Zweifel als Methode

 

Bei Descartes tritt das Selbstbewußtsein des „Ich denke" an die Spitze aller Erkenntnis und Philosophie. Was verschaffte dem unscheinbaren Satz vom Denken, seiner Subjektivität und seiner Subjektgebundenheit, diese herausragende Bedeutung?

Descartes verfolgte ein spezielles Forschungsprogramm, er suchte nach einem unerschütterlichen Fundament der menschlichen Erkenntnis:

 

„Nichts als einen festen und unbeweglichen Punkt verlangte Archimedes, um die ganze Erde von ihrer Stelle zu bewegen, und so darf auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das Geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist." (Meditationes De Prima Philosophia, 2, 1)

 

Dies Fundament soll in einer oder mehreren Aussagen bzw. entsprechenen Wahrheiten bestehen, an deren Gültigkeit niemand zweifeln kann, d.h. es geht um mindestens einen unbezweifelbaren Sachverhalt, der aufzuweisen wäre. Deshalb hielt es Descartes für zweckmäßig, die Frage aufzuwerfen, woran man zweifeln könne und woran nicht. Zunächst soll nur etwas Unbezweifelbares, etwas absolut Gewisses gelten.

Zweifel, einmal begonnen, pflegen sich erfahrungsgemäß auszubreiten. In der er­sten seiner Meditationes („de iis, quae in dubium revocari possunt") zeigt uns Descartes, wie weit er in seinem theoretischen Zweifel gehen zu können glaubt. Er tut dies in der Absicht, diesem Zweifel eine Grenze zu setzen. Aus diesem Ansatz wird alles Spätere folgen: es gibt bezweifelbare und unbezweifelbare Sachverhalte, aber die unbezweifelbaren sind besonderer Art. Das Ganze des Erwägbaren wird in eine Sphäre des Bezweifelbaren und eine Sphäre des Unbezweifelbaren geschieden. Wir fragen: Gibt es denn überhaupt etwas gänzlich und „absolut“ Unbezweifelbares?

Descartes antwortet uns: An der äußeren Wirklichkeit kann man zweifeln, denn bisweilen glaubt man, etwas zu sehen und träumt doch. Man kann am Dasein äußerer Dinge sogar generell zweifeln, denn kein Mensch kann mit unbezweifelbarer Gewißheit wissen, ob er träumt oder wacht. Ist es nicht denkbar, daß wir immer träumen? Man kann auch an der Existenz des eigenen Körpers zweifeln, meint Descartes. Lediglich Arithmetik, Geometrie und „andere Wissenschaften dieser Art" enthalten „etwas von zweifelloser Gewißheit". Aber diese Wissenschaften, „die nur von den allereinfachsten und allgemeinsten Gegenständen handeln", kümmern sich wenig darum, „ob diese Gegenstände in der Wirklichkeit vorhanden sind oder nicht". (I, 8) Also ist auch im Falle dieser Wissenschaften zweifelhaft, was wir in ihrem Falle mit unerschütterlicher Gewißheit behaupten können. Der Satz „2 + 3 = 5" kann nicht in den Verdacht der Falschheit geraten, „denn ich mag wachen oder schlafen, so sind doch stets 2 + 3 = 5". Aber ob diese Aussage eine Aussage über existierende Dinge in der wirklichen Welt ist, weiß niemand genau. Wir paraphrasieren: Es gibt keine Theorie der Mathematik, die mit unbezweifelbaren Erkenntnissen bezüglich des Erkenntnisinhaltes mathematischer Aussagen [und der Natur der entsprechenden Sachverhalte] aufwarten könnte. Kurzum: Descartes treibt den Ansatz des methodischen Zweifels voran bis zur Fiktion eines deus deceptor, eines Gottes, der uns mit all seiner Macht zu täuschen versucht, wo er nur kann. Die Frage lautet nun: gibt es eine Sphäre des Unbezweifelbaren, die auch angesichts der Fiktion dieser extremen Eventualität bestehen bleibt? Solcherart Unbezweifelbares möchte Descartes gelten lassen, um „für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften festen Halt zu schaffen." (I, 1)

 

Das ist ein sonderbares Erkenntnisideal für uns heutigen! Es geht Descartes nicht darum, theoretische Aussagen aufzustellen, [um daraus eventuell ein Modell der Wirklichkeit zu konstruieren,] um daraus dann wiederum [vermittelst geeigneter Zusatzannahmen] Prognosen abzuleiten, um letztlich die konstruierte Theorie durch Messergebnisse in einer experimentellen Situation zu prüfen, eventuell zu bestätigen oder zu widerlegen. Dies wäre eine Konstruktion aus Aussagen, verbunden nicht allein mit dem Anspruch auf Wahrheit [in diesem oder jenem Punkt], sondern auch mit dem Anspruch auf empirische-prognostische Relevanz. Descartes' Anspruch auf methodisch gesicherte Erkenntnis ist ein anderer: die Überlegung, woran man zweifeln könne und woran nicht, soll die Methode sein, unbezweifelbare Wahrheitsansprüche zu ermitteln. Es geht hier rein um die Wahrheits- und Gültigkeitsfrage. Es geht um ein spekulatives Interesse an Erkennbarkeit, Wissbarkeit und Wahrheit, rein für sich selbst, unabhängig von der prognostischen und lebensdienlichen Relevanz dieser Wahrheit. Im Modus der Unbezweifelbarkeit soll sie erkennbar sein, allein durch das Denken. Unbezweifelbarkeit (im Sinne der methodischen Skepsis) wird den Status strikter Beweisbarkeit erhalten. Kann man mit einem solchen Anspruch ein Ergebnis erzielen?

 

P.S.: Theoretische Wahrheit von empirisch-prognostischer Relevanz ist ein Idealtypus empirischer Wissenschaft, der zum Teil in den Naturwissenschaften verwirklicht wird. Sofern Erklärungen und Prognosen vermittelst von Naturgesetzen angeboten werden, kann man von nomothetischer Wissenschaft sprechen. Der  entgegengesetzte Typus von Empirie wäre die ideographische Beschreibung, in der uns einfach eine Geschichte ohne jeglichen Erklärungsanspruch geboten wird, eine Sammlung von unverbundenen Fakten und Einzelheiten. In der Regel, z. B. bei der Betrachtung menschlicher Handlungen und Geschehnisse, liefern wir mehr als bloße Beschreibungen und Erzählungen aber sehr viel weniger als nomothetische Erklärungen. Wir glauben, Geschehenes erklären und verstehen zu können, ohne vermittelst dieser Erklärungen auch Zukünftiges prognostizieren zu können oder gar zu müssen. Für den Bereich des sozialen und historischen Handelns der Menschen haben wir also einen Erklärungstyp, durch den wir ex post etwas angemessen verstehen zu können glauben, ohne damit den Anspruch verbinden zu müssen, durch eine solche Erklärung etwas ex ante auch prognostizieren zu können.     

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003/2013