Eine zweite Art von Subjektivität: das Unbewußte.
Wenden wir uns an dieser
Stelle dem Konzept einer zweiten Art von Subjektivität zu, d.i. der
Subjektivität des Unbewußten. Nachdem wir wissen, daß Descartes Subjektivität
für die sonderbare Art des Gegebenseins nicht-objektivierter Aussageinhalte
steht, fragen wir uns, wozu die Annahme einer weiteren Art des Subjektiven
dienen könnte. Wir lesen eine Passage, die S. Freud 1915 veröffentlichte:
"Die Berechtigung, ein unbewußtes Seelisches anzunehmen und mit dieser Annahme wissenschaftlich zu arbeiten, wird uns von vielen Seiten bestritten. Wir können dagegen anführen, daß die Annahme des Unbewußten notwendig und legitim ist und daß wir für die Existenz des Unbewußten mehrfache Beweise besitzen. Sie ist notwendig, weil die Daten des Bewußtseins in hohem Grade lückenhaft sind; sowohl bei Gesunden als bei Kranken kommen häufig psychische Akte vor, welche zu ihrer Erklärung andere Akte voraussetzen, für die aber das Bewußtsein nicht zeugt. Solche Akte sind nicht nur die Fehlhandlungen und die Träume bei Gesunden, alles, was man psychische Symptome und Zwangserscheinungen heißt, bei Kranken - unsere persönlichste tägliche Erfahrung macht uns mit Einfällen bekannt, deren Herkunft wir nicht kennen, und mit Denkresultaten, deren Ausarbeitung uns verborgen geblieben ist. Alle diese bewußten Akte blieben zusammenhanglos und unverständlich, wenn wir den Anspruch festhalten wollen, daß wir auch alles durchs Bewußtsein erfahren müssen, was an seelischen Akten in uns vorgeht, und ordnen sich in einen aufzeigbaren Zusammenhang ein, wenn wir die erschlossenen unbewußten Akte interpolieren. Gewinn an Sinn und Zusammenhang ist aber ein vollberechtigtes Motiv, das uns über die unmittelbare Erfahrung hinaus führen darf." (Das Unbewußte, Kap. I, Die Rechtfertigung des Unbewußten, 1915)
Was wir aus diesem Zitat
ersehen: das Unbewußt-Subjektive setzt die Descartes'schen Bewußtseinsinhalte
als unmittelbare, subjektiv-innere Gegebenheiten voraus. Zudem aber gilt: die
Annahme eines unbewußt Subjektiven stellt eine über das unbezweifelbare
Gegebensein [subjektiver Bewußtseinsinhalte] hinausgehende Hypothese dar, um
die bewußten Inhalte in einen verständlichen Sinnzusammenhang zu bringen.
Insofern gibt es kein unbewußtes subjektives Bewußtsein (auch kein
'Unterbewußtsein') aber eine unbewußte Subjektivität. Das heißt: subjektiv ist
nicht nur das, "was derart in uns
geschieht, daß wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewußt sind." Subjektiv
ist auch das, was uns hilft, den Sinnzusammenhang bewußter Subjektivität zu rekonstruieren
und verständlich zu machen.
Mir ist eine andere Stelle
gegenwärtig, an der Freud sehr deutlich darauf hinweist, daß seine Forschung
die subjektive Gegebenheit von (bewußten) Bewußtseinsinhalten als Ausgangspunkt
voraussetzt:
"Die Psychoanalyse macht eine Grundvoraussetzung, deren Diskussion philosophischem Denken vorbehalten bleibt, deren Rechtfertigung in ihren Resultaten liegt. Von dem, was wir unsere Psyche (Seelenleben) nennen, ist uns zweierlei bekannt, erstens das körperliche Organ und Schauplatz desselben, das Gehirn (Nervensystem), andererseits unsere Bewußtseinsakte, die unmittelbar gegeben sind und uns durch keinerlei Beschreibung näher gebracht werden können. Alles dazwischen ist uns unbekannt, eine direkte Beziehung zwischen beiden Endpunkten unseres Wissens ist nicht gegeben. Wenn sie bestünde, würde sie höchstens eine genaue Lokalisation der Bewußtseinsvorgänge liefern und für deren Verständnis nichts leisten." (Abriß der Psychoanalyse, 1938, 1. Kapitel)
Freuds begriffliches
Instrumentarium entfaltet sich m. E. innerhalb einer Hermeneutik des
unmittelbar subjektiv Gegebenen, das aus Gründen des Zusammenhangs, der
Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit mit hypothetischen Entitäten ergänzt wird;
und diese hypothetischen Entitäten besitzen zum Teil die Beschaffenheit des
Unbewußt-Subjektiven. Wir stoßen also auf eine Ergänzung bezüglich der
Descartes'schen Tradition, nicht auf eine grundlegende Abkehr davon (wie z.B.
