In „Jenseits von Gut und Böse“, Erstes Hauptstück mit dem Titel „Von den Vor­urteilen der Philosophen“, § 16, schreibt Nietzsche:

 

„.. der Philosoph muss sich sagen: wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz „ich denke“ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegnen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, - zum Beispiel, dass ich es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Tätigkeit und Wirkung sei­tens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein „Ich“ gibt, endlich, dass es bereits feststeht, was mit Denken zu bezeichnen ist – dass ich weiß, was Denken ist. Denn wenn ich nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht „Wollen“ oder „Fühlen“ sei? Genug, jenes „ich denke“ setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit andern Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche, um so festzusetzen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung auf anderweitiges „Wissen“ hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare Gewissheit.“

 

Kurz danach, § 17, folgt ein ähnlicher Passus, der den Gedanken vertieft, indem er den Verdacht hinzufügt, dass es die Grammatik der Sprache sei, die uns zu fal­schen Behauptungen über die Natur des Denkens verleite:

 

„Was den Aberglauben der Logiker betrifft: so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Tatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubigen ungern zuge­standen wird – nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn „er“ will und nicht wenn „ich“ will; so dass es eine Fälschung des Tatbestandes ist zu sagen: das Subjekt „ich“ ist die Bedingung des Prädikats „denke“. Es denkt: aber dass dies es gerade jenes alte berühmte „Ich“ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine „unmittelbare Gewiss­heit“. Zuletzt ist schon mit diesem „es denkt“ zuviel getan: schon dies „es“ enthält eine Aus­legung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schließt hier nach der grammatischen Gewohnheit „Denken ist eine Tätigkeit, zu jeder Tätigkeit gehört einer, der tätig ist, folglich -“ Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der „Kraft“, die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der sie wirkt, das Atom; strengere Köpfe lernten endlich ohne diesen „Erdenrest“ auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine „es“ (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen.“

 

Nietzsches Kritik speist sich aus mehreren Quellen. Ich möchte versuchen, sie zu katalogisieren:

 

Der Satz „ich denke“ kann naturalistisch verstanden werden. Es ist eine weitläufige Ge­schichte, sozusagen vom Hundertsten zum Tausendsten, festzustellen, welche objektiven Prozesse in einem Lebewesen sich abspielen müssen, um es zum Bewußtsein seines Denkens zu befähigen. Unter der Voraussetzung, dass ich für einen naturalistischen Monismus op­tiere, – diese Option liegt uns allen vielleicht sehr nahe, - wird sogar die „Subjektivität des Bewusstein“ zu einem objektiven Phänomen mit ev. experimentell realisierbaren [und kon­trollierbaren] Kriterien des Stattfindens.

N. verdächtigt die grammatische Subjekt – Prädikat – Struktur der Aussage „ich denke“, un­ser Denken über das Denken irre zu führen. Die falsche Sprachauffassung könnte in folgen­der Überlegung stattfinden: „Ich“ bedeutet etwas, „Denken“ bedeutet etwas, „Ich“ das Ding, von dem wir sprechen, „denken“ das Prädikat, das wir anwenden. – Hier bleibt natürlich die Frage offen, ob die Bedeutung der Formulierung auf solche Art rekonstruiert werden kann. [Zudem die Frage, ob beide Dinge, die hier bezeichnet werden, nämlich „Ich“ und „Denken“, natürliche Gegenstände sind.]

Aus der psychologischen Selbstbeobachtung weiß Nietzsche, indem er von sich auf andere schließt, dass wir nicht Herr unserer Gedanken, Aufgeregtheiten etc. sind. Die Inhalte unse­res subjektiven Lebens unterliegen weder einer immerwährend funktionierenden Steuerung durch eine dominierende Instanz in ihnen, noch sind sie inhaltlich transparent. Wenn es uns, aus Gründen der psychologischen Selbstbeobachtung, darum geht, festzustellen, was wir denken, fühlen und wollen, entdecken wir eine unausschaltbare Deutungs- bzw. Interpretati­onsproblematik der nur vordergründig „unmittelbaren“ Subjektivität. Nur sehr schwer, viel­leicht gar nicht, lassen sich unverfängliche Beispiele für subjektive sinhalte nennen.– Diese Betrachtungen lassen sich weiterführen zur kulturell, gesellschaftlichen und his­torischen Überformung aller Selbst- und Fremddeutungskonzepte.

