Einige stillschweigende Voraussetzungen

Einige Voraussetzungen von Descartes' Gedankengang sind von ihm stillschweigend angenommen, aber gewiß erwähnenswert:

  1. Sinnvolle Aussagen können wahr oder falsch sein (im Sinne der Erkenntnisgültigkeit).

  2. [Sinnlose Aussage, weder wahr noch falsch, sei z.B. "im Auto saßen stehende Leute"; - so etwas kommt wegen seiner Widersprüchlichkeit nicht als wahr in Betracht; - ein schwierigeres Beispiel ist Russells Satz (On denoting"): "Der gegenwärtige König von Frankreich ist glatzköpfig". Wenn es nämlich gegenwärtig keinen König in Frankreich gibt, kann man schwerlich sagen, es sei falsch, daß er eine Glatze habe, ohne zu dem Irrtum Anstoß zu geben: er besitze wohl vollen Haarschopf. Wir können also nicht einfach sagen, jede Aussage sei entweder wahr oder falsch.] - Für Descartes spielt die Klasse der sinnlosen Sätze keine besondere Rolle, aber selbstverständlich die Konzeption von Aussage und ausgesagtem Inhalt als demjenigen Etwas, das wahr und falsch sein kann.


  3. Denken ist ein Gespräch der Seele mit sich selbst. - Platon, Sophistes 263 e: "Nachdenken und Rede sind nun wohl zwar dasselbe, nur daß das Gespräch, welches in der Seele mit sich selbst ohne Laut vorgeht, bei uns den Namen Nachdenken erhielt?" - Im Denken treten wahre und falsche Aussagen auf, es gilt sie zu unterscheiden. Obwohl ich mit niemandem spreche, sind mir wahre und falsche Aussageinhalte als Gedanken in meinem Bewußtsein gegenwärtig.
  4. Aussagen sind die Bedeutungen von sprachlichen Formulierungen gewisser Art. Wir nehmen in einem ersten Versuch Indikativsätze der Form: "So ist es", "wahr ist, daß ...", "Tatsache ist, daß ...".

Formulierungen können in verschiedenen Sprachen und auf verschiedene Weise erfolgen und doch denselben Sachverhalt zum Ausdruck bringen. Deshalb möchte ich das durch die sprachliche Formulierung Ausgesagte (das man allerdings wiederum nur sprachlich identifizieren kann) als bedeuteten Sachverhalt ansetzen, der nicht mit einer bestimmten Formulierung identisch ist. Die Formulierung bezieht sich auf etwas außerhalb ihrer selbst: das ist der (propositionale) Gehalt einer sprachlichen Formulierung der Art: "So ist es."

Descartes These "Cogitans sum" läßt sich als die Behauptung auffassen, daß sich die durch Rede aussagbaren Sachverhalte im "inneren", subjektiven Bewußtsein ("im Denken") in besonderer Weise manifestieren: in subjektiv unbezweifelbarer Weise. Das wirkliche Bestehen der Sachverhalte selbst (in der äußeren Wirklichkeit) ist nach Descartes nicht zweifelsfrei gegeben. Die äußere "objektive" Wirklichkeit erhält den Status des nur bezweifelbar Erkennbaren.

Die Zergliederung des Descartes'schen Gedankenganges führt heran an zentrale Motive der neuzeitlichen Philosophie: Dualismus von Subjekt und Objekt, Subjektbezug des Denkens, "Ich" als erkenntnistheoretisches Subjekt, das Leib-Seele-Problem, die Frage der Erkennbarkeit des Fremdpsychischen, die Existenz bewußter und (per Opposition) unbewußter Bewußtseinsinhalte, der Primat des Denkens oder Wollens (kognitiver oder emotionaler Qualitäten) in der Psyche des Menschen.

Kern des Descartes'schen Ansatzes ist das Phänomen der Subjektivität unmittelbar gegebener Bewußtseinsinhalte. Es mag uns trivial erscheinen, aber die Sache ist nahezu paradoxer Natur: Es gibt weder hinreichende noch notwendige objektive Kriterien (physiologischer oder behaviouristischer Art) für die Subjektivität von Bewußtseinsinhalten: wir sind uns ihrer ganz einfach unmittelbar bewußt, ohne eine objektive Aussage zu machen. Dies gilt allerdings nur für die Subjektivität der grammatisch ersten Person.

Das der Subjektivität befähigte menschliche Lebewesen ist sich mancher seiner Denkinhalte unbezweifelbar bewußt, obwohl es die Tatsache, ob es gerade träumt oder wacht, nicht mit absoluter Sicherheit zu entscheiden vermag. Diese schwer begreifliche Konstellation ist Kern der Cartesianischen Einsicht.

Sofern sich eine Theorie auf das unmittelbare (unbezweifelbare und subjektive) Gegebensein von Bewußtseinsinhalten beschränkt, ist diese Theorie reiner Solipsismus. Durch die nachfolgende Einführung einer Sphäre des nicht zweifelsfrei Erkennbaren wird diese Beschränkung allerdings aufgehoben, und es ergibt sich die [nicht gewißheitsfähige] Behauptung [der Existenz] der äußeren Wirklichkeit und die Anerkennung meiner Mitmenschen als Wesen mit anderer, dem eigenen Ich aber analoger Subjektivität. Diese wird Tieren einerseits, Maschinen andererseits nicht zuerkannt.

Es ist keineswegs Folge des cartesianischen Ansatzes, das Dasein der uns umgebenden Wirklichkeit für etwas nur Scheinbares zu halten. Die uns umgebende Wirklichkeit wird lediglich dem unbezweifelbar Gegebenen des gänzlich Subjektiven kontrastiert und ist gerade dadurch ein Objektives. Das Objektive ist Gegenstand von Erkenntnissen, die den Irrtum nicht ausschließen und für die es objektiver, äußerer Kriterien und Anhaltspunkte bedarf.