Selbstrasur und Selbsterkenntnis

 

Wer sich selbst rasiert, rasiert nicht sein Selbst. Er rasiert sich selbst. – Er rasiert auch nicht das Selbst.

 

Ein anderes Beispiel: „Der König empfängt selbst den Gesandten.“ – „Das Selbst des Königs empfängt den Ge­sandten.“ – Offensichtlich ist der zweite Satz, als Paraphrase des ersten gedacht, unsinnig. Im ersten Satz dient das Wort „selbst“ wahrscheinlich lediglich dazu, einen Wink [eine Aufmerksamkeitslenkung] zu geben, dass nicht z. B. ein Minister oder hoher Beamter, sondern der König in eigener Person den Gesandten empfing. Dies gilt sogar im Falle der Äußerung in der ersten Person aus dem Mund des Königs selbst: „Ich selbst empfing den Ge­sandten.“ Es bedeutet nicht: „Mein Selbst empfing ....“ sondern „Nicht ein Stellvertreter, sondern ....“

 

Ein anderes Beispiel: „Hier kocht der Chef selbst.“ – Das bedeutet natürlich nicht: „Hier kocht das Selbst des Chefs.“ Und erst recht nicht: „Hier kocht der Chef das Selbst.“ – Das Wort selbst bezeichnet also in vielen Fäl­len weder ein Satzsubjekt noch ein Satzobjekt. Es gibt offenbar ganz andersartige Hinweise, die dadurch be­werkstel­ligt werden.

 

Noch ein anderes Beispiel: ein selbstgebackener Kuchen ist nicht ein Kuchen, den ein oder das Selbst gebacken hat, sondern z. B. der Hausherr selbst, nicht aber ein gewerblicher Bäcker, hat den Kuchen gebacken.

 

Wer sich seiner selbst bewusst ist, ist der sich eines Selbsts bewusst? Wer sich selbst erkennt, erkennt der [s]ein Selbst? Oder sogar das Selbst selbst [„unvermischt“ und „unverfälscht“, sozusagen „in Reinkultur“]? Das Selbst des Selbsts?

Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Die Nominalisierung des Reflexivpronomens führt uns in der Tat auf ganz sonderbare Wege des Denkens. Es ist klar, dass solche Feinhei­ten in philosophischen und religiös-weltanschaulichen Texten zu großen Verwirrungen führen können. Ich wähle ein Beispiel aus fernöstlicher Überlieferung. Ein buddhistischer Text, Strophe 380 des Dhammapada, lautet in einer Übersetzung:

 

„Man selbst ist sein eigner Herr,

man selbst setzt sich das Ziel,

drum bändige man sich selbst wie

ein Pferdehändler edles Ross.“

 

Nun gibt es dazu auch die Übersetzung von K. E. Neumann (1865 – 1915), der das Reflexiv­pronomen [„atman“] durch Nominalisierung zu einer ‚Entität’ besonderer Art [„Atman“] verwandelt:

 

„Das Selbst nur ist des Selbstes Herr,

das Selbst nur ist des Selbstes Hort!

Daher behüte wohl dich selbst,

wie edles Ross der Händler hegt.“

 

Wie ist es nun mit unserer abendländischen, metaphysischen Tradition? Gibt es „Ich“, „Geist“, „Subjekt“ z. B. in der Nachfolge Descartes auch ohne die genannte Sprachverbie­gung, die wir im Falle der Rasur, des Kochens und des Backens so leicht durchschauen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns das Arrangement von D.s Denkübung verge­genwärtigen:

Versuchen wir es zunächst mit einer Beschreibung in der dritten Person Singular: Hans sieht, dass die Sonne scheint und tätigt aufgrund dieser Wahrnehmung die Aussage: „Die Sonne scheint.“ Formulieren wir ‚bewusstseinsorientiert‘: „Er fällt aufgrund der Wahrnehmung X ein Urteil Y“ oder „er qualifiziert aufgrund einer Wahrnehmung einen gedanklichen Inhalt als wahr“. ‚Sprachorientiert‘ formulieren wir: „Er vollzieht aufgrund der Wahrnehmung X die Äußerung Y mit dem Aussageinhalt Z.“

Hans sagt weiterhin: „Ich stelle fest, dass die Sonne scheint.“ Er vollzieht damit einen ge­danklichen Schritt der Reflexion. Er spricht nicht einfach von der Sonne, die scheint. Er spricht ‚metasprachlich’ über einen Aussageinhalt, den er, aufgrund einer Wahrneh­mung, als ‚objektiv gültig’ qualifiziert. – Zur Behauptung setzen wir die [oft weitläufige] Feststellung hinzu, was behauptet wurde und was nicht. Das ist das Verstehensproblem bezüglich des in Frage stehenden Aussageinhaltes. Z. B.: „Ich habe nicht gesagt, dass es bereits Sommer ist, sondern lediglich, dass die Sonne scheint.“

Interessant ist, dass in dieser ‚objektiven’ Reflexion Sachverhalte hervortreten, die in der ‚objektsprachlichen’ Äußerung „die Sonne scheint“ nicht ausgesagt sind. Z. B. die Tatsache, dass der Sprecher existiert und aufgrund einer Wahrnehmung [vermittelst einer syntaktisch und semantisch qualifizierbaren Formulierung] etwas feststellt. Der Versuch, die Wahrneh­mung ‚naturalistisch’, d. h. als empirisch-objektiven Sachverhalt [physiologi­scher oder verhaltensmäßiger Art] aufzufassen, erscheint mir bei dieser Art von Reflexion möglich. Das Wort ‚ich’ in der Wendung „ich stelle fest, dass ...“ bezeichnet bei dieser Lesart, wie in vie­len ande­ren Fällen auch, denjenigen, der spricht, also den Sprecher selbst und nicht ‚das Selbst’ des Spre­chers. Es ist hier jedenfalls eine naheliegende Lesart, „ich“ als „diejenige körperliche Person, die spricht“ aufzufassen. Die Gleichbedeutung, die hier auftritt, wäre al­lerdings eine ‚koex­tensionale‘ Gleichbedeutung.