 

Nietzsches Einwände richten sich gegen Auffassungen vom Subjekt [des Den­kens, Erkennens, ev. Wollens, Fühlens usw.] und von der Subjektivität, wie wir sie [in unterschiedlichen Ausformungen] bei Descartes, Kant und Fichte finden. [N. ist „Dekonstruktivist“, „Destruist“ des „inneren Subjekts“.] In ihren Grundzü­gen sind seine Einwände aktuell und entsprechen weit verbreiteten Standpunkten der gegenwärtigen Diskussion [über die Natur des s, Geistes etc.] auch 100 Jahre nach Nietzsche. [Descartes Auffassungen sind noch einige Jahr­hunderte älter und mehr und mehr in die Defensive geraten.]

[Ich möchte auf die Frage hinaus, ob es nicht doch Lesarten der ‚subjekt-theoreti­schen‘ Tradition gibt, die gegen Nietzsches Einwände immun sind. Dass Nietz­sches Einwände gegen unzureichende Auffassungen dieser Tradition weitgehend [vielleicht sogar völlig] zutreffend sind, kann ich eigentlich vorweg zugestehen.]

Es gibt physiologische Aspekte unseres Denkens, Fühlens und Wollens. Deshalb denken viele von uns, Denken, Fühlen und Wollen seien letztlich physiologischer Art. Es gibt biologische und physiologische Aspekte und Voraussetzungen unse­res s, und deshalb denken viele, menschliches  sei letzt­lich biologische und physiologische Funktion.

Das Denken ohne das Gehirn gilt als unmöglich, deshalb bezeichnet man das Ge­hirn als das Organ des Denkens, also [in einer besonderen Weise] als eine Vor­aussetzung der ‚Möglichkeit‘ [des Denkens]. [Kantische Formulierungen von der Existenz des ‚logischen Subjekts‘ als der Bedingung ‚möglichen‘ Denkens kon­trastieren diesem Sachverhalt, aber es ist nicht leicht, diese Version von “Mög­lichkeit” zu explizieren. Die Verwendung von Modalbestimmungen wie ”es ist möglich, dass ...” wirft Rückfragen auf: Möglichkeit inwiefern? Biologisch mög­lich, physiologisch möglich, logisch möglich, kausal möglich usw.? Möglich re­lativ zu was? Möglich relativ [respektiv] zu welchen anderen, als gültig ange­nommenen Sachverhalten oder Prinzipien?]

Ich gebe zu, dass es sinnvoll ist, von einer Biologie oder Physiologie des s zu sprechen, auch z.B. von einer Evolutionsbiologie menschlicher sleistungen wie Fühlen, Wollen und Denken. Aber ich glaube nicht, dass ent­sprechende Betrachtungen, die ich in einem weiten Sinn naturalistisch nennen möchte, hinreichende Argumente liefern [oder auch nur liefern könnten] für die ‚effektive’ Nichtexistenz oder gar Unmöglichkeit eines logischen Subjekts des Denkens und Wollens. Kant z.B. weist die Substantialität des ‚Ich denke’ zurück, d.h. er weist sie zurück (als Konsequenz seiner Raum-Zeit-Philosophie) in dem Sinn, dass sie objektivierbare Erkenntnis sein könnte, aber als bloße Denkbarkeit lässt er das Subjekt des Denkens und Handelns bestehen und hält es dann in der ethischen Philosophie, wo es um Handlungsnormen geht, sogar für unverzichtbar.

[Auch die Substantialität des Subjekts bleibt eine Denkbarkeit, unerweislich im Sinne empirischer und/oder theoretischer Erkenntnis und doch unverzichtbar für die Philosophie der verpflichtenden Verhaltensnormen. Daher geht es im Paralo­gismen-Kapitel der K. r. V. um zwei Bedeutungen von ‚Substanzartigkeit’: ge­dachter (denkbarer) und erkenntnismäßiger (erkennbarer) ‚Subjektartigkeit’.

