen werde. Tatsächlich aber wird es zu jenem Zeitpunkt an diesem Ort regnen oder nicht regnen. Einer dieser beiden möglichen Sachverhalte wird vorliegen, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob der betreffende Sachverhalt zufällig oder mit Notwendigkeit eintritt. Darüber wird auch gar nichts behauptet. In Abhängigkeit von dem zukünftigen Sachverhalt ist eine entsprechende Behauptung über ihn bereits wahr bzw. falsch, auch wenn man noch nicht nachprüfen kann, welcher der beiden Wahrheitswerte der Behauptung zukommt. Wenn von der Unmöglichkeit, die Wahrheit einer Zukunftsaussage festzustellen, die Rede ist, verschiebt sich das Problem auf eine andere Ebene. Dann geht es nicht mehr um die Wahrheit, sondern um die Gewissheit. Ein Beweis, eine Nachprüfung ändert nichts an der Wahrheit einer Aussage, kann aber die Gewissheit verschaffen, dass die betreffende Aussage wahr ist. [Philosophisches Wörterbuch, Georg Klaus u, Manfred Buhr, 8. Auflage, 1972]

 

Nähern wir uns der Sache, indem wir uns zur Erläuterung des Ganzen einige Rückfragen vorlegen!

 

Bestreitet Aristoteles mit seiner Reflexion auf bestimmte Zukunftsaussagen [„bei dem einzelnen und Zukünftigen“] die universelle Gültigkeit des tertium non datur, indem er sagt, hier gibt es doch ein Drittes?

Nein, denn eines von beiden wird wahr sein, entweder der Eintritt oder der Nichteintritt eines bestimmten Ereignis. Die Disjunktion und somit die Menge der explizit formulierten Alternativen ist vollständig. Auch für typische Zufallsereignisse gilt dies. Ich werde zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer regelmäßigen Münze Kopf oder Zahl werfen.

Wie aber kommt der Gesichtspunkt der Notwendigkeit mit in’s Spiel? Handelt es sich doch in diesen Fällen um empirisch-‚kontingente’ Sachverhalte bzw. Ereignisse. Dies gilt für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen.

„Notwendig“ sei zunächst lediglich, dass entweder die Bejahung oder die Verneinung eines [hinreichend präzise gefassten] Sachverhalts wahr sein, bzw. gelte[n] [müsse]. Aristoteles führt die „Denkgesetze“ vom ausgeschlossenen Widerspruch und ausgeschlossenen Dritten an allen mir gegenwärtigen Stelle in „modalitätenbehafteter“ Sprechweise ein. „Nicht möglich, dass Identisches in identischer Weise von einem Identischen gelte“, „notwendig, dass eines von beiden ... gelte“, „notwendig ist entweder die Bejahung oder die Verneinung [von etwas in Bezug auf etwas] wahr oder falsch“, äquivalent mit: „unmöglich, dass nicht entweder die Bejahung oder die Verneinung wahr ist.“

Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob A. in der zitierten Passage wirklich schlüssig argumentiert. Deshalb habe ich zwei unterschiedliche Stellungsnahmen zitiert, die mir zuzeiten jeweils eingeleuchtet haben. Die Schwierigkeiten ergeben sich dadurch, dass Modalbestimmungen wie ‚notwendig, dass’, ‚unmöglich, dass’, ‚kann sein, dass’ eine tragende Rolle in diesen Ausführungen spielen. Beruht nun nicht das [angebliche?] Argument für den Determinismus des [einzelnen] Zukünftigen auf einem ‚Klammerungsfehler’, z. B. derart: „aus ‚notwendig, dass A oder non-A’ ergibt sich: entweder notwendig, dass A oder notwendig, dass non-A’?

Ich denke, dass man A. eine andere Lesart zugute halten kann. Gesetzt der Fall, ein Teil der Disjunktion, dass z. B. zu einem Zeitpunkt X an einem Ort O eine Seeschlacht stattfinde, sei aufgrund von empirischer Beobachtung wahr, das entsprechende Ereignis sei also empirisch-kontingentes Faktum, so ist in logischer Konsequenz bezüglich dieses kontingenten Faktums das Gegenteil, dass die Seeschlacht nicht stattfindet, falsch. Das gilt für alle Zeitpunkte, denen Ereignisse zugeordnet werden, nur eben, dass es in Bezug auf zukünftige Ereignisse jetzt noch keine Beobachtungen ihres Stattfindens vorliegen können.