Frege wies in seinem Aufsatz über „Sinn und Bedeutung“ darauf hin, dass es tautologisch wahr sei, dass der Morgenstern mit dem Morgenstern identisch sei, jedoch lediglich empi­risch-astronomisch wahr, dass Morgenstern und Abendstern derselbe Himmelskörper sind. Im Falle der Ausdrücke „ich“ und „derjenige, der spricht“ haben wir analog zu Freges Beispiel eine lediglich empirische Identität. Dies führt zu der Folgefrage: „Woher eigentlich weiß ich, wenn ich spreche, dass ich derjenige bin, der spricht?“

Es erscheint mir als ungerechtfertigtes Wagnis, dem Wort ‚ich’ ähnlich wie einem Prädikat­wort, z. B. „Pflanze“ ei­nen Inhalt [Intension] und eine Menge von Anwendungsfällen [Be­griffsumfang, Extension] zuzuordnen. Denn das Wort ‚ich’ verhält sich nicht wie ein begriffli­ches Klassifi­kationsprin­zip. Es ist erstens unangebracht, Dinge [„etwas, worüber wir nachden­ken bzw. wovon wir reden“] in Iche und Nicht-Iche einzuteilen. Zweitens: das Wort ‚ich’ ist we­sentlich ein Singular. [In dieser Hinsicht ähnelt es eher einem Namen als einem Begriff.] Ist es z. B. ein besonderer Name, den man nur für sich selbst verwendet? Aus der Unsicherheit her­aus, ob es im Fall des Wortes ‚ich’ Intension und Extension gibt, sage ich: „im Fall X be­zeichnet das Wort ‚ich‘ den körperlichen Sprecher selbst.“. Ich lasse die Frage dahingestellt, woran der Sprecher erkennt, dass er der Sprecher des Gesprochenen ist, und ob im Fall seiner ‚Selbstidentifika­tion’ [falls wir eine Selbstidentifikation für gegeben halten] eine implizite Wahrheitsbehauptung [mit dem Folgebedürfnis einer Verifikation oder Falsifi­kation] vorliegt usw..

Wir sollten jedoch aus folgendem Grund nicht voreilig behaupten, das Wort „ich“ sei syn­onym mit der Wendung: „derjenige der spricht“: Der Aussageinhalt „ich spreche nicht“ ist nicht wider­sprüchlich, was er aber sein würde, wenn er bedeuten würde „derjenige, der spricht, spricht nicht.“ Im „inneren Gespräch“ „der Seele stillschweigend zu sich selbst“, bei Platon [Theaitet, 189e – 190a] eine inte­ressante Defini­tion des Denkens, ist genau dieser Fall denkenden Nicht-Sprechens „gegeben.“ Hier bezeich­net das Wort ‚ich’ denjenigen, bzw. dasjenige, was ‚in der Seele’ ‚mit sich selbst’ sich unter­redet. [Möglicherweise ein Scheinsubjekt einer sonderbaren, objektiv uner­weisli­chen Scheintätigkeit: des ‚originär‘ subjektiven Denkens.]

Im Falle der cartesianischen Denkübung sieht die Sache [genau wegen des Falls des ‚inneren Gesprächs‘] anders aus als im Fall der ‚objektiven’ Reflexion: Aufgrund skeptischer oder kritischer Bedenken [„nur empirische Evidenz“ u. dgl.] fragt sich Hans, ob ihn die Wahr­neh­mung, die er ‚subjektiv’ hat, zur Feststellung des äußeren Sachverhalts berechtigt. [Es kommt zur Gültigkeitsparenthese, Urteilsenthaltung, Husserl spricht von Existenzein­klammerung.] Die Existenz äußerer Sachverhalte erscheint hier generell als problematisier­bar. Unter dieser Bedingung tritt die eigentümliche nicht-objektive Subjektivität des Wahr­neh­mungsbewusst­seins hervor.

Es tritt ebenfalls hervor: eine Fähigkeit der Urteilsenthaltung, eine eigenartige Fähigkeit der Distanzierung bezüglich äußerer Sachverhalte.

Werde ich mir nicht in behauptender, sondern in lediglich erwägender Weise irgendwelcher [urteilsartiger] Aussageinhalte bewusst, spricht man vom „Innewerden“ dieser Denkinhalte. Das Innen dieses Innewerdens ist ein nichtkörperliches Innen, denn darüber, was in meinem Körper vorgeht, soll gemäß der Abstinenzregel [in Bezug auf objektive Gültigkeitsbehauptun­gen] nichts behauptet werden.

Was liegt in der ‚subjektiven’ Wahrnehmung allein für sich selbst genommen? – Diese Frage führt zum Problem des „eigentlichen“ Inhalts der Wahrnehmung, zur Frage des ‚wirklich’ in der Wahrnehmung gegebenen, ‚subjektiven’ Inhalts. Wir setzen diesen Problemkreis hier bei­seite und heben lediglich hervor, dass Hans Behauptungen über äußere Sachverhalte [probe­weise] in Frage stellt [‚problematisiert’] und lediglich den subjektiven Standpunkt bekundet: Er sagt innerlich zu sich selbst: „Mir scheint, dass die Sonne scheint.“ Damit steht keine Be­hauptung zur Debatte. Sprachlich gese­hen kommt es zu einer Subjektivitätsbekun­dung bestimmten Inhalts.