 [Man kann ein Plädoyer für die bloße Denkbarkeit nicht-naturalistischer Auffas­sungen, - diese Denkbarkeit soll eventuell sogar ausreichend für verschiedene Ar­gumentationszwecke sein -, als eines der letzten Rückzugsgefechte einer extrem akademischen Philosophie ansehen, als „verschmitzt, kluge Skepsis“ (Nietzsche) beispielsweise, aber es ist ebenso sehr – und nach wie vor – ‚möglich’, auf einer besonderen Sorte von Denkbarkeiten zu beharren, deren man sich gar nicht leicht entledigen kann. Ist denn der Nachweis der ‚Verhexung des Verstandes durch die Sprache’ (Wittgenstein) [plus psychologische Selbstbeobachtung plus naturwis­senschaftliche Biologie und Psychologie] wirklich so zwingend geworden, dass es uns ganz ausgeschlossen und unmöglich erscheinen muss, für etwas anderes als ‚naturalistischen Monismus’ zu optieren? Sind ‚hyperphysische Möglichkeiten’ nicht nur gemäß realer, ‚physischer’ Beschreib- und Erklärbarkeit, sondern bereits gemäß bloßer Denkbarkeit ausgeschlossen? Hat Kant nicht vielleicht gerade darin recht behalten, dass wir im Anspruch auf Erkenntnisse, die unabhängig von ‚Willkür, Lust und Laune’ ‚auch für mich’ gültig sind bzw. sein sollten, und ganz besonders in Theorien der Rechte und ‚wirklichen’ Verpflichtungen ein Subjekt (Subjekte) des Denkens und Wollens fast unumgänglich voraussetzen, obwohl wir es (sie) einzelwissenschaftlich keineswegs zwingend nachweisen können?

Nietzsche steht jedenfalls auf der Seite einer naturalistischen Auffassung von Geist und . Insofern ist es eigentlich von vornherein plausibel, dass es einer sehr langen Kette von ‚Erklärungen‘ bedürfen wird, um uns die Existenz un­seres s objektiv zu erklären und nahe zu bringen. Es gibt immerhin einige – sogar mehr und mehr - Glieder für diese projektierte Erklärungskette. Als Forschungsprogramm und Arbeitshypothese ist ein naturalistischer Ansatz in Sa­che ”Geist und Bewusstein” sicherlich sinnvoll und motivierend, man kann dann im Einzelfall sehen, wie weit man damit vorgestoßen ist. [Gewissermaßen ‚spe­kulativ‘ und ‚philosophisch‘ ist die Frage, ob und in welchem Sinne eine solche Kette einmal vollständig werden könnte: ”ob je Natur sich selbst er­gründe?”[Goethe]]

 

Geistige Fähigkeiten, Wahrnehmung, Gefühle, Sprache etc. sind mehr und mehr zum Objekt naturwissenschaftlicher Forschungen geworden. Ich nenne einige Beispiele, die mir in zufälliger Weise bekannt sind:

 

Im 19. Jahrhundert begann man mit der Lokalisation geistiger Fähigkeiten (Wahrnehmung, Sprache) in bestimmten Hirnstrukturen.

 

Aus dem Studium der Hirnläsionen ergaben sich Zuordnungen von geistigen Fähigkeiten und anatomischen Hirnstrukturen. Der Fall des Sprengmeisters Phineas Gage, der durch einen Unfall eine schwere Gehirnverletzung erlitt, aber überlebte und sich danach charakterlich stark veränderte, ist eine der ersten dokumentierten Läsionen dieser Art und stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. – Hanna und Antonio Damasio am Medical Center von Iowa be­sitzen lt. Zeit vom 21.11.99 ein riesiges virtuelles Archiv von Verletzungen dieser Art. [Ar­tikel v. U. Schnabel]

 

Ebenfalls auf das 19. Jahrhundert zurück geht eine Psychophysik, die sinnesphysiologische und sinnespsychologische Fakten miteinander verknüpft. Man erdachte sich [ev. mit zuneh­menden technischen Möglichkeiten] Experimente zum Thema ”physiologischer Reiz – Wahrnehmungs”. – Man sagt z.B. : Gefühl ist Empfindung der Veränderung im Körper. – Fechner z.B. verfolgte das Projekt einer ”exakten Lehre von den funktionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele.” Es ist klar, daß auf diese Weise die Abhängigkeit des Seelisch-Geistigen vom Leiblichen mehr und mehr zum Thema experimentell kontrollierter Forschungsbefunde werden konnte. [Je mehr Parameter des phy­siologischen Geschehens meßbar und sichtbar gemacht werden können – z.B. Hirnströme, Ausschüttung chemischer Substanzen, Duchblutungsstärken – desto mehr korrelierende Aussagen sind möglich über Empfindungsbewußtsein und [entsprechende] physiologische Prozesse.

 

Wir wissen, daß chemische Stoffe Gefühle und Stimmungen verändern. Sie wirken über den Blutkreislauf und modifizieren dabei die Verarbeitung der Nervenimpulse. Durch die Ein­nahme von Kokain z. B. soll Wohlbefinden und Gedankenreichtum erzeugt werden, und da­mit rücken Wohlbefinden und Gedankenreichtum in die Sphäre des experimentell Machbaren bzw. Manipulierbaren. [Probleme ergeben sich wahrscheinlich trotzdem, weil uns die Sache dann doch außer Kontrolle gerät.] – Man hat mit der Freisetzung und Hemmung von Neu­rotransmittersubstanzen experimentiert und z.B. versucht, etwas über die neurochemische Basis von Depression und Manie herauszufinden. [Der Forschungsstand im Einzelnen ent­zieht sich meiner Kenntnis.]

