Erkenntnistheoretischer Materialismus
Erkenntnistheoretischer Materialismus besteht in der
These, dass alles, was es gibt, und alles, was geschieht, letztlich auf
materiell Wirkliches zurückführbar ist. Dieser Standpunkt beinhaltet im Grunde
genommen ein Forschungsvorhaben: Alles soll "erklärt" werden durch
Rekurs auf materiell Wirkliches, alles soll letztlich „zurückgeführt“ werden
auf materiell Wirkliches. Die These des Materialismus besteht nun in der
entsprechenden Erklärbarkeits- bzw. Reduzierbarkeitsbehauptung: letztlich sei
alles, was ist, nichts anderes als das Dasein eines physisch Wirklichen in der
raum-zeitlich ausgebreiteten Welt. (Raum und Zeit sind demnach empirisch
erkennbare Daseinsformen des Materiellen.) Der Standpunkt kann auch als Physikalismus
bezeichnet werden, denn das materiell Wirkliche und das physisch (körperlich)
Wirkliche ist dasselbe. Physik (in einer allgemeinen Wortbedeutung) wäre die
entsprechende Wissenschaft von der materiellen, körperlichen Wirklichkeit, die
uns umgibt. Die physische Wirklichkeit ist äußere Wirklichkeit. Auch die
Wirklichkeit im Innern unseres Körpers muss zu dieser räumlich ausgebreiteten
Wirklichkeit gerechnet werden. Es ist ein komparatives Innen bezüglich einer
räumlichen Grenze, die durch unsere Haut gebildet wird.
Statt „Materialismus“ und „Physikalismus“ kann man auch „Naturalismus“ sagen. Es ist die These, dass es ausschließlich natürliche Dinge gibt, welche wir durch Experiment und Beobachtung kennen lernen. Strukturen nicht-empirischer Art, die man lediglich voraussetzen und nicht erklären kann, sind dabei nicht vorgesehen. Besonders Phänomene wie „Geist“ und „Bewusstsein“ sollen in der Gesamtheit der natürlichen Dinge mit eingeschlossen werden. Die Gesamtheit der entsprechenden Forschungsvorhaben wäre ein Programm namens „Naturalisierung des Bewusstseins“. [Eine naturalistisch-konventionalistische Auffassung von Logik, Mathematik und eventuell anderer „prinzipieller“ Erkenntnis- und Wissensformen muss vermutlich ergänzend hinzukommen.] Eine empirische Naturwissenschaft des Bewusstseins gibt es bereits in nennenswerten Ansätzen z. B. unter dem Titel „Hirnforschung“. Auch scharfsinnige Experimente zum Thema „Aufmerksamkeit“, „Blindsehen“, „Erinnerung“ usw. [B. Libet, E. Pöppel u.a.] liegen vor.
Der materialistische Standpunkt klingt zunächst sehr
vernünftig. Oft wurde behauptet, erkenntnistheoretischer Materialmus sei schon
immer die Grundüberzeugung unvoreingenommener Naturforscher gewesen.
Vielleicht ist dies wahr. Es liegt uns allen sehr nahe, nur physisch Wirkliches
als effektiv Wirkliches anzusehen. Handgreiflich Wirkliches erscheint uns
bisweilen als das Muster des wirklich Existierenden. Erst später bemerken wir,
dass wir sehr viel von abstrakten Sachverhalten sprechen: z.B. von logischen
Gesetzen, von Zahlen und dgl.. Die Zahl 2 z.B. ist
kein körperliches Ding, sondern Isomorphieeigenschaft von Paarklassen aller
Art: Menge der Marsmonde, Anzahl der Dioskuren und aller anderen Zwillinge,
Eigenschaft aller Mengen von Dingen, die genau zwei Elemente besitzen. Bei
diesen abstrakten Entitäten und entsprechenden Aussagen bezüglich dieser
Abstrakta wird die Frage ernst, ob wir letztlich wirklich immer nur von
physisch Realem und dem darauf Zurückführbaren reden. - Auch die Existenz ausdehnungsloser
Raum-Zeit-Punkte, idealer Kreise und ganz besonders logischer Gesetze
korrekter Argumentation ist heikel; .- aber wir reden
davon.