beim späten Wittgenstein). - Das Strukturmodell der Psyche, das Freud in
"Das Ich und das Es" (1923) [die Trias Ich, Es, Über-Ich] einführte,
läuft teilweise quer zur Unterscheidung zwischen "bewußt" und
"unbewußt". Die Unterscheidung bleibt dennoch "einzige Leuchte
im Dunkel der Tiefenpsychologie". (Schlußworte von Kap. I, Das Ich und das
Es)
"Die Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse [...] Nochmals und anders gesagt: Die Psychoanalyse kann das Wesen des Psychischen nicht in's Bewußtsein verlegen, sondern muß´das Bewußtsein als eine Qualität des Psychischen ansehen, die zu anderen Qualitäten hinzukommen oder wegbleiben mag." (Das Ich und das Es, Kap. I)
Der Grund, den Terminus des Unbewußten einzuführen, wird in dieser Schrift auf folgende Weise eingeführt: Es geht um die "Verarbeitung von Erfahrungen, in denen die psychische Dynamik eine Rolle spielt. Wir haben erfahren, daß es starke seelische Vorgänge oder Vorstellungen gibt [...], die alle Folgen für das Seelenleben haben können wie sonstige Vorstellungen, auch solche Folgen, die wiederum als Vorstellungen bewußt werden können, nur werden sie selbst nicht bewußt." (Das Ich und das Es, Kap. I)
Die Existenz unbewußter
Vorstellungen ist eine bedeutende Frage, auch wenn sie nach Descartes in die
Sphäre des nur Bezweifelbaren gehört. Wir glauben heute, nach einem Jahrhundert
der Psychologie des Unbewußten, daß die Mehrzahl unserer Vorstellungen unbewußt
sind; - aber es gibt auch eine lange Tradition des Unbewußten bereits vor
Freund. Leibniz ("les petites perceptiones") und sogar Kant waren von
der Existenz bewußtseinsferner Vorstellungen überzeugt. Kant, Anthropologie §
5:
"Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen; denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind? Diesen Einwurf machte schon Locke, der darum auch das Dasein solcher Art Vorstellungen verwarf. - Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewußt sind. [....] daß gleichsam auf der großen Karte unseres Gemüts nur wenig Stellen illuminiert sind [....] So ist das Feld dunkler Vorstellungen das größte im Menschen."
Die nur mittelbar bewußten
Vorstellungen sind zwar subjektiv gegeben, aber nicht durch Aufmerksamkeit
illuminiert. Kant fährt fort:
"Wir spielen nämlich oft mit dunkelen Vorstellungen und haben ein Interesse beliebte oder unbeliebte Gegenstände vor der Einbildungskraft in Schatten zu stellen; öfter aber noch sind wir selbst ein Spiel dunkeler Vorstellungen, und unser Verstand vermag nicht sich wider die Ungereimtheiten zu retten, in die ihn der Einfluß derselben versetzt, ob er sie gleich als Täuschung anerkennt."
Man kann nach der Lektüre
dieser Passage Kant zu den Vorfahren der Psychoanalyse rechnen, was allerdings
selten gewürdigt wurde. Hinzu kommt ein erstaunlicher Sachverhalt, der nicht so
recht zum Bild paßt, das man vom alten Kant hat: Als einen der Hauptinhalte
unserer dunklen Vorstellungen, einerseits tendenziös verborgen, andererseits
aber auch tendenziös offenbar, gilt ihm der Bereich der Sexualität:
"So ist es mit der Geschlechtsliebe bewandt, so fern sie eigentlich nicht das Wohlwollen, sondern vielmehr den Genuß ihres Gegenstandes beabsichtigt. Wie viel Witz ist nicht von jeher verschwendet worden, einen dünnen Flor über das zu werfen, was zwar beliebt ist, aber doch den Menschen mit der gemeinen Tiergattung in so naher Verwandtschaft sehen läßt, daß die Schamhaftigkeit dadurch aufgefordert wird, und die Ausdrücke in feiner Gesellschaft nicht unverblümt, wenn gleich zum Belächeln durchscheinend genug, hervortreten dürfen. - Die Einbildungskraft mag hier gern im Dunkeln spazieren [...]."
Die Passage ist erstaunlich.
Verlagern wir die kognitive Akzentuierung des Unbewußten von unbewußten
Vorstellungsinhalten auf eher volitiv und emotional subjektive Inhalte, dann
sind wir bei unbewußten Willensregungen und unbewußten Emotionen als besonders
wichtigen subjektiven Gegebenheiten angelangt; - ein psychoanalytisches Konzept
unbewußter Subjektivität.