Auch hier wird der Aussageinhalt „die Sonne scheint“ erwogen. Seine Gültigkeit bleibt aller­dings als unbestimmt („problematisch“) aufgestellt. Der Aussageinhalt [„mir scheint, dass die Sonne scheint“] wird als Inhalt meines subjektiven Bewusstseins bekundet. Sprachlich orien­tiert aufgefasst: Der Aussageinhalt wird einerseits als unentschieden [„es sei dahingestellt!“] in sei­ner Gültigkeit („problematisch“) aufgefasst, andererseits ohne behauptenden Gültig­keitsan­spruch als „gegeben“ in meinem subjektivem Bewusstsein bekundet. Wer hier eine „Objekti­vität des Subjektiven“ in’s Spiel bringt, verstößt gegen die Regeln der angekündigten Denk­übung und verkennt die „originäre“ Subjektivität. Diese Art von Subjektivität wird uns lediglich in der ersten Person Singular deutlich erkenntlich [bewusst im Sinne ihrer Denkbar­keit und „tatsächlichen“ subjektiven, d. h. nicht-objektiven Gegebenheit zugleich], da wir bei zweiten und dritten Person sofort auf das Problem einer [äußeren] Erkenntnis des Fremdsub­jektiven stoßen. Nur im Falle der ersten Person gilt: Ohne etwas zu behaupten, werde ich mir irgendwelcher subjektiven Empfindungen und gedankli­cher In­halte bewusst, z. B. dass es mir so vorkommt, als scheine die Sonne. Obwohl sie wahrscheinlich wirklich scheint, soll das objektive Faktum als „unausgemacht“ [„nicht-festgestellt“] dahingestellt sein. Es geht hier um die ‚innere’ Aufmerksam­keit auf das Denk- und Wahrnehmungsbewusstsein selbst.

Die Formulierung „mir scheint, dass ...“ betrachte ich [im Gefolge v. G. Prauss] als Formulie­rung einer Subjektivitätsbekundung der genannten Art. Dabei bleibt dahingestellt, ob der äu­ßere Sachverhalt besteht oder nicht. Der gedachte Sachverhalt der scheinenden Sonne wird dabei aufgefasst als etwas Denkbares und Gedachtes, das sich im Medium des subjektiven Bewusst­seins [als denkbarer Inhalt] manifestiert.

Wir reflektieren also auf das Bewusstsein unserer Wahrnehmungen, Empfindungen u. dgl., wobei wir uns im Urteil über eine bestehende Außenwelt zurückhalten, weil wir darüber gar nicht so genau [völlig „zweifelsfrei“] Bescheid wissen können. Ich bekunde mir selbst in in­nerem Dialog mein subjektives Bewusstsein. „Mir scheint, dass ...“ Dieses subjektive Be­wusstsein hat einen [subjektiven] Inhalt. Daraus wird dann: Mein subjektives Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas Subjektivem. Nicht von etwas äußerlich Wirklichem. Aber immerhin nicht von nichts, sondern von etwas Subjektivem.

Nunmehr kann eine weitere Reflexion erfolgen. Es geht um den Schritt vom subjektiven Be­wusstsein der möglicherweise scheinenden Sonne zu einem Subjekt dieses Subjektivitätsbe­wusstsein. D. Hume verweigerte diesen Schritt mit dem Hinweis, ‚gegeben’ seien immer nur einzelne Wahrnehmungen, niemals aber ein [bzw. das] Subjekt für sich selbst. Können wir diesem Verdikt zustimmen?

Die Aussage „Der Sprecher X vollzieht aufgrund der Wahrnehmung Y die Äußerung mit dem Aussageinhalt Y“ nannten wir eine ‚objektive’ Reflexion. Wir sagten, dass im Falle einer sol­chen ‚objektiven’ Reflexion Sachverhalte in die Aufmerksamkeit geraten, die durch den Aus­sageinhalt Y „die Sonne scheint“ nicht ausgesagt sind. Mit der cartesianischen Denkübung sind wir nun in eine ganz und gar ‚subjektive’ Betrachtung des eigenen Wahrnehmungsbe­wusstseins eingetreten. Wenn hier ebenfalls „Sachverhalte“ hervortreten, die mit dem Aus­sageinhalt „mir scheint, die Sonne scheint“ nicht ausgesagt sind, so können dies gemäß der Regel der Denkübung keine Sachverhalte sein, die objektiv Existierendes betreffen. Welche subjektiven Sachverhalte tre­ten hervor?

Zur subjektiven Empfindung [des eventuell äüßeren Wirklichen] („mir scheint, dass die Sonne ...“) kommt das Bewusstsein der subjekti­ven Empfindung („mir scheint, dass mir ...“) hinzu. Ich bin mir bewusst, dass mir so und so ist. Ohne Bewusstsein der subjektiven Empfin­dung könnten wir kaum über subjektive Empfindungen nachdenken oder reden. Bewusstsein der Empfindung ist eine reflektiertes Bewusstsein besonderer (nämlich subjektiver) Art. Nicht nur, dass ich mir des Habens von Empfindungen bewusst werde, das Bewusstsein darüber, dass die Empfindung mir bewusst wird, kommt hinzu. Bewusstsein des Habens von Bewusst­sein kommt hinzu.

Sprachorientiert betrachtet haben wir in diesem Fall die Subjektivitätsbekundung vor Augen, die wir allerdings auch orientiert an Verhalten und Sprachäußerung analysieren könnten. Die­ser Gesichtspunkt vermag Verwirrung in unsere Betrachtung zu bringen, weil da­mit das Thema der Objektivierung des Subjektiven in den Blickwinkel gerät. Aber wir woll­ten einen anderen Gesichtspunkt verfolgen. Dazu verhilft uns die erneute Erinnerung, dass wir uns der Behauptungen über äußere Wirklichkeit, Gültigkeits­behauptungen usw. probe­weise enthalten wollten. Unter dieser Bedingung hatten wir die ori­ginäre, „nicht-objektive“ Subjektivität entdeckt, deren nichts-behauptender Charakter trotz eines Inhalts [„mir scheint, dass ...] in unsere Aufmerksamkeit geraten ist.

Wir sind uns nunmehr subjektiver Empfindungen bewusst, und wir sind uns des Bewusstsein subjektiver Empfindungen bewusst. Nunmehr bringen wir die Fähigkeit zu solchem Bewusst­sein in’s Spiel. Nicht derart, dass wir diese Fähigkeit kausal oder sonst wie ‚erklärungsmäßig’ beschreiben könnten, sondern weil wir [für uns selbst] einfach darauf hinweisen möchten: Wir besitzen die Fähigkeit zu subjektivem Bewusstsein, und das nehmen wir an, weil wir im cartesianischen Arrangement eine Urteilsenthaltung auszuüben vermögen.