 

Mit der diagnostischen Methode des EEG (Elektroenzephalographie) erfolgt die Messung und Aufzeichnung von Potentialschwankungen des Gehirns. Man misst verschiedene Hirn­stromwellen in verschiedenen Arealen, man unterscheidet Hypnose- und Vigilanzbewusstein, Phasen des Schlafens, Träumen und Wachens anhand typischer Muster in diesen Potential­schwankungen.

 

Die moderne Nuklearmedizin kennt szintigraphische Verfahren (scintillo: Funken sprühen, funkeln) mit denen sich innerkörperliches Geschehen, auch cerebrale Aktivitäten, räumlich darstellen lassen. Nuklide mit kurzer Halbwertszeit, die man künstlich herstellt, gelangen in die Zellen (Radiopharmaka), eine charakteristische Strahlung entsteht und dringt nach au­ßen, wo sie von entsprechenden Detektoren registriert werden, woran sich ein computerge­stütztes Bilderrechnungsverfahren anschließt, was zu einem anschaulichen Bilde intrakorpo­raler Gegebenheiten führt.

 

Positronen-Emmissions-Tomographie (PET) ist ein nuklearmedizinisches Verfahren, bei dem geeignete Nuklide unter Ausstrahlung von Positronen zerfallen. Diese Teilchen treffen sofort auf Elektronen ihrer nächsten Umgebung, die ihre Antiteilchen sind, was zu einer Annihilati­onsstrahlung führt, die in verschiedenen Richtungen den Körper verlässt und von einem Ringdetektor aufgefangen wird, woran sich ein kompliziertes Bilderrechnungsverfahren an­schließt.

 

Funtionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) erzeugt ein starkes Magnetfeld, in dem das Blut des Gehirns unterschiedliche magnetischen Eigenschaften entfaltet, je nachdem, ob der rote Blutfarbstoff mit Sauerstoff beladen ist oder nicht. Dies kann vermittelst von Ra­diowellen sichtbar gemacht werden, und da aktive Nervenzellen mehr Sauerstoff verbrau­chen als inaktive, zeigen die fMRT Signale die Stellen der Gehinaktivität. Es gibt hier sogar Bilder in Folge mit einer zeitlichen Auflösung von rund einer Sekunde. (ZEIT vom 7.10.99, Artikel von Christina Berndt)

 

Bewußtseinsforscher wie Benjamin Libet und Lawrence Weiskrantz sind Zeitgenossen des 20. und 21. Jahrhunderts. Sie haben sich äußerst scharfsinnige Experimente zu Fragen der bewussten und unbewussten Wahrnehmung ausgedacht. Der US-Amerikaner Libet korre­lierte Kortexstimulationen – er arbeitete mit dem Neurochirurgen Bertram Feinstein zusam­men - mit der Frage, wann es zu mitteilbarem subjektiven  kommt. Die beiden führten auch Stimulationen am frei liegenden Hirn durch. Sie entdeckten in den späten fünf­ziger Jahren verblüffende Zeitverzögerungsphänomene bei der Entstehung bewusster Emp­findungen.

 

Der britische Neuropsychologe Weiskrantz  beschäftigte sich mit fast allen denkbaren Folgen spezifischer Gehirnschäden und dachte sich darüber hinaus raffinierte Arrangements zum Nachweis des fast paradoxen Phänomens des Blindsehens aus, die er auch experimentell durchführte. [In der ZEIT vom 13.12.1996 findet sich ein Artikel über B. Libet, in der ZEIT vom 3.2.2000 ein Artikel über L. Weiskrantz, beide Artikel sind von U. Schnabel verfasst.]