 

Nun die Rekonstruktion des aristotelischen Arguments aus meiner eigener Sicht:

 

Duktus des Arguments:

 

Gemeinsame 1 Prämisse für Fall 1 und 2:

Notwendigerweise: Es wird zum zukünftigen Zeitpunkt X [an wohldefiniertem Ort] eine Seeschlacht stattfinden oder nicht. [logisch gültige, weil vollständige und klar getrennte Alternative, ‚logisches Phänomen’ des tertium non datur.]

                Fall 1, 2. Prämisse:

                Dass zu einem bestimmen Zeitpunkt X [usw.] eine Seeschlacht nicht stattfindet, ist objektiver Sachverhalt, unabhängig ob und wie wir davon [aus Ursachen oder sonstwie] wissen [können].

                [conclusio] Notwendigerweise: es wird [...] eine Seeschlacht stattfinden.

                Fall 2, 2. Prämisse:

Dass zu einem bestimmten Zeitpunkt X [usw.] eine Seeschlacht stattfindet, ist objektiver Sachverhalt, unabhängig davon, ob und wie wir davon wissen [können].

[conclusio] Notwendigerweise: es wird [...] keine Seeschlacht stattfinden.

 

Punctum saliens der notwendigen Wahrheitsdetermination: Bedingt durch die hypothetisch angenommene, aber [„an sich“] feststehende Falschheit [bzw. Wahrheit] des kontradiktorischen Gegenteils wird der andere Teil der Alternative jeweils notwendigerweise realisiert.

 

A. fasst das tertium non datur als Prinzip der Wahrheitsdetermination für „an sich“ wahre oder falsche Sätze auf. Wenn etwas „wirklich“ bzw. “an sich“ wahr oder falsch ist, dann bedeutet das: „immer“, „zu allen Zeiten“, also schon „vorher“ [und auch „nachher“] wahr. Das entspricht m. E. dem Sinn der Wahrheitsprädikation bezüglich allerdings idealisierten Satzgebilden, bei denen man von der Fiktion einer unstrittigen [hinreichend definiten] Satzbedeutung ausgehen kann. Wahr ist eine Aussage, wenn der durch sie ausgesagte [bezeichnete] Sachverhalte besteht, falsch wenn nicht usw..

Stichwort „Korrespondenztheorie der Wahrheit“. – Der anspruchsvolle Name einer Korrespondenz- oder Adäquations“theorie“ der Wahrheit sollte uns nicht darüber täuschen, dass aufgrund sprachlicher Konventionen folgende Begriffsbildung naheliegend ist: Eine Aussage ist wahr genau dann, wenn der durch sie ausgesagte Sachverhalt tatsächlich besteht. Umgekehrt gilt ebenfalls: der durch eine Aussage ausgesagte Sachverhalt besteht tatsächlich, wenn die Aussage wahr („gültig“) ist. – Das sind Reden über die Verwendung von Formulierungen [bzw. der Versuch einer Sprachregelung]. Es sind keine Erklärungen im Sinne von „Rückführungen auf ein anderes“.

Das Konzept der Aussagenwahrheit enthält interessanter Weise etwas unumgehbar Vorauszusetzendes, das nicht auf ein gänzlich „anderes“ zurückgeführt werden kann, weil man sich seiner unentrinnbar bedient, wenn man etwas [als wahr bzw. gültig] behaupten möchte. Man muss dazu den „Begriff“ der wahren Aussage [bzw. der Übereinstimmung der Aussage mit dem ausgesagten Sachverhalt] zumindest in einigen wenigen Fällen für zutreffend halten. Allerdings besteht zuvor das Problem, genau zu sagen, was [„eigentlich“, „wirklich“] behauptet wurde. In der Praxis scheitert man oft schon an diesem Punkt. - [Interessanter Sonderfall in diesem Themenkomplex ist, wenn jemand erklärt, genererell lediglich Mutmaßungen vollziehen zu können. Danach gibt es nichts außer Mutmaßlichkeit, aber lediglich mutmaßlich.]