Diese Fähigkeit selbst, und nicht etwa ein darüber hinaus [äußerlich] hinzukommender Träger der Fähig­keit, ist das „eigentliche“ Subjekt unserer persönlichen Subjektivitätszuschreibung. Diese Fä­higkeit entspricht der Ich-Zentrierung all unserer bewussten Empfindungs- und Ge­dan­keninhalte.

An dieser Stelle noch einmal die Stufenleiter unserer Bewusstseinsreihe:

„Ich bin mir der scheinenden Sonne bewusst.“ – Dass die Sonne scheint, ist eine Tatsache. Vom Bestehen dieses objektiven Sachverhalts bin ich aufgrund meiner Wahrnehmung über­zeugt.

„Ich bin mir der (subjektiven) Empfindung der scheinenden Sonne bewusst.“ – „Mir scheint, als ob ...“, mit dem Zusatz, dass dahin gestellt bleibt [ev. bleiben ‚soll’], wie es wirklich ist.

Durch das „soll“ kommt hier zum Ausdruck, dass es eine Sache der [selbstmächtigen] Ent­schließung ist, von der Gültigkeit einer Aussage zumindest probeweise abzusehen, um sie zum Thema einer für und wider sprechenden Erwägung zu machen.

„Ich bin mir des Subjekts meiner Subjektivität bewusst“ Die Abgrenzung [Limitation] von äußeren Sachverhalten führt zur Aussage, dass das Subjekt der Subjektivitätszuschreibung ‚nicht-äußerlich’ ist, also ‚innerlich’ auf eine ‚nicht-räumliche’ Art [„ein unkörperlich-inneres Etwas“].

Hier kommt es zu einer weiteren ‚Limitation’: Ein [das?] Subjekt der Subjektivitätszuschrei­bung wird abgegrenzt („für sich selbst genommen“) von den vielfältig wechselnden Inhalten des subjektiven Bewusstseins. Das Subjekt der Zuschreibung ist nicht gleichzusetzen mit Ge­dan­keninhalt, Empfindung, Emotion, Willensregung o. dgl. sondern wird limitativ von all diesen zuschreib­baren subjektiven Inhalten unterschieden, obwohl man es in reiner Gestalt, allein für sich selbst, nicht vorstellen kann.

Eigenschaften werden gedanklich unterschieden von den Trägern der Eigenschaften. Dasje­nige Etwas, dem eine Eigenschaft zuerkannt wird, wird gedanklich unterschieden von der Eigenschaft, die ihm zuerkannt wird. [„Etwas von etwas.“] Folgendermaßen kommt es im Fall des subjek­tiven Bewusstseins zu einer gedanklichen Unterscheidung vom Subjekt selbst und seinen Subjektivitätsinhalten: Das subjektive Bewusstsein der scheinenden Sonne [in ge­danklicher Ablösung vom objektiven Sachverhalt] wird gedanklich unterschieden vom dem denkbaren Subjekt dieser Subjektivitätszuschreibung. Insofern ergibt sich die Denkfigur der Limitation ein zweites Mal. In der ersten Limitation wird das Subjekt als unkörperlich, im­materiell, nicht-äußerlich be­stimmt, in der zweiten als nicht-zeitlich, nicht-vielfältig, inhalts­los, nicht-individuell. Man kann von einem rein gedanklichen, geistig über-psychischen oder spirituellen Bewusstseins­zentrum sprechen. Es entspricht einer referentiellen Deutung des ‚ich’ im ‚Subjektgebrauch von ich’. Dieser Subjektgebrauch des ‚ich’ zeichnet sich durch eine eigenartige Irrtumsimmunität aus. In der Selbstzuschrei­bung von subjektiven Empfin­dungen kann ich mich nicht irren derart, dass ich mich mit je­mand anderem verwechsele. Ich kann mich auch nicht derart irren, dass ich nicht existiere. ‚Referentiell’ ist diese Deu­tung des ‚ich’ im originär subjektiven Kontext insofern, als hier von ‚etwas’ gesprochen wird, dem ich, als einem Bezugszentrum, Inhalte des Bewussteins, zuschreibe.

 

„Ich bin mir eines Subjekts der Denkbarkeit bewusst.“ Ein Bewusstsein bezüglich der Denk­barkeit des Denkbaren (‚überhaupt’) wird erweckt. Diese Denkbarkeit des Denkbaren über­haupt fällt zusammen mit der „Grenze der Abstraktion“: wovon ich in keinem Falle denken­den Bewusstseins abstrahieren kann. Damit sind wir bei Fichtes Un­ableitbarkeitsaspekt an­gelangt, der für das richtig aufgefasste Ich-Selbst gilt: Es sind nicht ledig­lich die uns bekann­ten Fälle von [im Bewusstsein] gegebenen Gedanken, an denen wir bei detaillierter Durch­musterung den Ich-Bezug entdecken und deshalb das Merkmal „Ich-Be­zug“ reflektierend abstrahieren, sondern wir vermögen prinzipiell und von vornherein zu sa­gen, dass ein denkba­rer Gedanke ohne Bezug auf ein mögliches ‚Ich denke’ nicht möglich [nichts Mögliches] ist. „Möglich“ hier im Sinn von „denkbar“.

Das innere Ich der Subjektivitäts- und Denkbarkeitszuschreibung exis­tiert auf die Weise einer ‚unbedingten’, unableitbaren, einfach vorauszusetzenden Vorausset­zung meines Denkens.

Fichte wendete sich gegen die Rede von einem ‚Selbst’.

