Warum Subjektivtät und Denken bei Descartes deckungsgleich sind

Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts finden sich mit der Konzeption eo ipso bewußter Subjektivität nur schwer ab, weil man ihnen die Vorstellung vom Denken als unbewußten Akt schon in der Schule vermittelt hat. - S. Freud gab in der Traumdeutung von 1900 den beeindruckenden Hinweis, "daß die kompliziertesten Denkleistungen ohne Mittun des Bewußtseins möglich sind." Für Freud sind Denken, Bewußtsein und Subjektivität nicht deckungsgleich. Es gibt für ihn ein unbewußt Subjektives, was vielen Philosophen vergangener Generationen als contradictio in adjecto ("unbewußte Bewußtseinsinhalte") erschienen wäre.

S. Freud mußte für sein Konzept des Unbewußten schwere Kämpfe ausfechten, J.P. Sartre hat selbst nach Freud das Unbewußte trotz großen Interesses an der psychoanalytischen Psychologie abgelehnt. Durch einen Blick auf Descartes läßt sich leicht nachvollziehen, warum für Descartes die Sphäre der gegebenen Gedankeninhalte mit dem Bereich der bewußten Subjektivität zusammenfiel und warum bei ihm keine unbewußte Subjektivität in das Blickfeld rückte. Gemäß seinem Ansatz ging es um die Unbezweifelbarkeit subjektiv gegebenen Gedankeninhalte und damit allererst einmal um Subjektivität überhaupt im Unterschied zu objektiv Gegebenem. Deshalb sind für ihn die Begriffe des Denkens und des subjektiven Bewußtseins deckungsgleich:

"Unter Denken verstehe ich alles, was derart in uns geschieht, daß wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewußt sind. Deshalb gehört nicht bloß das Einsehen, Wollen, Einbilden, sondern auch das Wahrnehmen hier zum Denken. Denn wenn ich sage: "Ich sehe, oder: ich gehe, also bin ich," und ich dies von dem Sehen oder Gehen, das vermittelst des Körpers erfolgt, verstehe, so ist der Schluß nicht durchaus sicher; denn ich kann glauben, ich sähe oder ginge, obgleich ich die Augen nicht öffne und mich nicht von der Stelle bewege, wie dies in den Träumen oft vorkommt; ja, dies könnte geschehen, ohne daß ich überhaupt einen Körper hätte. Verstehe ich es aber von der Wahrnehmung selbst oder von dem Bewußtsein meines Sehens und Gehens, so ist die Folgerung ganz sicher, weil es dann auf den Geist bezogen wird, der allein wahrnimmt oder denkt, er sähe oder ginge." (Principia, § 9)

Dies ist Descartes Begriff des Denkens: alles, "was derart in uns geschieht, daß wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewußt sind." Das subjektive Denken selbst und seine Inhalte sind gewißheitsfähig im Sinne der Unbezweifelbarkeit des lediglich Subjektiven. Und umgekehrt: subjektiv ist, was gegeben ist im Sinne dieser Unbezweifelbarkeit. [Diese Umkehrung wird von den Verfechtern des subjektiv Unbewußten bestitten.] Descartes führt seinen Begriff von Subjektivität lediglich zu dem Zwecke ein, um uns auf das Gegebensein von Gedanken hinzuweisen, die von jeglichem Objektivitätsanspruch suspendiert wurden. Es handelt sich bei ihm um ein reflexives, subjektives Bewußtsein des Denkens, Wahrnehmens und Empfindens.

Entscheidend für Descartes Argumentation ist die Frage "Bezweifelbar oder nicht?" Daß ich äußere Dinge wahrnehme, ist bezweifelbar, daß ich glaube, äußere Dinge wahrzunehmen, nicht. "Glaubst du jetzt, Menschen auf der Straße zu sehen?", "Siehst du etwas Helles?" ["Glaubst du etwas Helles zu sehen?"], "Hörst du ein Geräusch?" [Glaubst du ein Geräusch zu hören?] solche Fragen können wir mit Sicherheit beantworten, auch wenn wir darauf verzichten zu behaupten, daß entsprechende Ereignisse in der Außenwelt stattfinden. [Die Formulierungen in Klammer sind ungebräuchlich, bringen aber eindeutiger die Tatsache zur Geltung, daß keine Objektivitätsbehauptung impliziert sein soll.] Wir sind uns sozusagen der Gefahr bewußt, daß wir träumen könnten und trotzdem gibt es einen Inhalt unserer inneren Vorstellungen, der sich selbst bezeugt. Im Licht des Bewußtseins stehende Gedankeninhalte erregen im Exerzitium des methodischen Zweifels unsere Aufmerksamkeit. Nach Suspendierung aller Wahrheitsansprüche bezüglich äußerer Gegebenheiten bleiben für sich selbst gegebene subjektive Bewußtseinsinhalte übrig. Damit hat Descartes folgenden Begriff von Subjektivität eingeführt: das wesentlich privat zugängliche Subjektive im Sinne der Unbezweifelbarkeit lediglich subjektiver Bewußtseinsinhalte.