 

Zurück zu A. und seinen Betrachtungen zum tertium non datur [und der daraus eventuell folgenden Wahrheitsdetermination von Aussagen bezüglich des Eintritst zukünftiger Ereignisse.]

Eine weitere Modalbestimmung soll hier herangezogen werden, um die Pointe des A. unmissverständlich herauszuarbeiten. Sie heißt: „es ist kausal [d. h. aufgrund von gegebenen Ursachen] notwendig, dass ...“. Es ist hilfreich, sich klarzumachen, dass die Bestimmung, „es ist aufgrund des tertium non datur determiniert, dass ...“ eine andere Art von Wahrheits- bzw. Tatsachendetermination meint. A. dürfte sowohl für die Vergangenheit und Gegenwart als auch für die Zukunft das Entstehen und Vergehen von Dingen [sowie den Eintritt und Nichteintritt von Ereignissen] aufgrund von Ursachen angenommen haben. Er hat dies vielleicht nicht so lückenlos und bis in die letzten Einzelheiten gehend angenommen wie die neuzeitlichen Parteigänger des Laplaceschen Dämons, aber immerhin im Großen und Ganzen. Der Determinismus, den A. im Zusammenhang mit gewissen [dann zu verwerfenden] Voraussetzungen aus dem tertium non datur ableiten zu können glaubt, hat mit der Vorhersagbarkeit der Geschehnisse aufgrund von Ursachen nichts zu tun. Er gilt vielmehr auch für ganz willkürlich aufgestellte Behauptungen über die Zukunft allein aufgrund der Tatsache, dass von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Aussagen eine [„an sich“] wahr ist und genau dadurch die Wahrheit ihres Gegenteils [bedingt notwendigerweise] ausschließt.

Das Argument ergibt sich auf der Grundlage einer durchaus gängigen Verwendung der Wahrheitsprädikation. In diesem Zusammenhang stehen die erläuternden, aber implizit selbstverständlichen Zusätze: Wenn eine [wohldefinierte] Aussage wahr ist, dann ist sie eigentlich „zu allen Zeiten“, „an sich feststehend“ wahr. [Umgekehrt gilt dasselbe für die ‚objektive’ Falschheit einer Aussage.] Es müsste also „vorher“, „nachher“ und eben „zu allen Zeiten“ möglich sein, „wahrheitsgemäß“ diese Aussage auszusagen, die „an sich“ wahr ist. Auch wenn wir es nicht wissen können, und somit die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage für uns unentscheidbar ist, so ist doch [nach dieser angenommenen Sichtweise] eine Aussage über kontingent Zukünftiges „an sich“ entweder wahr oder falsch.

Es ist also der Wahrheitsbegriff [in Bezug auf hinreichend definierte Aussagen, bzw. Aussagen, deren Inhalte hinreichend definiert sind], der den sonderbaren Determinismus des 9. Kapitels von ‚peri hermeneinas’ motiviert. Unabhängig vom Zeitpunkt des Äußerungsereignisses ist eine hinreichend bestimmte Aussage [„an sich feststehend“] entweder wahr oder falsch; - und zwar auch unabhängig davon, ob wir dies wissen können oder nicht.

Die Alternative [Eintritt oder Ausbleiben eines wohldefinierten Ereignisses] war vollständig [erschöpfend] und hinreichend scharf getrennt. Insofern sind „weder – noch“ und „sowohl – alsauch“ logisch ausgeschlossen. Wir haben eine logisch gültige Alternative. [„Entweder regnet es oder es schneit“ wäre eine „lediglich“ empirisch gültige Alternative, weil logisch gesehen noch andere Möglichkeiten bestehen. Zudem kann es, rein logisch gesehen, zugleich regnen und schneien.]