 

„Man bedient sich neuerdings ... häufig des Wortes: „Selbst“. Wofern ich richtig ableite, so bedeutet die ganze Familie, zu der dieses Wort gehört z. B. „selbiger“, usw. „derselbe“, usw. eine Beziehung auf ein schon Gesetz­tes: aber schlechthin, inwiefern es durch seinen bloßen Begriff gesetzt ist. Bin ‚ich’ dieses Gesetzte, so wird das Wort gebildet „selbst“. ‚Selbst’ setzt demnach den Begriff vom Ich voraus; und was darin von Absolutheit ge­dacht wird, ist aus diesem Begriffe entlehnt. Im populären Vortrag ist das Wort „Selbst“ vielleicht darum be­quemer, weil es dem dabei doch immer dunkel gedachten Begriffe des Ich überhaupt einen besonderen Nach­druck hinzu­fügt, dessen der gewöhnliche Leser wohl bedürfen mag: im wissenschaftlichen Vortrage musste, scheint es mir, der Begriff durch sein unmittelbares und eigentümliches Zeichen benannt werden.“ [Versuch einer neuen Darstel­lung der Wissenschaftslehre, 1797, SW I, S. 530]

 

Ich meine, dass man in dieser Hinsicht nicht allzu streng sein sollte. Kant hat den Ausdruck „Selbst“ gelegent­lich anstelle von „Ich“ und „Subjekt“ verwendet. Z. B. spricht er B 407 vom Bewusstsein des „bestimmenden“ und „bestimmbaren Selbst“, A364 vom „identischen Selbst“. Oder A 107: „es kann kein stehendes oder bleiben­des Selbst in diesem Flusse innerer Erscheinungen geben.“ Man sieht also, dass die Ausdrücke „Ich“ und „Selbst“ sich bei Kant vertreten, obwohl er eindeutig die Rede vom „Ich“ bevorzugt. Es führen allerdings beide Ausdrücke auf fast endlose Missverständlichkeiten, weil diese Wörter häufig gebrauchte All­tagswörter sind, deren hauptsächli­cher Gebrauch nicht allein der philosophisch intendierten Ver­wendungsweise entspricht. Ein Ausdruck, mit dem wir uns präzise und unmissverständlich äußern könnten, ist nicht zu finden. Deshalb neige ich dazu, immer wieder das Arrangement der cartesianischen Meditation zu vergegenwärtigen: Die Außenwelt existiert, wie die meis­ten glauben, aber man kann am Dasein äußerer Gegenstände probeweise zweifeln und ent­deckt z. B. mit dem Inne­werden der Subjektivität, dass es nicht nur körperliche Phänomene gibt. Auf das reine Ich kommt man dann letz­lich, wenn man darauf reflektiert, wovon man in keinem Falle [denkender Erwägung] abstrahieren kann. Das ist nicht mehr und nicht weniger als die Unhintergehbarkeit des Denkens in jedem Falle von denkender Erwägung.

 

Ein Wörterbuch der deutschen Sprache enthält den Eintrag: „selbst – unbeugsames Demonst­rativpronomen, bezeichnet, dass nichts anderes und nur das gemeint ist, worauf es sich be­zieht, persönlich: er, sie selbst hat das gesagt.“ – Demnach ist Fichtes Beobachtung des Sprachgebrauchs völlig korrekt. Das reine Ich ist also das Ich-Selbst, also das „Nichts-ande­res-als-das-Ich-Selbst. Eine Sache selbst ist die Sache selbst im Unterschied zu anderen Sa­chen, eine Person selbst die Person selbst im Unterschied zu anderen Personen, das Ich-selbst das Ich selbst im Unterschied zu all dem, das ich mir zuspreche, also im Unterschied zu mei­nem Körper, meinen Eigenschaften und auch meinen Empfindungen und Bewusstseinsinhal­ten. Dabei gilt, dass sich ‚lediglich’ [?] in Gedanken das Ich-Selbst von den Inhalten seiner Gedanken zu trennen vermag.

 

Wer sich selbst rasiert, rasiert sein Gesicht. Wer sich seiner Empfindungen und Wahrneh­mungen bewusst ist, ist sich seiner Empfindungen und Wahrnehmungen bewusst. Wer sich der Denkbarkeit des Denkbaren bewusst wird, wir sich eines nicht-körperlich-inneren, über­individuellen Ich-selbst bewusst.

 

Also kann man tatsächlich vom Denken eines [des?] Selbst im Sinne eines genetivus obiecti­vus und nicht nur in adverbialer Weise vom Selbst-Denken sprechen. Bewusstsein und Den­ken nehme ich hier als einerlei und sage: „Ich bin mir meiner selbst bewusst.“ Denken ist re­lational: Denken von etwas als etwas, vermittelst der Prädikation. Von etwas Denkbarem wird etwas [Denkbares] gedacht. Das Ich steht für die Denkbarkeit von etwas Denkbarem [als et­was Denkbares]. Insofern unterscheiden wir Denkbares als Inhalt des Gedachten von der Denkbarkeit des Denkbaren überhaupt, welche das Ich ist. Insofern ist das Ich die Unhinter­gehbarkeit des Denkens selbst. Ich denke nicht immer [an] dasselbe, sondern oft [an] Ver­schiedenes. Aber immer bleibt mir das Dass des Denkens überhaupt erhalten. Somit kann ich mir niemals bewusst sein, dass das Ich nicht existiert. Das mögliche Bewusstsein begleitet alle meine Vorstellungen, bzw.: das Bewusstsein kann alle meine Vorstellungen begleiten. Sogar: „muss können“, da es sich um eine notwendiger Weise bestehende Möglichkeit han­delt. Um ein aus Gründen der Denkbarkeit bestehendes Erfordernis [des Denkens].

Sofern wir denken, können wir nicht nicht denken. Allerdings sind wir uns nicht pausenlos unseres Denkens bewusst. Erst recht nicht des Denkens überhaupt, also der Denkbarkeit von Denkbarem.

 

Um auf Hegel anzuspielen: Denken ist in verschiedener Hinsicht die Einheit von Unter­schiedlichem. Denken von Denkbarem einerseits und Verbindung von Materialien der Denk­barkeit [begriffliche Inhalte, Ausssageinhalte] zu einem einheitlichen Bewusstsein der Art: „So und so ist es damit.“ Dass es sich um Denken von etwas [Denkbarem] handelt, entspricht der Subjekt-Objekt-Relation. Insgesamt ergibt sich die Denkbarkeit von etwas als etwas. In der Redeweise von Subjekt-Objekt entspricht die Form des Bewusstseins dem Subjekt, der Inhalt dem Objekt. Die „Tatsache“, dass das Denken ein Denken ist, entspricht der Form, die andere „Tatsache“, dass es von etwas als [etwas] das Denken ist, dem gedachten Objekt. ‚Dass’ und ‚Was’ des Denkens bilden eine Einheit von Form und Inhalt. Form ist dabei das Bewusstsein überhaupt, Inhalt das gedachte Etwas, welches z. B. begrifflicher Inhalt oder eine Zusammensetzung von begrifflichen Inhalten zu Aussageinhalten darstellt.