 

Zurück nun aber zu Nietzsche und seiner Propagierung einer naturalistischen Sicht. Es erscheint mir erwähnenswert, dass es ihm (letztlich) nicht darum ging, sprachlich induzierte Missverständnisse zurückzuweisen und ansonsten naturwis­senschaftliche Einzelergebnisse zu einem etwas größeren Bild des Menschen und der Welt zusammen zu setzen. Er betätigte sich weniger als Proponent naturwis­senschaftlicher Methoden [und zugehöriger Einzelbefunde] denn als Opponent platonisch- christlich- idealistischer religiöser und philosophischer Tradition. Er forderte mit großer Emphase die Verleiblichung der Seele, die Einheit, die Ganz­heitlichkeit von Leib und Seele, er wollte eine Philosophie, die ‚der Erde treu’ bleibt, eine Philosophie ‚am Leitfaden des Leibes’ usw.. Sein Projekt war Kultur- und Gesellschafts- und Zeitkritik, geistige Befreiung, Selbstbestimmung und Le­bensgefühl (unter dem Titel „große Gesundheit“), Zurückweisung  von „lebens­feindlichen Kräften“, die er in Aufklärung, Christentum, Wissenschaft, Demokra­tie und Fortschrittsglaube zu erkennen glaubte. – Insofern verstand er sich als „Unzeitgemäßer“. - Interessanterweise entschied er sich zwar für Naturalismus, nicht aber für „Szientismus“ und einzelwissenschaftliche Faktensammlung. Sein Ton ist nicht der Ton nüchterner Naturwissenschaft. Die Rückkehr der Seele in den Leib war ihm sehr wichtig, rein naturwissenschaftliche Forschung im Endef­fekt wohl aber doch zu trocken. Er gab uns den Rat, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens“. Geistreichen Leuten, wie z.B. fast allen Künstlern, schrieb er ‚Abneigung gegen die Wissen­schaft’ zu, sie erscheint ihm zum Teil als „unmenschliches Abstraktum“ bzw. le­bensfeindliche Abstraktion.

Es ging N. darüber hinaus auch darum, Subjektivität, Relativität und Perspektivi­tät des menschlichen Lebens hervorzuheben. Bei alle dem auch die Frage des richtigen Lebens, also auch Moralphilosophie und „Anthropologie in pragmati­scher Hinsicht“, wie es Kant einordnete. Nietzsche scheute sich nicht, gesunde Ernährung (vegetarisch?), gutes Wandern, helles Licht, klares Wasser und frische Luft zu propagieren, was bei der geistigen Befreiung von wesentlicher Bedeutung sei; - also im Prinzip die Sache selbst. Fast jede Frage wurde ihm zu einer Frage von etwas anderem, so z.B. die Moral zu einer ‚Zeichenfrage der Affekte’, Bil­dung zu einer Frage der Ernährung, die Vernunft der Wissenschaft wahrscheinlich zu einer Frage des guten Geschmacks usw.. Natur, Mensch und Wirklichkeit, ob­jektive ebenso wie subjektive, erschien ihm fortwährend unter weiteren Masken und Deutungen verborgen, in einer endlosen Folge von zweifelhaften Deutungen kaum zu erahnen.

Auch „Wahrheit“ war ihm letztlich nur eine „Art von Irrtum“: die Spezies Mensch komme nicht ohne aus, und der Wert für’s Leben sei entscheidend. Hier koket­tierte er m.E. mit dem Gestus von Selbstdementi und interessantem Selbst-Wider­spruch, was man heute zum Teil „performativen Selbstwiderspruch“ nennt. Um­gangssprachlich könnte man vielleicht von paradoxen Höhenflügen sprechen, in­dem man die enorme Allgemeinheit sowie die Selbstbezogenheit der Äußerung bemerkt. Nietzsche war sich dessen sicherlich bewusst. Er hat diese Äußerungen planvoll inszeniert. Er liebte die „Pose von Tragik und übermenschlicher Inspira­tion“ [Rem. an J. Ebbinghaus]. [Dass Selbstreflexion allein noch kein Garant für gelingende philosophische Schriftstellerei ist, kann man im Verlauf der Überbie­tungsdynamik in der Linie Kant, Fichte, Schelling, Hegel erkennen.]

 

In einer gelungenen Wendung nannte Habermas (in Erkenntnis und Interesse) Nietzsche den ‚Virtuosen der Selbstverleugnug der Reflexion’.

 

Die anfänglichen Nietzsche-Zitate erscheinen mir besonders aktuell, wenn man den ‚weltanschaulichen’ Nietzsche, also z.B. die Themen „Wille zur Macht“, „Sklaven- und Herrenmoral“, Geniekult, Antidemokratismus usw. vernachlässigt. Für einen Gesamtüberblick über Nietzsches Philosophie ist diese Vernachlässi­gung natürlich nicht zu empfehlen. In der Subjektdiskussion ist Nietzsche m. E. zeitgemäßer und ‚unideologischer’ ist als in diesen anderen Fragen.

 

In puncto „Wille zur Macht“ kann man mit E. Tugendhat sagen: „Wenn du ge­wusst hättest, was kommt!“

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2005