Die Seeschlacht wird zu einem bestimmten künftigen Zeitpunkt [an wohldefiniertem Ort] stattfinden oder nicht, denn es besteht keine weitere Möglichkeit. Heißt dies nicht zu sagen: „Tertium non datur“? Ja, durchaus. Vollständigkeit und Ausschließlichkeit der Alternative sind gewährleistet. A. präsentiert uns aber das tertium non datur in „peri hermeneias“ in der Form: „Entweder die Bejahung oder die Verneinung ist wahr.“ In dieser Form muss das tertium non datur zurückgewiesen werden, obwohl es keine dritte Möglichkeit gibt. Eines von beiden „wird wahr sein“, aber es ist nicht „bereits jetzt“ eines von beiden „an sich feststehend“ wahr.

Gälte das tertium non datur lediglich in der Form „entweder die Bejahung oder die Verneinung wird wahr sein“, so ließe sich das fiktive Argument für die Determiniertheit des Zukünftigen nicht schmieden. Hierdurch würde der Bereich des Zukünftigen nicht determiniert, sondern nur der Bedingung des logisch Möglichen unterworfen. Lediglich das Konzept der „an sich“ feststehenden Wahrheit „zu jeglicher Zeit“ führt zu diesem sonderbaren Determinismus des Zukünftigen, den Aristoteles uns vorstellt. Die Wendungen „an sich“, „an sich feststehend“, „zu allen Zeiten in seiner Gültigkeit feststehend“ usw. sind erläuternde Zusätze zum schlichten Wahrheitsprädikat [bezüglich hinreichend präzisierter Aussagengehalte] im Sinne von „unabhängig von Entscheidbarkeit“. „Aussagen über zukünftige Ereignisse aber werden wahr und sind es jetzt noch nicht.“ So könnte man die „Intuition“ des A. alltagssprachlich zum Ausdruck bringen. Genau damit hat man das Konzept der „an sich feststehenden Wahrheit“ eingeschränkt. Dieses Konzept gilt nicht für Aussagen bezüglich des Eintritts zukünftiger Ereignisse.

Ein weiterer Gesichtspunkt, der Bedenken an dieser Rekonstruktion des aristotelischen Arguments erregen könnte, ist folgender. Aussagen über vergangene und gegenwärtige Ereignisse betreffen nach heutigem Verständnis ebenfalls „kontingente“, empirische Fakten. Müsste A. nicht also auch in Bezug auf diese Ereignisse das tertium non datur für ungültig erklären, weil nach seinem Argument der Wahrheitsdeterminiertheit aus empirisch-kontingenten Fakten in allen Fällen „bedingt notwendige“ [„an sich feststehende“] Wahrheiten würden.

Tatsächlich ist es die Meinung des A., dass in Bezug auf Gegenwart und Vergangenheit [im Falle einer entsprechenden Alternative] „eines von beiden notwendig wahr“ ist. Eine Stelle aus der Nikomachischen Ethik zeigt dies deutlich:

 

„Übrigens kann niemals ein Vergangenes den Gegenstand einer Entscheidung bilden: niemand nimmt sich vor Troja zerstört zu haben. Man überlegt sich ja nicht, was vergangen ist, sondern was geschehen wird und eine Veränderung zulässt. Das Vergangene aber kann unmöglich nicht geschehen sein. So sagt Agathon mit Recht:

‚Denn dies allein ist auch der Gottheit nicht vergönnt: Vollbrachte Taten ungeschen zu machen.’“ [NE, VI, 1139 b 6 ff.]

 

