B. Russells Rezension von Ryles: Concept of Mind

 

In Russells "Philosophical Development" findet sich eine Rezension von Ryles "Concept of Mind". Da mir diese Rezension bei der Distanzierung von Ryle sehr geholfen hat, möchte ich kurz darauf hinweisen, wo und wie Russell widerspricht. Zunächst lassen wir G. Ryle (wie es auch Russell tut) noch einmal bezüglich der Ziele seines Vorhabens zu Worte kommen:

 

Eines der negativen Hauptziele dieses Buchs soll der Nachweis sein, daß 'psychisch-geistig' keine fundamentale Statusbezeichnung ist, d.h. daß man bei beliebigen Gegenständen oder Vorgängen eben nicht vernünftigerweise fragen kann, ob diese Gegenstand oder dieser Vorgang etwas Psychisch-Geistiges oder etwas Physisches ist, etwas, das 'im Geiste' existiert oder in 'der Außenwelt'. Wenn man vom 'Inneren' eines Menschen spricht, redet man nicht von einer Art Behälter, in dem man all das unterbringen darf, was nicht in die sogenannte 'Welt der Physik' gehört, sondern man redet von seinen Fähigkeiten, Anfälligkeiten und Neigungen, bestimmte Dinge zu tun oder in bestimmte Situationen hineinzugeraten - und zwar in dieser, unserer ganz gewöhnlichen Alltagswelt. Überhaupt ist es ganz unsinnig, so zu reden, als ob es zwei oder meinetwegen auch elf Welten geben könnte; und es kann nur zu einem hoffnungslosen Durcheinander führen, wenn man anfängt, Welten nach bestimmten Berufen oder Hobbies zu benennen. Philosophisch gesehen ist selbst die feierlich-dunkle Wendung 'die Welt der Physik' witzlos, ebenso witzlos wie 'die Welt der Numismatik', 'die Welt des Herrenausstatters' oder 'die Welt der Botanik'. (Concept of Mind, Vorwort zum 7. Kapitel)

 

Ryles Ansatz steht in der Nachfolge von Wittgensteins Privatsprachenargument: Die gewöhnliche, allgemein zugängliche Alltagswelt ist es, worauf wir uns vermittelst intersubjektiver Prädikate verständigen. Also bestreitet G. Ryle, von Russell zitiert:

 

die "Möglichkeit wesentlich privater Vorgänge, während alle übrigen prinzipiell nichts von ihnen wissen können, es sei denn, daß der Eigentümer dieses strikt privaten Wissens darüber eine entsprechende Mitteilung macht."

Ryle bestreite, "daß es überhaupt Dinge gibt, die man von sich selber weiß, während Dritte nur dann etwas von ihnen wissen können, wenn man sie explizit informiert."

 

Was Ryle uns vorführt, ist linguistisch motivierter Behaviourismus: die Verhaltensdisposition ist einzig mögliche Bedeutung des psychisch-geistigen Prädikats. Strikt private Gegebenheiten sind unmöglich, weil der gemeinsame Nenner intersubjektiver Verständigung keine wesentlich private Wirklichkeit sein kann Kriteriengeleiteter Prädikatengebrauch schließt essentiell subjektive Anwendungskriterien aus, und also bleiben unser Verhalten und unsere Verhaltensdispositionen als Anwendungsfälle der fraglichen Prädikate. Russell spottet:

 

"Bauch- und Zahnschmerzen sind nach Ryle Dinge, die dem Beobachter durch das Ächzen und Stöhnen des Opfers zugänglich werden - was darauf schließen läßt, daß sich unter seinen Freunden und Bekannten keine Stoiker befinden." (S. 258)

 

Insofern Prädikate für Geistig-Psychisches nach Ryle Dispositionen zu beobachtbarem Verhalten bezeichnen, bezeichnen sie Objekte logisch höherer Ordnung als das beobachtbare Verhalten selbst: jemand, der tief und traumlos schläft, kann intelligent genannt werden, wenn er sich unter anderen Umständen intelligent verhalten würde. Ähnlich das Dispositionsprädikat "zerbrechlich": "wenn man eine Glasscheibe zerbrechlich nennt, heißt das nicht, daß sie effektiv zerbrechen wird, sondern daß sie beim Vorliegen bestimmter Umstände zerbrechen würde" (Russell, S. 256 f.) Auch hier ist die Disposition ein Objekt logisch höherer Ordnung, diesmal das Verhalten der Glasscheibe betreffend. - Was Russell nun vermißt, ist die Erklärung dafür, warum wir menschliche Verhaltensdispositionen von Verhaltensdispositionen körperlicher Ding unterscheiden:

 

Mir ist nicht ganz klargeworden, warum Professor Ryle die Adjektive, deren logischer Status mit 'psychisch-geistig vergleichbar ist, nicht auch als psychisch-geistige Prädikate betrachtet."