 

[Prinzipielle Aussagen über die Denkbarkeit des Denkbaren rechne ich mit Berufung auf Kant zur allgemeinen Logik. Logische Erwägungen sind demnach Denkbarkeitserwägungen. In diesem Sinne spricht Kant von „logischem Bewusstsein“, „logischem Ich“, „logischem Sub­jekt des Bewusstseins“ usw.. Dieser Punkt wird oft übersehen, da man heute unter Logik weit verbreiteter Weise [in der Nachfolge von Frege und Russell] ein syntaktisches Regelwerk für künstliche Sprachen und Zeichensysteme versteht. Bei Kant geht es um logische Bewusst­seinsformen in einem anderen Sinn. Natürlich kann man analog der Rede von Syntax und Semantik (bei Sprachausdrücken) von syntaktischen Formen des Bewusstsein sprechen: For­men der Zusammenfügung von Bewusstseinsinhalten z. B. die Form „etwas von etwas“, oder ein Zusammenfang von Aussageinhalten: „falls X wahr wäre, wäre auch Y wahr“.]

 

Nach dem derzeitigen Stand unserer Betrachtung sind wir mit dem Bewusstsein unseres Denkbewusstseins, also mit dem Nachdenken bezüglich der Denkbarkeit [von Denkbarem] tatsächlich bei dem Bewusstsein eines inneren Ich-Selbst angelangt. Es gibt allerdings zwei schwerwiegende Einwände, die Glanz und Elend dieser Art von Erwägung zeigen:

 

Die Rezeptur unseres Ich-Bewusstseins hieß: Abstrahiere von allem Inhalt des Gedachten und beachte allein die Denkbarkeit aller möglichen Inhalte, also die Denkbarkeit des Denkbaren für sich selbst genommen. Es erhebt sich die Frage, ob dies eine paradoxe Rezeptur darstellt. Man soll etwas denken, das kein Inhalt des Denkens ist. Die Denkbarkeit des Denkbaren für sich selbst. Von allem aber, was ich denke, gilt: das ist denkbarer Inhalt und nicht die Denk­barkeit selbst [dieses Denkbaren].

 

Gedanklich unterscheiden wir das Denken eines Gedankens von seinem Inhalt, das Bewusst­sein ‚überhaupt’ von den vielfältigen, in ihm bewussten Inhalt. Im Zuge dieses Denbarkeits-Denkens set­zen wir voraus, dass die Form des Bewusstseins zu einem Etwas des Bewusst­seins gemacht werden kann. Dadurch ist es uns möglich, darüber nachzudenken.

 

Dies also ist der erste schwerwiegende Einwand: Mit der Rede vom Ich-Selbst als der Form des Bewusstseins machen wir diese Form zu einem Inhalt unseres Denkens, obwohl wir doch von allem Inhalt des Bewusstseins abstrahieren wollten. – Man könnte hier antworten: Dasje­nige wovon man nicht abstrahieren kann, ist eben die Form des Bewusstseins und nicht sein Inhalt. Wenn man davon redet, redet man von einem Inhalt, der eigentlich keiner ist, von et­was, das eigentlich kein etwas ist. Man muss also ein Etwas des Bewusstseins zulassen, das eigentlich kein Etwas ist.

Analog in der Redeweise der Subjekt-Objekt-Relation: Wovon man nicht abstrahieren kann, ist das Subjekt des Bewusstseins und nicht sein Objekt. Wenn man nun vom Subjekt redet, redet man von etwas [also einem Objekt], das kein Objekt ist. Von einem Etwas, das eigent­lich kein Etwas ist. Von einem Nicht-Etwas, von reiner Bewusstseinsleere. Man hat die In­haltslosigkeit des Bewusstseins zum Inhalt. Man entleert das Bewusstsein, man füllt es mit Leere. [Ein esoterisches Thema!]

 

Akzeptiert man, dass die Form des Bewussteins auch zu einem Inhalt des Bewusstseins wer­den kann, bleibt die Frage: Welche Art von Entität kann das Ich-Selbst-Subjekt sein, da man doch von allen Entitäten, auf die man sich denkend beziehen könnte, abstrahieren wollte? Ein Etwas, das kein Etwas ist? Ein Denkbares, das kein denkbares Etwas ist?

 

Sprechen wir über etwas, wenn wir über die Form des Bewusstseins sprechen, und allen ‚In­halt des Bewusstseins’ in Gedanken beiseite setzen? Bleibt etwas, wenn wir von allem ab­strahieren?

 

Kant setzte sich über dieses Bedenken hinweg. Für ihn war das logische Subjekt bereits aus einem anderen Grund, jedenfalls unter naturwissenschaftlichem Gesichtspunkt, eine Illusion. Wegen der Abstraktion von raum-zeitlichem Gegebensein. Er hielt die Raum-Zeit-Struktur der Wirklichkeit für eine unabdingbare Anforderung an ein referentielles [gegenstands- oder inhaltsbezogenes] Bewusstsein. Und davon jedenfalls wurde explizit abstrahiert. Selbst dann, wenn man es für möglich hält, die Form des Bewusstseins zu thematisieren. Also haben wir mit der Form des Bewusstseins zwar ein Ich-Selbst als Denkbarkeit, aber kein sachhaltiges Etwas. Die „Sache“ des Denkens [wenn es um Denkbarkeit überhaupt geht] ist der­art zwar eine denkbare Sache, aber dennoch nichts sachhaltig Wirkliches oder Mögliches. Der Ge­danke an etwas, das völlig unabhängig von raum-zeitlichem Gegebensein existiert, ist der­art zwar der Gedanke von etwas Denkbarem, aber er ist dennoch völlig inhaltslos.