Der sonderbare Determinismus von “Peri hermeneias”, Kap. 9, der für die Zukunft zurückgewiesen wird, soll also für Gegenwart und Vergangenheit in der Tat gelten. In diesem Sinn gibt es in Gegenwart und Vergangenheit keinen „Zufall“, denn es ist „notwendigerweise“ etwas so oder so tatsächlich gewesen. Das „Zufällige“, das „ebenso gut so sein oder bevorstehen kann wie so“ [Peri hermeneias, 18 b] ist also wesentlich Zukünftiges. Es ist etwas anderes als „das Kontingente“ in unserem modernen Sinn. Wir sagen z. B.: „Etwas anderes, wie tatsächlich geschehen ist, hätte geschehen können.“ Diese kontrafaktische Annahme berechtigt unsere Rede von „Kontingenz“. A. aber hat einen anderen Gesichtpunkt. Obwohl vielleicht hätte etwas anderes geschehen können, wie es tatsächlich geschehen ist, so ist doch „notwendiger Weise“ ein hinreichend genau definiertes Ereignis entweder geschehen oder nicht. Die in unserem Sinne kontingente Wahrheit ist also wahrheitsmäßig in einer Art determiniert, wie es für [partikular] Zukünftiges nicht gilt. Denn hier kann ich nicht sagen, dass der Sachverhalt notwendigerweise entweder so oder so bestehen muss, sondern nur, dass dieses oder jenes notwendiger Weise der Fall sein wird. Kein Teil der Alternative ist bereits jetzt ausgeschlossen. Die Zukünftiges betreffende Alternative ist jetzt noch nicht entschieden. Die Gegenwärtiges und Vergangenes betreffende Alternative aber ist bereits entschieden.

„Hätte anders geschehen können“ besteht zusammen mit: „ist notwendigerweise entweder geschehen oder nicht.“ „Kann so oder so geschehen“ besteht nicht zusammen mit: „ein Teil der Alternative ist in seiner Gültigkeit [Wahrheit, Zutreffendheit o. dgl.] festgelegt.

Vergegenwärtigen wir uns zum Abschluss dieser Betrachtung noch einmal den Gesichtpunkt der Entscheidbarkeit in Wahrheitsfragen. Gegenwärtiges und Vergangenes ist nach A. „an sich feststehend“, Aussagen darüber „an sich“ wahr oder falsch, auch wenn wir in vielen Fällen kein Zeugnis dafür besitzen, was wirklich der Fall war oder ist. Also haben wir auch in diesen Bereichen unentscheidbare Wahrheiten. Dennoch gilt das Konzept, dass es so oder anders [gegenteilig] gewesen sein muss. Die Gegenwart mag Spuren auch der entlegenen Vergangenheit enthalten. Anhand von Zeugnissen und Dokumenten „verifizieren“ wir Aussagen über Gegenwart und Vergangenheit. [Dies gilt nicht nur für naturgesetzliche Aussagen, für die man den Problemkreis der Verifikation und Falsifikation häufig diskutiert hat.] Das Stattgefundenhaben vergangener Ereignisse mag für uns unentscheidbar sein, weil sich keine Spuren davon in der Gegenwart erhalten haben, vom Zukünftigen dagegen können sich keine Spuren in der Gegenwart erhalten haben, denn es hat noch nicht existiert. [Es gibt allerdings Keime zukünftiger Entwicklungen.] Es kann aber keine Zeugnisse, Dokumente und Beobachtungen des Zukünftigen geben, insofern „noch nicht“ von ihm gilt. Es kann eine Prognose, Vorausschau usw. bezüglich des Zukünftigen geben, nicht aber die bestätigende Beobachtung des zukünftigen Einzelereignisses selbst bereits jetzt. Auch wer vieles vorhersieht, beobachtet haben kann er es noch nicht, weil es sich noch nicht ereignet hat.

In diesem Sinne ist A.s scharfsinnige Einschränkung des tertium non datur nichts anderes als der Gesichtspunkt der Offenheit des Zukünftigen, eine „Phänomenologie“ des Noch-nicht. Der entscheidende Unterschied von „noch nicht“ und „nicht mehr“ ist, dass keine Hinterlassenschaften des Zukünftigen in der Gegenwart geben kann. In der Gegenwart mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit ist alles notwendigerweise [wenn hinreichend präzise ausgesagt] auf ja oder nein fixiert. Man hat notwendiger Weise entweder Kopf oder Zahl geworfen [ein typisches Zufallsereignis!]. Für die Zukunft aber stehen beide Teile der Alternative „noch“ unentschieden offen.