Kants epochemachender Ansatz war eine Theorie über nicht-empirische Bestandteile menschlichen Erkennens. Er sprach von Begriffen und Erkenntnissen a priori. Eine Pointe seiner Überlegungen bestand darin aufzuzeigen, dass nicht-empirische Begriffe und Strukturen [z. B. auch Raum und Zeit] Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung „überhaupt“ betreffen und genau deshalb gerechtfertigt sind. Nicht aber über „das Ganze der möglichen Erfahrung“ hinaus zum Zwecke einer nicht-empirischen Erkenntnis nicht-empirisch transzendenter Sachverhalte. Wir können also wissen, dass wir in bestimmten, sogar zu nennenden nicht-empirischen Angelegenheiten nichts wissen können. Unser Denken geht über den Bereich entscheidbarer Wissensangelegenheiten hinaus. In seinem Denken und Fragen geht der Mensch über den Bereich des wissensmäßig Entscheidbaren hinaus und entwickelt z. B. Begriffe von Totalitäten wie dem großen Ganzen des Denkbaren überhaupt [Gott] oder dem großen Ganzen der erfahrbaren Wirklichkeit [Welt] mit entsprechenden spekulativen Folgefragen.
In der Frage des subjektiven Bewusstseins wird der erkenntnistheoretische Materialist behaupten, dass auch
die Subjektivität des Bewusstseins eine Daseinsform des materiell Wirklichen
darstellt. Die Befähigung zu subjektivem Bewusstsein könnte z.B. ein Produkt
der Evolution sein. Die Evolution hat uns hervorgebracht mit der Befähigung,
interne Modelle von uns selbst und von der uns umgebenden Wirklichkeit zu
entwerfen. Diese Fähigkeit befähigt uns zum Probe-Handeln, zu einem von der
Wirklichkeit „abgelöstem“ Handeln in Gedanken, zum Innehalten von
Handlungsimpulsen usw.. - Der Mensch mit seinem
Bewusstsein wurde nach dieser Auffassung in natürlicher Evolution erzeugt und
erkennt gewisse Zusammenhänge in der ihn umgebenden Wirklichkeit. Das könnte
eine Antwort sein auf die Frage Goethes: "Ob nicht Natur zuletzt sich
selbst ergründe?"
Es gibt nun einen Punkt, wo die Erklärbarkeits- und
Reduzierbarkeitsbehauptungen bezüglich unseres Subjektivitätsbewusstseins mit
Sicherheit scheitern: Die Eigenschaft "unmittelbares Gegebensein",
welche dem lediglich subjektiven Dafürhalten von etwas zukommt. Wir sind uns
des Subjektiven unmittelbar bewusst, wir werden subjektiver Bewusstseinsinhalte
inne, ohne irgendwelche objektiven Behauptungen tätigen zu müssen. Unmittelbar
heißt: unbezweifelbar für mich selbst, auf eine spezifische Weise unbestreitbar
für andere. Das Subjektive geschieht derart in uns, "dass wir uns seiner
unmittelbar bewusst sind." So Descartes.
Die „Unmittelbarkeit“ des subjektiven Bewusstseins
steht in Gegensatz zur „Mittelbarkeit“ objektiven Fürwahrhaltens.
Das bedeutet, dass ich z.B. vermittelst subjektiven
Wahrnehmungen zu Aussagen über objektive Tatsachen gelange. In der Praxis ist
es ein Problem subjektive und objektive Aussage- und Bewusstseinsinhalte
begrifflich scharf zu unterscheiden. Es ist die Rezeptur der cartesianischen Medition mit völliger Urteilsenthaltung bezüglich äußerer
Geschehnisse, welche diese Unterscheidung rechtfertigt.
„Unmittelbarkeit des Bewusstseins“ gilt zumindest
für einen Teil des Subjektiven. Das unbewusst Subjektive muss auf eine
komplizierte Art als potentiell Bewusstes in’s Spiel gebracht werden. Ich
halte dafür, dass uns nur ein kleiner Teil des Subjektiven effektiv bewusst
ist. Oft merkt man z. B. im Nachhinein, dass man von einer Sache mehr
mitbekommen hat, als man in der Situation mit Bewusstsein beachtete. Wir sehen
und hören mehr, als wir sagen können. Nur ein kleiner Teil dessen, was wir irgendwie
mitbekommen, ist uns effektiv subjektiv bewusst. Noch schlimmer steht es um das
Bewusstsein der Handlungsmotive.