"Als einfacher Mann von der Straße würde man sagen, daß 'zerbrechlich' eine Verhaltensdisposition von körperlichen Gegenständen kennzeichnet, und 'intelligent' eine psychisch-geistige - faktisch also, daß diese beiden Eigenschaften bei zwei ganz verschiedenen Arten von 'Stoff' anzutreffen sind. Genau das aber kann Professor Ryle nicht sagen; und mir ist nicht klar, auf welche andere Weise er sich hier aus der Affäre ziehen könnte." (S. 257)

 

Russell vermißt also die behaviouristische Abgrenzung für menschenartige und nicht-menschenartige Verhaltensdispositionen, d.h. die verhaltensmäßige Reformulierung für den "Innenaspekt". Es leuchtet mir ein, daß Ryle den Begriff "Verhalten" nicht einfach für "Verhalten von Menschen" reservieren kann, und also ergibt sich das Problem, auf der bloßen Verhaltensebene den Unterschied von menschenartigem, körperartigem und maschinenartigem Verhalten (z.B. auch dem Verhalten einer Turing-Maschine) zu kennzeichnen.

Der zweite schwache Punkt an Ryles Denkansatz ist nach Russell die Bestreitung des strikt privaten Wissens:

 

"Ich will hier nur ein ziemlich naheliegendes Stichwort nennen, nämlich unsere Träume. Abgesehen von einigen einschlägigen Bibelstellen ist man einmütig der Ansicht, daß kein Mensch etwas vom Inhalt der Träume eines andern wissen kann, wenn dieser ihm nicht ausdrücklich davon berichtet." (S. 257)

 

Russell bringt seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß Ryle S. Freud in den höchsten Tönen lobt, "dessen Arbeiten zur Traumdeutung aber mit keinem Wort erwähnt. Russell beanstandet, daß das Stichwort "Träume" im Index des Buches nicht vorkommt. Mir selbst ist eine Stelle gegenwärtig, die ich anführen möchte:

 

"Man weiß nicht, was man träumt, während man träumt, und manchmal ist man nicht sicher, daß man nicht träumt, wenn man wach ist." (Ryle, S. 218)

 

Die Äußerung steht im Kontext der Feststellung, daß es kein Widerspruch sei zu sagen, "daß einer seinen Gemütszustand verkannt habe", was nach der Descartes'schen Konzeption von subjektivem Bewußtsein eigentlich unmöglich ist. - Für Ryle ist es kein Problem, daß Aussagen über die eigene Subjektivität falsch sein können, denn er interpretiert sie als objektive Aussagen über Verhaltensdispositionen. Im Gegenzug ergibt sich für ihn allerdings das Problem, daß es Vorgänge in meinen Sehnerven und meinem Gehirn geben kann, die dazu führen können, daß ich z.B. ein Rotkehlchen zu sehen glaube, ohne daß die Wahrnehmung durch ein wirklich existierendes Rotkehlchen ausgelöst wird. Wenn ich mitteile, was ich zu sehen glaube, behaupte ich nichts über die Außenwelt und kann daher nicht irren. Dies Phänomen dürfte für Ryle ein Problem darstellen. Russell wirft ihm Rückfall in den naiven Realismus vor.

Einschub: Da wir an der privaten Subjektivität des inneren Bewußtseins festhalten, benötigen wir ein Konzept des nur mittelbar Bewußten (Vorbewußtsein, Unbewußtsein u. dgl.), um dem Phänomen der falschen Selbsteinschätzung und falschen Erinnerung gerecht zu werden. Die Erzählung des Trauminhalts, der Assoziationen usw. aber muß letztlich der Analysand dem bewußtseinsfördernden Analytiker liefern. Das Konzept des unmittelbar und wesentlich gegebenen Bewußtseinsinhalts wird m. E. in der psychoanalytischen Praxis nicht aufgegeben.