[Diese Offenheit der Zukunft ist notwendige, allerdings nicht hinreichende Bedingung dafür, dass wir manches Zukünftige als willentlich beeinflussbar ansehen können. Wäre die Wahrheit von Zukunftsaussagen und somit der Wirklichkeitsbestand des Zukünftigen „an sich“ gegeben und somit von Beginn an „feststehend“, dann wäre die willentliche Herbeiführung einer von alternativen Möglichkeiten illusionär. Das heißt aber nicht, dass jegliches Noch-nicht qua Unentschiedenheit des Zukünftigen in unserem freien Willen steht. Das Zukünftige wird gestaltet in Übereinstimmung mit allerlei unentrinnbaren Zwangsläufigkeiten [„aus Ursachen usw.“]. Die Frage, wovon wir frei sind und wozu, wird hier nicht erhoben. Es geht lediglich darum, dass bei unbeschränkter Gültigkeit einer gewissen Variante des tertium non datur das Phänomen unentschiedener Alternativen generell aufgehoben wäre.]

C. F. v. Weizsäcker beruft sich also zu Recht auf A. als Ahnherrn einer Logik der zeitlichen Aussagen.

Die Problematik des A. ergibt sich m. E. aus dem „phänomenologischen“ Charakter seines Zeitkonzepts. Ein solches Zeitkonzept enthält mehr als objektive Zeitdatierungen objektiver Ereignisse. Es bringt den Gesichtspunkt hinzu, dass die Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht. Gegenwart bedeutet „Jetzigkeit“. Das ist m. E. keine objektive Zeitangabe. Dennoch entscheidet sich anhand des „jetzt“, was nicht mehr, also vergangen, und noch nicht, also zukünftig, ist. Des weiteren ergibt sich auf diese Weise ein Unterschied der „Gegebenheitsweisen“ von Vergangenheit. Gegenwart und Zukunft. Vergangenheit: „nicht mehr“, aber mit Spuren in der Gegenwart, mit Hinterlassenschaften, Dokumenten usw.. Festgelegt und entschieden, „an sich“ wahr [unabhängig, ob anhand entsprechender Daten tatsächlich entscheidbar, aber es könnte zumindest entsprechende Daten geben].

Bestätigende Beobachtungen [zu etwas] sind gebunden an diese subjektive, „phänomenologische Gegenwart“ des Bewusstseins. Und Zukünftiges kann noch niemand bestätigend beobachtet haben, weil es den Charakter des „Jetzt-noch-nicht“ besitzt. Von diesen Dingen kann derjenige nicht mehr reden, der das „Jetzt“ aus seinen Aussagen eliminiert. Damit eliminiert er auch „nicht mehr“ und „noch nicht“. Ihm bleibt ein Zeitkonzept mit Relationen des „früher“, „später“, „gleichzeitig“ usw.. Der Unterschied aber von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entgleitet ihm als gänzlich unartikulierbar.

 

[In der Fiktion von Zeitreisen in die Vergangenheit wird die Vergangenheit wie eine noch unentschiedene Zukunft behandelt. Man könnte z. B. die Geburt seiner Vorfahren verhindern und so letztlich sich selbst samt Zeitreise usw.. In der Fiktion der von Zeitreisen in die Zukunft wird die Zukunft wie eine bereits bestehende Gegenwart behandelt.]

 

[In Diskussionen über Zeitumkehr, rückwärts gewandte Verursachung u. dgl. im Zusammenhang mit modernen kosmologischen Spekulationen sollte man sich bewusst machen, dass die rein physikalische Aussage den Unterschied der „phänomenologischen“ Zeitmodi nicht kennt und kennen kann. Damit entfallen einige Irritationen [auf die man allerdings nicht gerne verzichtet]. Für „früher“, „später“, „gleichzeitig“ muss es rein physikalische Definitionen und objektive Messvorschriften geben [z. B. die Zunahme der „Entropie“ als Kriterium des „später als“]. Dieses Kriterium sollte man in der Folge dann nicht bedarfsweise mit anderen Voraussetzungen über den Richtungsablauf der Zeit ergänzen, sondern konsequenter Weise z. B. sagen: „Die Zunahme der Entropie des Universums bestimmt die Richtung von früher zu später.“ [Es muss sich um das gesamte Universum handeln, weil lokale Entropieabnahme mit dem zweiten Hauptsatz der Wärmelehre zu vereinbaren ist.] Der Unterschied von dem, was „noch nicht“ und dem, was „nicht mehr“ ist, kann bei einem rein objektiven Kriterium der Zeitfolge [von Ereignissen] nicht vorkommen, weil sich Nicht-mehr und Noch-nicht von der Präsenz [Jetzigkeit!] des subjektiven Bewusstseins ableiten.]