Das Subjektiv-Bewusste steht in Gegensatz zum nicht
zweifelsfrei, sondern hypothetisch Erkennbaren der physischen Realität.
Insofern kann uns das Subjektive durch eine materialistische Erklärung „nicht
näher gebracht werden.“ [S. Freud zu Beginn seines „Abrisses“] Diese
"Erklärung" würde es zu etwas machen, das nicht unmittelbar bewusst
ist, d.i. zu etwas Objektivem, bzw. zu einer Eigenschaft höherer Ordnung des
objektiv Gegebenen. Notwendiges und hinreichendes "Kriterium" des
Subjektiven in seiner Gegebenheit ist aber das bloße Dafürhalten selbst. Im
Unterschied zu allem Fürwahrhalten, welches objektive
Sachverhalte betrifft.
In der Logik stehen wir vor dem Problem, dass wir
logische Notwendigkeit nicht auf Erfahrung und Experiment gründen können. Wir
müssen vielmehr logische Regeln der Erkenntnis voraussetzen, um Erfahrung zu
vollziehen.
In der Mathematik stehen wir vor dem Problem, dass
wir die Evident mathematischer Sachverhalte nicht auf
Erfahrung und Experiment gründen können. Wieder ist es der mehr oder weniger
hypothetische Charakter des Erfahrungswissens, der uns vor einem
materialistischen Empirismus des Mathematik
zurückschrecken lässt. - Aus einem Bimssteins ("ex pumice
aquam") werdet ihr kein Wasser pressen, lehrte
Kant. – Wir folgen allerdings nicht der Berufung Kants auf die Mathematik als
Beispiel für Apriori-Erkenntnis, weil es Deutungen
des Mathematischen als „Spiel nach Regeln“ gibt, wonach mathematische Aussagen
keine Wahrheiten darstellen. Sie sind z. B. interpretations- bzw. zuordnungsbedürftiger,
formeller Kalkül.
Analog steht es nun in der Frage der Subjektivität.
Hier ist es die spezifische Art von Unbestreitbarkeit des Gegebensein,
die „Unmittelbarkeit“, der spezifisch subjektive Bewusstseinsmodus, der sich
der Reduktion widersetzt. Es gibt für das Subjektive zwar keinerlei logische
oder mathematische Evidenz, sondern lediglich die assertorische
Evidenz der inneren Wahrnehmung. Diese Art von Evidenz aber gibt es nicht für
die Erkenntnis der äusseren Wirklichkeit. Insofern
würde uns eine Erklärung des Subjektiven aus physischen Ursachen dessen
Unmittelbarkeit (des Gegebenseins) nicht „näherbringen“.
Das alles schließt natürlich nicht aus, an einer
naturwissenschaftlichen Theorie des Bewusstseins zu arbeiten. Th. Metzinger
formuliert z.B.:
"Wir sind natürlich
entstandene Informationsverarbeitungssysteme, die durch eine Millionen von
Jahren dauernde Evolution konfiguriert und optimiert wurden."
Einen solchen Satz akzeptiere ich. Aber er stellt
keine Erklärung, sondern eine Erklärbarkeitsbehauptung dar. Und zwar: notum per ignotum. – Genauer
genommen sogar: Ignotum per ignotum.
Was Bewusstsein, Aufmerksamkeit usw. objektiv ist, wissen wir nämlich nicht.
Es sollte uns klar sein, dass wir hiermit aus dem
Begriff "Bewusstsein" den Begriff einer objektivierbaren Fähigkeit
(von Organismen) gemacht haben, von der wir hypothetischer Weise annehmen, sie
sei objektives Korrelat bzw. materielle Basis unserer subjektiven Bewusstseins.
Das wird Descartes Ansatz natürlich nicht gerecht.
