Exkurs: Arthur Schopenhauers Metaphysik auf introspektiver Grundlage

 

Für Arthur Schopenhauer ist Introspektion eine legitime Erkenntnisquelle, die Innenperspektive des Bewußtseins ist ihm Ausgangspunkt seines philosophischen Entwurfs. Er ist fest überzeugt von der Existenz subjektiver Bewußtseinsinhalte. Aber während Descartes in methodischem Zweifel subjektive Denkinhalte und ein essentiell denkendes Subjekt entdeckt, verspürt Schopenhauer den Drang der Leidenschaft und die Glut der Affekte. Infolgedessen entdeckt er im Gegensatz zu Descartes den nicht essentiell bewussten Willen. Schopenhauer sagt: in uns allen wohnt ein leidenschaftlicher, affektvoller und ewig unbefriedigter Wille. - [Das ist im Prinzip die Formel für das Unheil der Welt: Normalzustand ist, daß sie im Argen liegt.] - Der Wille ist unbewusst; - jedenfalls nicht wesentlich bewußt. Bewusstsein, meist tendenziös interessiert, wenig distanziert und wenig objektiv, dient dem blinden Zweck des dunklen Willens als Werkzeug. ..., heißt das später bei S. Freud. Der Wille selbst ist ein nachhaltiges, kaum zügelbares Streben nach Dasein, Selbsterhaltung, Wohlsein, Geltung, Macht; - und ganz besonders: Fortpflanzung. - [Sexuelle Lust, heißt es irgendwo, von Schopenhauer selbst aus mir unbekannter Quelle zitiert, sei das Handgeld des Teufels; - und die Welt sein Reich.]

 

Nun ein Zitat in der für Schopenhauer typischen, prägnanten Diktion:

 

Kants Satz: das Ich denke muß alle unsere Vorstellungen begleiten", ist unzureichend: denn das Ich ist eine unbekannte Größe, d.h. sich selber ein Geheimnis. - Das, was dem Bewußtsein Einheit und Zusammenhang gibt, indem es, durchgehend durch dessen sämtliche Vorstellungen, seine Unterlage, sein bleibender Träger ist, kann nicht selbst durch das Bewußtsein bedingt, mithin keine Vorstellung sein: vielmehr muß es das Prius des Bewußtseins und die Wurzel des Baumes sein, davon jenes die Frucht ist. Dieses, sage ich, ist der Wille: er allein ist unwandelbar und schlechthin identisch, und hat, zu seinen Zwecken, das Bewußtsein hervorgebracht. Daher ist auch er es, welcher ihm Einheit gibt und alle Vorstellungen und Gedanken desselben zusammenhält, gleichsam als durchgehender Grundbaß sie begleitend. Ohne ihn hätte der Intellekt nicht mehr Einheit des Bewußtseins, als ein Spiegel, in welchem sich sukzessiv bald dieses und jenes darstellt, ... .Nun aber ist der Wille allein das Beharrende und Unveränderliche im Bewußtsein. Er ist es, welcher alle Gedanken und Vorstellungen, als Mittel zu seinen Zwecken, zusammenhält, sie mit der Farbe seines Charakters, seiner Stimmung und seines Interesse tingiert, die Aufmerksamkeit beherrscht und den Faden der Motive, deren Einfluß auch Gedächtnis und Ideenassoziation zuletzt in Tätigkeit setzt, in der Hand hält: von ihm ist im Grunde die Rede, so oft 'Ich' in einem Urteil vorkommt. Er also ist der wahre und letzte Einheitspunkt des Bewußtseins und das Band aller Funktionen und Akte desselben: er gehört aber nicht selbst zum Intellekt, sondern ist nur dessen Wurzel, Ursprung und Beherrscher." (Welt als Wille und Vorstellung, Band II, Kap. 15, Von den wesentlichen Unvollkommenheiten des Intellekts)

 

Es lohnt sich, die Brücke zu Descartes zu schlagen, denn Descartes erkennt an: die Willensphänomene sind Arten des subjektiven Bewußtseins. [Descartes hat lediglich ein Problem mit unbewußten Arten des Bewußtseins; - im Kontext des Unbezweifelbarkeitsansatzes.]

 

"Alle Bewußtseinsarten lassen sich nämlich auf zwei zurückführen; die eine enthält das Vorstellen (perceptio) oder die Wirksamkeit des Verstandes, die andere das Wollen (volitio) oder die Wirksamkeit des Willens. Das Wahrnehmen, das Einbilden und das reine Denken sind nur verschiedene Arten des Vorstellens, und das Begehren, Ablehnen, Behaupten, Verneinen und Zweifeln sind verschiedene Arten des Wollens." (Descartes, Principiae, § 32)

 

Der Gegensatz von Wille und Vorstellung fällt also in den Bereich des subjektiv Gegebenen und damit für Descartes unter die Bezeichnung "Denken". Damit auch: "einem denkenden Subjekt inhärierend." Es sind im Grunde genommen nur wenige, aber entscheidende Schritte, in der Schopenhauers Betrachtung des Subjektiven von der des Descartes abweicht. Sie betreffen die Akzentuierung des Volitiven (im Gegensatz zum Kognitiven) und die Einführung des (subjektiv) Unbewußten (im Gegensatz zum subjektiv Bewußten): es gibt nicht nur die unmittelbar bewußten Denkinhalte, zu denen auch bewußte Willensstrebungen gehören, sondern hauptsächlich enthält die Sphäre des subjektiv Gegebenen unbewußte Willensimpulse. Setzen wir gleich "unbewußt" mit "mittelbar bewußt", wird die Sache höchst plausibel: Wir sind uns unserer Zwecke und Motive nur selten und auf unzuverlässige Weise bewußt. Subjektiv bewußte Inhalte des subjektiven Bewußtseins werden damit zum Anhängsel eines subjektiv innerlich gegebenen unbewußten Willens.

Schopenhauer folgt also Descartes bezüglich Subjektivität und Subjektbezug der Bewußtseinsinhalte. Darüber hinaus folgt er sogar bezüglich Substantialität des Subjekts: denn er folgert den Willen als metaphysische Entität. [Subjektivität ist demnach die Erscheinung des Wesentlichen (Ding an sich) in einer rein innerlichen Zeitordnung.] Bei Descartes haben wir die denkende Substanz als ens metaphysicum, bei Schopenhauer den unbewußten (mittelbar bewußten) Willen. Nach Kant ist beides gleichermaßen "Schwärmerei": denkbare Entitäten außerhalb der erkenntnismäßig erforderlichen Raum-Zeit-Ordnung werden zu erkennbarer Wirklichkeit hypostasiert.