 

Nochmals zurück zu Aristoteles Lehre in „Peri hermeneias“, Kapitel 9: Beweist A. die Offenheit der Zukunft, bzw. die Tatsache, dass es eine offene Zukunft gibt? – Vergegenwärtigen wir uns nochmals den Duktus seiner Argumentation! – A. setzt voraus, dass es Beispiele für noch unentschiedene Alternativen in der Zukunft gibt. Sein Beispiel ist die zukünftige Seeschlacht, man könnte auch die zweigliedrige Alternative „Kopf oder Zahl“ im Falle eines zukünftigen Münzwurfs als Beispiel heranziehen. Voraussetzung ist also die Existenz solch unentschiedener Alternativen, bei denen man annimmt, dass das zukünftige Ereignis so oder so ausfallen kann und je nachdem einen der Alternativteile erst in Zukunft „wahr machen wird“. Der sich gegenseitig ausschließende Charakter der Alternativteile sowie die Vollständigkeit der Möglichkeiten wird ebenfalls vorausgesetzt. Beweisziel besteht in der Behauptung, dass die Existenz einer derart aufgefassten Alternative für kontingente Einzelereignisse in der Zukunft eine Einschränkung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten nach sich ziehen muss. Interessanterweise ist die Beweisstrategie indirekt, nämlich eine reductio ad absurdum, die sich selbst auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten gründet. Der Duktus des Arguments ist folgender: Angenommen, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten wäre für kontingente Einzelereignisse der Zukunft gültig, dann gäbe es keine offenen Alternativen, sondern einer der Alternativteile wäre wahr und einer falsch. Die Alternativteile wären auf wahr und falsch „fixiert“ ebenso wie Gegenwart und Vergangenheit.

Die Voraussetzung einer offenen Zukunft hat für A. also größeres Gewicht als das tertium non datur? – Das klingt in unseren Ohren merkwürdig, verliert aber seine Befremdlichkeit, wenn man daran denkt, dass tertium non datur hier nicht lediglich bedeutet „A oder non-A“, sondern „jede Aussage ist entweder wahr oder falsch“. Das tertium datur, das hier eingeschränkt wird, ist das „Bivalenzprinzip“ für wahr und falsch. Dass ein Alternativteil „wahr werden wird“ steht nicht in Frage. Es geht A. also um die gewöhnliche Annahme, dass Alternativen über Gegenwart und Vergangenheit in ihren Teilen „bereits“ auf wahr und falsch fixiert sind, manche Alternativen über Zukünftiges aber „noch“ nicht. Es handelt sich um die Offenheit und das Noch-nicht-geschehen-sein des Zukünftigen im Unterschied zum Geschehen-sein des Vergangenen. Über zukünftiges Geschehen kann es in einer prinzipiellen Weise keine Dokumente geben, wie wir sie für die Vergangenheit besitzen.

 

Zusatz:

 

Auch Wolfgang Stegmüller, den ich sehr schätze, hat über die Stelle aus „Peri hermeneias“ geurteilt. Er schlägt vor, A. so zu deuten, dass das tertium non datur mit unbeschränkter Gültigkeit erhalten bleibe, wie in der Metaphysik anlässlich der Polemik gegen Heraklit und Anaxagoras behauptet. Die beiden Teilaussagen aber in der Zukunftsalternative nehme man am Besten als nicht wahr. Der Vorteil dieser Auffassung bestehe darin, dass man dem A. nicht, wie es die meisten Autoren tun, einen Widerspruch im Gesamtwerk unterstellen müsse, sondern lediglich einen Widerspruch an der betreffenden Stelle. [Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band II, S. 184]