G. Roth schreibt interessanter Weise:
„Geist und Bewusstsein vollziehen
sich innerhalb bekannter physiologischer. Physikalischer und chemischer
Gesetzmäßigkeiten, sie fügen sich in das Naturgeschehen ein, sprengen es
nicht. ... Dies alles bedeutet nicht, als könne die Hirnforschung Geist und
Bewusstsein vollständig erklären. Sie kann angeben, unter welchen anatomischen
und physiologischen Bedingungen im gehirn geistige,
von Bewusstsein begleitete Zustände entstehen, die wir dann subjektiv als
solche erleben. Natürlich kann die Hirnfoschung auch
plausibel machen, warum die Tätigkeit unterschiedlicher Teile des Gehirns zu
unterschiedlichen geistigen Inhalten und Bewusstseinszuständen führt, z.B. zu
bestimmten Wahrnehmungserlebnissen, Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen und
Gefühlen. All dies kann die Hirnforschung aber nur leisten, indem sie
neuronale Geschehnisse mit subjektiven Erlebniszuständen in Verbindung
bringt.“ [SWR2 Aula, Das Ich auf dem Prüfstand – Die Hirnforschung und ihre
sicht vom Menschen, Prof. Gerhard Roth, Sendung vom 10. Juni 2004]
Es ist also im Falle von G. Roth nicht so, dass er
die völlige Objektivierung des subjektiv Bewussten propagiert. Vielmehr
befinden wir uns im Beriech einer Korrelationsforschung bezüglich subjektiv
Bewusstem und objektiv Gegebenen, welche mit zeitgemäßen technischen Mitteln
[wie z. B. „PET“ – Positronenemissions-Tomographie]
operiert.
Die subjektive Präsenz unmittelbarer
Bewusstseinsinhalte entdeckt die erste Person Singularis
jeweils "in" ("an") sich selbst, wenn sie die
cartesianische Reflexion auf die Unbezweifelbarkeit gegebener
Bewusstseinsinhalte vollzieht.
Wenn ich von der „Unbezweifelbarkeit“,
„Unbestreitbarkeit“ oder „Unmittelbarkeit“ des subjektiv Bewussten rede, so
birgt das die Gefahr eines Missverständnisses. Ich möchte nicht den Standpunkt
vertreten, einzelne Inhalte des subjektiven Bewusstseins seien inhaltlich
eindeutig bestimmt und in ihrem subjektiven Gegebensein inhaltlich
zweifelsfrei feststellbar. Es geht lediglich um folgendes: Wenn ich glaube, die
Sonne zu sehen und es dabei unausgemacht und
dahingestellt sein lasse, ob sie objektiv gesehen tatsächlich scheint [und z.
B. nicht hinter Wolken verborgen ist], dann habe ich subjektive Bewussteinsinhalte.
Welche genau das sind und wie viele, das ist eine Frage, die vielleicht
unbeantwortbar ist, aber ein subjektives Wahrnehmungsbewusstsein bezüglich der
scheinenden Sonne ist mir präsent. Objektiver Kriterien für das Stattfinden
dieser Subjektivität bedarf es dabei nicht, weil ich mich in Urteilsenthaltung
übe und nicht behaupten möchte, dass die Sonne tatsächlich scheint. Auf diese
Weise zeigt sich der subjektive Bewusstseinsmodus [„subjektive
Bewusstseinspräsenz“] besonders deutlich, ohne dass es von vornherein
naheliegt, die darin sich zeigende Subjektivität als Verhaltensdisposition
aufzufassen, wie es z.B. bei Affekten und Stimmungen der Fall ist. Es ist die
Situation der Urteilsenthaltung bezüglich irgendwelcher Aussageinhalte. Der
Satz bzw. das Bewusstein „ich bin jetzt hier“, ohne
objektive Lokalisation und objektive Identifikation genommen, ist ein
wesentlich subjektives Bewusstsein, durch welches keine objektive Feststellung
von irgend etwas vorgenommen werden soll. Diese Art
von Ablösbarkeit des Subjektiven ist das Charakteristische rein subjektiver
Evidenz und m. E., jedenfalls in gewisser Weise, nicht objektivierbar, nicht
naturalisierbar usw.. - Das heißt wiederum nicht, dass
diese „Ablösbarkeit“ nicht unter Zweckmäßigkeitsbestimmungen betrachtet werden
könnte, als „Medium der Motive“ wie z.B. bei Schopenhauer. Auch beim
Bewusstsein der scheinenden Sonne begnügen wir uns in der Regel nicht mit dem
Innewerden der reinen Subjektivität. Es geht uns vielmehr meistens um eine Subjekt-Objekt-Relation,
um Modi des In-der-Welt-seins, um Geist-Körper- bzw.
Seele-Leib-Korrelation.
© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003/2004