 

Der Raum-Zeit-Bezug ist ‚hintergehbar’, insofern wir von Raum und Zeit tatsächlich mehr und mehr abstra­hieren können. Aber derart abstraktes Denken, wenn es sich letztlich vom Raum-Zeit völlig löst, ist auch völlig inhaltsleer. Ihm fehlt der Gegenstandsbezug, weil wir alternativ zur raum-zeitlichen Wirklichkeit über keine andere Möglichkeit verfügen, unserem Denken Inhalte zu geben, bzw. dieses Denken auf Gegenstände zu beziehen. Es gibt für uns keine Alternative zu raum-zeit-bezogenen Aus­sageinhalten. Wir können unserem Denken [außer den raumzeitlichen Aussageinhalten] keine andere Art von Aussageinhalten zuordnen. – Dies ist der zweite schwerwiegende Einwand gegen die tatsächliche Existenz des reinen Ich-Selbsts.

 

Es gibt verschiedene Arten von nicht-empirischen Denkbarkeiten, und ich halte es an dieser Stelle für hilfreich, darauf hinzuweisen. Das abstrahierende Denkbarkeits-Denken spricht von der „Form“ des Bewusstseins, vom logischen und eventuell vom „transzendentalen“ Subjekt. Vom „transzendentalen“ Subjekt insofern, als wir hier eine nicht-empirische Denkbarkeitsbe­dingung auch für die Erörterung der a-priori-Erkenntnisart berücksichtigen müssen: Falls a-priori-Erkenntnisse möglich sein sollten, müssten sie dieser Art von Anforderung genügen. – Eine weitere nicht-empirische Denkbarkeit wäre ein transzendentes Subjekt, also ein wirkli­cher Gegenstand des nicht-empirischen Ich-Selbst-Bewusstseins, dessen Existenz man sich vielleicht vergewissern könnte. Hier erteilt uns Kant eine Absage mit dem Argument: nicht-räumliche und nicht-zeitliche Gegebenheiten sind zwar Denkbarkeiten, aber inhaltsleere Denkbarkeiten. Er gebraucht hier nicht den Einwand: „weil ihr doch, gemäß Eurer Denkan­weisung, von allem Inhalt abstrahiert habt und überhaupt nichts mehr denken wolltet“, son­dern: „weil ihr gänzlich vom raum-zeitlichen Dasein abstrahiert habt.“ Er konzediert uns die Denkbarkeit der Bewusstseinsform und sagt: „Die inhaltsleere Denkbarkeit von etwas, und sei es die Denkbarkeit des Denkens selbst, reicht nicht aus. Gebt mir einen Bezug!“ – Wir vermeinten nun, wir hätten Bezug genug mit eben der reinen Form, mit der Leere selbst. Ich vermute, dass wir aus dieser Position mit dem Hinweis auf den ersten Einwand heraus getrie­ben werden: Die limitative Denkrezeptur des reinen Subjekts lässt uns nur Etwas, das eigent­lich kein Etwas ist. Jetzt möchten wir es ja doch wieder zu einem richti­gen Etwas komplettie­ren!

 

Im Denken vermag sich mein Denken in einerseits das Denken selbst und in denkbare Inhalte andererseits zu son­dern. Ich spreche z. B. von Inhalten meines Bewusstseins, kann aber nicht sagen, wer oder was es ist, dem ich diese Inhalte zuerkenne. Wer oder was, für sich selbst genommen, rein an sich selbst. Im Ge­danken löse ich das Subjekt von seinen Subjektivitäts­inhalten. Aber es entsteht natürlich der Verdacht, dass ein derart konzipiertes Subjekt im Grunde genommen kein denkbares Etwas sein kann. Etwas als Subjekt denken, heißt zwangsläufig, etwas als etwas denken. Es sollte aber nichts Denkbares von Denkbarem ge­dacht werden, sondern das Denken selbst dieser Denkbarkeiten.

 

Wovon ich mich in meinem Denken loslösen kann, das sind die Inhalte meines Denkens. Diese Loslösung ist Absonderung, Abstraktion, Beiseite-Setzung usw.. Mein Denken ist we­sentlich eine Abstraktionsfähigkeit, gerade weil an ihm eine Form von ihren Inhalte zu unter­scheiden ist. Der Geist vermag sich im Geist vom Geiste zu sondern, kann man sagen. Zum ersten bedeutet Geist dabei Bewusstsein ‚überhaupt’, zum zweiten Bewusstseinsinhalt. Wo­von man letztlich nicht mehr abstrahieren kann, also die letzte Grenze der Abstraktion, wel­che die Grenze von denkbar und undenkbar darstellt, ist das Denken selbst des Denkbaren, also der blutleere Schatten des reinen Ich-Selbsts.

 

Das Ich-Selbst des Denkens ist also gemäß seiner limitativen, ex-negativo Rezeptur allenfalls ein Etwas, das kein Etwas ist. Es ist bereits aus diesem Grund kein vollständiges Etwas. Ein Etwas, das eigentlich kein Etwas ist, wie man mit einer gewissen Verlegenheit feststellen muss. Es ist komplettierungsbedürftig. Es verlangt förmlich nach Materialisierung bzw. Rea­lisiation, um ein richtiges Etwas zu sein. Gemäß der endlos verneinenden und abgrenzenden Rezeptur ist es kein richtiges Etwas: „nicht mein Körper, nicht mein Gehirn, nicht meine subjektives Bewusstsein, nicht meine Gedankeninhalte“ usw.. Hier nun kommen Reflexionen auf die raum-zeitliche Bindung unse­res Gegenstandsbewusstseins hinzu: Es gibt für uns zur raum-zeitlichen Materialisation keine Alternative. Es gibt keine andere Art der Komplettie­rung zu einem richtigen Gegenstand, keine Alternative der Realisation. Raum und Zeit sind alternativlosen Formen, das Etwas, das kein Etwas ist, zu einem richtigen Etwas zu komplet­tieren. Ich-Selbst steht also für die Denkbarkeit des Den­kens überhaupt, Raum und Zeit für die alternativlose Komplettierungsmöglichkeit des Den­kens überhaupt zur Denkbarkeit eines denkbaren Etwas [als etwas].