Stegmüller sieht „die einfachste Lösung“ darin, „den aristotelischen Text so zu deuten, dass darin zwei verschiedene Wahrheitsbegriffe verwendet werden“. Der eine sei ein „,abstrakter’, ,zeitloser’, semantischer Begriff.“ „Dieser ist nicht mit einem Zeitindex zu versehen, so dass die Frage, wann eine Aussage wahr sei, als sinnlos zurückgewiesen werden muss.“ Anderseits kommt im Text des A. die Verwendung eines „zeitlich relativierten Wahrheitsbegriffs“ mit in’s Spiel. Die Wendung „bereits zur Zeit t wahr“ hält Stegmüller für nicht recht sinnvoll, es sei denn, man nehme sie im Sinne von „bereits zur Zeit t als wahr gewusst“. Dies sei nicht der semantische, sondern ein „epistemischer“ Begriff der Wahrheit. Er betrifft den Wissensstand bzw. die Wissenssituation des Menschen.

Stegmüller erkennt des weiteren, dass das Problem mit den Zukunftsaussagen mit dem Gebrauch von Indikatorwörtern zusammenhängt. Zukunft heißt ja: „jetzt noch nicht“, und das „jetzt“ ergibt keine objektive Datierung. Handele es sich um objektive Datierungen, dann sei ein Satz über das Stattfinden einer Seeschlacht wahr oder falsch, unabhängig davon, ob am Vorabend richtige oder falsche Vermutungen darüber ausgesprochen worden sind.. Für den ‚epistemischen’ Fall könne dabei durchaus gelten, dass am Vorabend noch niemand wusste, ob es zu einer Seeschlacht kommen werde. Diese „epistemische“ Wahrheit [im Unterschied zur semantischen] sei für die Teilaussagen einer Zukunftsalternative zu verneinen. Das tertium non datur werde also nicht betroffen. [a. a. O., S. 185]. – [Dadurch bleibt eigentlich nichts mehr vom Argumentationsziel des A. übrig.]

Der Vorschlag Stegmüllers hat m. E. einen rabiaten Zug. Ich bin mir nicht sicher, ob S. sich der Konsequenzen in voller Tragweite bewusst gewesen ist. Diese laufen darauf hinaus, den Unterschied zwischen einer noch nicht geschehenen Zukunft und einer bereits geschehenen Vergangenheit völlig aufzugeben. Es erhebt sich die Frage, ob wirklich alle versteckten Zeitindikatoren [„Pseudodatum“] in unseren Wahrheitsbehauptungen durch ein „echtes Datum“ [rein objektive Zeitangabe] ersetzt werden können. Ein „Noch-nicht“ und ein „Nicht-mehr“ kann dann nicht mehr zum Ausdruck gebracht werden. Die Annahme, dass es von der Zukunft im Gegensatz zur Vergangenheit Prognosen, aber keine Dokumente geben kann, wird „sinnlos“. Die Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft wird hinfällig. Jegliches „echte Datum“ wird gleichermaßen zu einem Datum, für das die Teilaussage einer Alternative auf wahr oder falsch fixiert ist. Auch die Rede von ‚zukünftigen’ Beobachtungsbefunden wird obsolet. Die objektive Wissenschaftssprache, für die meisten Bereiche des alltäglichen Lebens ein nicht durchgeführtes Konstruktionsvorhaben und eine bloße Fiktion, soll zum Maßstab für Wirklichkeit und Unwirklichkeit werden. Nur, weil diese Idealsprache den Unterschiede von Gewesenem und Noch-nicht-gewesenem nicht kennt, soll er nichtig sein?. Das Noch-nicht-gewesensein der Zukunft ist kein objektives Faktum, weil es [bzw. seine Formulierung] auf der verkappten Indikation, „noch nicht“ bzw. „jetzt noch nicht“ beruht.

Unter diesen Gesichtspunkten ist das Problem des A. in der Tat als Scheinproblem erledigt. Der Gesichtspunkt der Offenheit der Zukunft wird ebenfalls zu einer Scheinbarkeit. Die Aussage, dass die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerfällt, wird zur Scheinwahrheit. Das ist der Preis, den man für die Behebung des aristotelischen Widerspruchs zu zahlen hat! Die Zeitmodi werden zu etwas Nicht-Objektivem, das in wissenschaftlichen Aussagen nicht wirklich zur Debatte stehen kann.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003