Texte zur Geistesgeschichte
des Unbewußten vor S. Freud nebst einer lesenswerten Einleitung des
Herausgebers finden sich in dem Sammelband "Dieses wahre inneres Afrika,
Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud", Hrsg. v. Ludger Lütkehaus.
Ich möchte mit den Hinweisen
zur Subjektivität in der psychoanalytischen Theoriebildung nicht zu dem
Mißverständnis Anlaß geben, subjektive Introspektion sei die einzig maßgebliche
Erkenntnisquelle psychoanalytischer Wahrheit. Ich vermute, daß Texte, die sich
konsequent auf die subjektive Äußerung von subjektiven Bewußtseinsinhalten
beschränken, auch für die psychologische Selbsterkenntnis unzureichend sein
würden. Es geht lediglich darum, daß in autobiographischen Erkenntnissen
Bewußt-Subjektives und Unbewußt-Subjektives beteiligt sind. Individuelles
Erleben ist eine kaum restlos entwirrbare Mischung von objektiven Sachverhalten
und subjektivem Bewußtsein.
Darüber hinaus dürfte für
die subjektive Wahrheit autobiographischer Selbsterkenntnis die Gefahr selbst-
und fremdsuggestiver Konstruktionen in sehr hohem Maße bestehen. Kant sieht in
dem Versuch, "die Geschichte des unwillkürlichen Laufs seiner Gedanken und
Gefühle" auszuspähen, die "Gefahr einer "Kopfverwirrung
vermeinter höherer Eingebungen. "[...] unvermerkt machen wir hier
vermeinte Entdeckungen von dem, was wir selbst in uns hineingetragen
haben." (Anthropologie, § 4). Ich wage nicht zu entscheiden, ob diese
Bemerkung am Ende dann doch als skeptischer Vorbehalt gegen psychoanalytische
Erkenntnisansprüche zu lesen ist.
Rein subjektive Inhalte des
Bewußtseins sind nichts, das wir unabhängig vom Einfluß unseres subjektiven
Bewußtsein vorfinden und konstatieren könnten. Eine reine Rezeptivität
unabhängig von persönlichen Vorentscheidungen, interessierten Perspektiven und
ideologischen Konstruktionen ist gerade in der Frage nach dem subjektiven
Inhalt des Subjektiven völlig ausgeschlossen. - Es ist eine spezifische
Mischform subjektiver und objektiver Inhalte, welche die autobiographische
Erzählung lebendig und verständlich macht.
Ich möchte an dieser Stelle
eine Bemerkung zu den Stichworten "Erinnerung" und
"Gedächtnis" einfließen lassen. Ein subjektiver Bewußtseinsinhalt der
Art "es scheint mir, daß es so und so war" reicht nicht aus, um von
Erinnerung und Gedächtnis zu sprechen. Erinnerung und Gedächtnis sind
"Leistungswörter", d.h. sie implizieren, daß etwas tatsächlich so und
so war, ansonsten handelt es sich um Erinnerungs- und Gedächtnistäuschungen.
Selbst die Erinnerung eines Traumes scheint etwas Objektives zu implizieren,
vielleicht die hypothetische Tatsache, daß ich den Trauminhalt genauer hätte
erzählen können, hätte man mich rechtzeitig geweckt. Das Beispiel zeigt, wie
naheliegend es ist, subjektive Bewußtseinsinhalte doch wieder wie objektiv
Gegebenes aufzufassen.
Wenn ich erzähle, was ich
wann geträumt habe, dann verknüpfe ich ebenfalls Subjektives und Objektives:
Die Einordnung des Traumes in eine Zeitfolge von Begebenheiten erfordert es,
neben den subjektive Bewußtseinsinhalten des Geträumten auch objektive
Anknüpfungspunkte anzuführen. Lediglich Descartes Kriterium der subjektiven
Unbezweifelbarkeit führt uns auf eindeutig Subjektives. Die Frage aber, was der
subjektive Bewußtseinsstrom zu welcher Zeit und in welcher Folge an Inhalten
enthält und was nicht, ist aus subjektiver Perspektive allein nicht zu
beantworten. Dies kommt zur Konstruktivität und Perspektivität des Subjektiven
hinzu.
Ein sich selbst
(innerlich-subjektiv) beobachtender Beobachter muß sich auch selbst
zwangsläufig beeinflussen. Es entsteht das Problem einer selbst-referenziellen,
rekursiven Strukur.
Wenden wir uns wieder zurück
zu Descartes!