 

Man kann diesen Gedanken auch so ausdrücken, wie es der junge Wittgenstein im Tractatus getan hat: Das Ich ist keine Teil der Wirklichkeit, sondern die Grenze davon. Eigentlich ist es das, wovon man gar nicht sprechen kann. Durch fortwährende Reflexion darauf, was alles es nicht ist, wird es letztlich erfasst als dasjenige im Bewusstsein, wovon ich nicht abstrahieren kann, sofern ich überhaupt denkende Erwägungen anstelle. Es ist sozusagen die Fiktion der vollendeten Abstraktion, die gedankliche Fiktion der vollendeten Rezeptur des Nichts-mehr-Denkens. Es ist etwas, was im Denken bleibt, wenn wir absolut nichts mehr denken würden. Also wenn wir die abgrenzend verneinende Anweisung „abstrahiere von allem Denkinhalt“ vollendet hätten. Diese vollendete Abstraktion ist natürlich insofern nicht möglich, als wir nicht nur [denkend] nicht nicht denken können, sondern auch [denkend] nicht nichts denken können. – Aber wir vermögen denkend von diesem oder jenem zu abstrahieren. Dasjenige, von dem wir aber auf keinen Fall zu abstrahieren vermögen, nennen wir „Form“, „Subjekt“ oder auch reines Ich-Selbst.

 

Infolge der lediglich negativen, limitativen Denkfigur, welche für das reine Ich-Selbst cha­rakteristisch ist, haben wir den Gedanken des logischen Ich entwickelt, das kein wirkliches Etwas, sondern nur den formalen Gesichtspunkt für ein denkbares Etwas darstellt. Daraus ergibt sich auch, dass wir sowohl die Essenz als auch die Existenz eines außer- oder überem­pirischen Ich-Selbst als unentscheidbar darzustellen müssen. Es fehlte uns ja die Alternative zur raum-zeitlichen Wirklichkeit, um aus dem inhaltsleeren Ich-Selbst ein Etwas des Den­kens, also z. B. ein wirkliches geistiges Wesen zu machen. Wenn ich sage: „So etwas exis­tiert“, rede ich von einer Sache, die ich nicht als etwas denken kann, weil ich doch von allem abstrahieren wollte. Die Sache, um die es geht, kann ich nicht einfach doch wieder zu einem Etwas der Denkbarkeit komplettieren.

 

Es macht weniger Schwierigkeiten zu sagen: „mein Körper“ als „der Körper meiner selbst“. Dennoch macht es Sinn zu fragen: „Wessen Körper?“ -  

 

Sofern wir denken, können wir nicht nicht denken, und wir können nicht nichts denken.

 

Es gibt Klassifikationen des subjektiven Wahrnehmungs-Bewusstseins nach seinen physiolo­gischen Quellen in Seh-, Hör-, Tast-, Geruchs- und Ge­schmacksbewusstsein. Das Zusammen­kommen eines sichtbaren Gegenstandes, physiologischer Sehprozesse und subjektiven Seh­vermögens führt nach dieser Betrachtungsweise zu subjektiven Empfindungen und Empfin­dungsqualitäten gewisser Art, so dass wir, zumindest auf den ersten Blick, fast bedenkenlos von physisch-psychischen bzw. psycho-physischen Kausalverknüpfungen zu sprechen ge­neigt sind. Spricht man z. B. von Seh-Bewusstsein, bzw. von Bewusstsein von Ge­sehenem, bedeu­tet das, eine Verknüpfung oder Korrelation physiologisch-psychischer Art vorzuneh­men. Ein Glied dieser Verknüpfung ist dabei die angenommene objektive Tatsache des phy­siologischen Augenreizes, ein anderes der innewerdende subjektive Bewusstseinsin­halt, für welchen es [letztlich] keine hinreichenden [objektiven] Kriterien der [objektiven] Existenz gibt oder ge­ben kann.

Wenn wir über die Korrelation von objektive und subjektiv Gegebenem nachdenken, wird uns eine Art von Hiatus [Sprung] auffallen, bzw. ein gewisser Grad von Unabhängigkeit und Ab­lösbarkeit der beiden voneinander. Experimente bezüglich subjektiver Wahrnehmungstäu­schungen, auch Experimente bezüglich subjektiver Empfindungslosigkeiten trotz der für rele­vant gehaltenen objektiven Gegebenheiten und umgekehrt bezüglich subjektiven Empfindens ohne die für relevant gehaltenen objektiven Gegebenheiten legen uns dies nahe. Diese Los­lösbarkeiten [u. a.] des subjektiven vom Objektiven [unter geeigneten Bedingungen] führen zu verschiedenen Entwürfen bezüglichen des Zusammen von Körper und Geist bei der menschlichen Natur.

Die Art dieser Korrelation ist Thema des Körper-Geist-Problems. Die Relation des Zusam­menspiels von Körper und Geist eines Menschen wird z. B. vorgestellt entweder als psycho-physische Wechselwirkung [Descartes], als psycho-physischer Parallelismus [Leibniz], als Epiphäno­menalismus [Bewusstsein als folgenloses und Begleiterscheinung physiologischer Prozesse] [T. H. Huxley] usw.. Ich vermute, dass wir, sofern wir den Gedanken der inneren Ablösung, bzw. der Ablösbarkeit unter geeigneten Bedingungen] verfolgen, dieses Zusam­menspiel letztlich nicht begreifen oder erklären, sondern lediglich konstatieren können. – Mit innerer Ablösung meine ich auch die „Tatsache“, dass der reflektierende Mensch „im Geist den Geist vom Körper lösen kann.“ Man kann die Vorstellungen über das Zusammenspiel von Körper und Geist präzisieren bis hin z. B. zur Aussschüttung von bestimmten Neurotransmit­tern an irgendwelchen Synapsen des Nervensystems im Zusammenhang mit bestimmten kundgegebenen subjektiven Empfindungen. Letztlich wird der Übergang vom Objektiven zum Subjektiven [und umgekehrt] dem Verständnis nicht nähergebracht durch die Zurückfüh­rung auf einen ganz anderen, z. B. rein objektiven Zusammenhang, sondern in seiner sonder­bar, hybriden „Gegebenheit“ einfach vorausgesetzt.

 

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003/04