Auch im Falle von Vorstellungsinhalten, die keine Trauminhalte sind, hält Russell am privilegierten Zugang zu den subjektiven Gegebenheiten fest:

 

"Professor Ryle bestreitet ausdrücklich, daß es so etwas wie rein psychisch-geistige Vorgänge gibt. Im Falle der Wahrnehmung zieht er sich auf den Standpunkt des naiven Realismus zurück: Wenn ich ein Pferd wahrnehme, handelt es sich um das Pferd da draußen auf der Wiese, auf keinen Fall aber um ein irgendwie "geistiges" Pferd. Aber wenn ich mir ein Pferd anschaulich vorstelle, handelt es sich eben nicht um das Pferd da draußen auf der Wiese, und außerdem um einen Vorgang, der etwas anderes ist als das Sich-Vorstellen eines Nilpferdes. Ich selber kann mir eigentlich kaum etwas Einleuchtenderes vorstellen als die Annahme, daß da etwas in mir vorgeht, was niemandem außer mir selbst zugänglich ist, solange ich nicht durch sprachliche Verlautbarungen oder beobachtbares Verhalten zu erkennen gebe, was ich mir in diesem Augenblick vorstelle." (S. 258)

 

Russell selbst möchte nicht zum alten Cartesianischen Dualismus zurückkehren, der dem Phänomen der bezweifelbaren Außenwelt und den subjektiven Wahrnehmungsurteilen von vorn herein gerecht wird. Er weist darauf hin, daß "der Normalmensch denkt ..., daß Gedanken und Ideen etwas sind, was sich in seinem Kopf befindet." Im einleitenden Überblick des Buches (My Philosophical Development) sagt er, es sei ihm durch

 

"analytische Betrachtung der Physik und der Wahrnehmung gelungen, das Problem des Zusammenhangs zwischen Bewußtsein und Materie endgültig zu lösen. Ich muß allerdings zugeben, daß diese, mir befriedigend erscheinende Lösung bisher von niemandem akzeptiert worden ist." (S. 13)

 

Werfen wir einen kurzen Blick auf Russells Lösungsvorschlag. Er stellt (z.B. im zweiten Kapitel des genannten Buches) fest, daß das Licht eines Sterns "am Ende seines Weges durch den Weltraum auf die Netzhaut eines menschlichen Auges auftrifft", eine "Erregung des Sehnervs auslöst, die sich bis ins Gehirn fortpflanzt", und daß das, "was sich daraufhin im Gehirn abspielt, ein optischer Wahrnehmungsvorgang ist." Die körperlichen Vorgänge in Sehnerv und Gehirn erzeugen im Nexus raum-zeitlich lokalisierter objektiver Ereignisse auch mentale Eigenschaften mit der Qualität des unmittelbar und subjektiv Bewußten. Das Gehirn unter dem Mikroskop auf dem Präpariertisch ist nach Russell Bestandteil der materiellen Welt, der mentale Wahrnehmungsinhalt dagegen ist unmittelbares Datum unseres subjektiven Bewußtseins. Er tritt allerdings zeitlich erst auf nach den ins Gehirn führenden objektiven Ereignissen (im Auge und im Sehnerv) und müsse sich deshalb "notwendigerweise im Innern des Gehirns befinden." - Das Subjektive erhält im Gegensatz zum Materiellen den Status des unmittelbar Bekannten ("ohne Zuhilfenahme von Schlußfolgerungen") . In dieser Qualität ist es nicht reduzierbar auf Physisch Tatsächliches, obwohl es in der zeitlichen Ordnung bei Gelegenheit entsprechender körperlicher Geschehnisse in Sehnerv und Gehirn auftritt. - Russells Ansatz scheint mir auf folgendes hinauszulaufen: Er hält an einem Programm der Konstruktion objektiver, lediglich indirekt erkennbarer physischer Sachverhalte aus unmittelbar gegebenen, subjektiven Bewußtseinsinhalten fest und bleibt somit in der Tradition des Humeschen Empirismus.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2007