Sokrates

 

Sokrates vertrat die Ansicht, dass wir nicht wissen, was wir zu wissen glauben, weil die Aus­sageinhalte, derer wir uns [beim Denken und Sprechen] bedienen, nicht genügend scharf defi­niert wurden. Diese „Inhalte“ wurden für ihren Anwendungsbereich und in ihrer Geltung nicht genügend scharf begrenzt, so dass nicht klar ist, was eigentlich damit besagt ist, wenn wir sie in diesem oder jenem Fall verwenden. Dies gilt besonders für die Darstellung und Be­wertung menschlicher Verhaltensweisen. Wir sagen z. B., ein Mensch habe keine Kultur, stützen uns aber hauptsächlich auf die Behauptung, dass man ihn ohne Messer und Gabel habe essen sehen. – Erstens ist hier festzustellen, dass es sich um eine Beobachtung aus zwei­ter Hand handelt, zweitens ist nicht klar, was der Begriff „keine Kultur haben“ besagt.

 

Gesetzt der Fall, es sei manchmal wahr, was wir sagen, so ist doch in sehr vielen Fällen nicht klar, worin die angeblich erkannte Wahrheit bestand. Geltungs- und Wahrheitsfragen setzen nämlich, ge­nau genommen, Klarheit in entsprechenden Bedeutungsfragen voraus. Wir müss­ten wissen, was eigentlich zur Debatte steht, wenn wir nach der Wahrheit einer Aussage fra­gen. Es ist aber oft nicht hinreichend deutlich festzustellen, was genau gesagt wurde und ge­sagt werden sollte mit dem, was gesagt wurde. Wir be­werten z. B. eine Handlung als un­gerecht, sind uns aber über den Inhalt des Begriffs „gerecht“ nicht im Klaren. Wir sind uns in der Regel nicht einmal darüber im Klaren, welche Hand­lungsweise in einem konkreten Ge­schehen tatsächlich praktiziert wurde, um eine Bewertung darauf anzuwenden. Was ist der „Inhalt“ einer konkreten Handlung gewesen, können wir uns fragen, welche Verhaltensweisen mit welchen Zielen und anhand welcher Mittel wurden eigentlich ausgeübt, noch dazu mit welchen Absichten, Zusatzabsichten und Hinterabsichten bewusster und unbewusster Art.

 

Auch in anderen Berei­chen, z. B. bei der Unterschei­dung von Pflanze und Tier, oder noch grundsätzlicher: von lebendiger und toter Materie, wis­sen wir die Aussage- bzw. die Be­griffsinhalte nicht hinrei­chend krite­rienfest zu nennen, so dass wir nur ungefähr wissen, was entsprechende Aussagen, in denen diese Aussageinhalte enthalten sind, besa­gen.

 

Ein bedeutendes Beispiel, anhand dessen man die Unsicherheit unserer begrifflich-sprachlichen Mittel reflektieren kann, ist die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit. – Man geht z. B. davon aus, dass „nicht krank sein“ noch nicht „gesund sein“ heißt. Wir haben einen riesi­gen Übergangsbereich, wo wir nicht wissen, was der Unterschied besagt. Man ist entweder krank oder gesund oder keines von beiden. Weder krank noch gesund oder auch krank und gesund zugleich. – Hier muss man bei einer entsprechenden Aussage vielleicht hinzusetzen: „nach psychosomatischem Krankheitsmodell“, „nach dem Infektionskrankheitsmodell“ usw..

 

Sokrates’ Fragen sind bedeutungsanalytisch und bedeutungskritisch, mitunter sogar bedeu­tungsskeptisch. - Nähme man „Skepsis“ lediglich im Sinne von Prüfung, wäre Sokrates Anlie­gen damit treffend bezeichnet. – Es mangelt uns oft an Aufmerksamkeit dafür, wie wir reden und denken, bzw. an Bewusst­sein für unsere Aussageinhalte. Worte, Redeweisen und Re­densarten sind uns je nach Situation wohlfeil. S. hat bezüg­lich der Art des [menschlichen] Denkens den Verdacht geschöpft, dass es allzu oft und allzu weitgehend auf nicht hinreichend präzisen [bzw. nicht hinreichend präzisierbaren] Aus­sageinhalten beruht. – Aussageinhalte sind Begriffsinhalte, begriffliche Unterscheidun­gen, Klassifikationskriterien, Kriterien des So-Seins. Aussageinhalte sind auch unsere Ver­knüpfungen dieser Begriffsinhalte zu angebli­chen oder wirklichen Wahrheiten. In der Philosophie spricht man in diesem Fall von Satzin­halten oder Propositionen, in älterer Zeit von Urteilen. – Unsere Rede- und Denkweise ist weitgehend „wohlfeiles Ungefähr“. Im Kontrast hierzu liegt uns die Faszination vor den „ex­akten“ Erkenntnissen und Wissenschaften nahe, z. B. bezüglich der Aussageinhalte und geregelten Ablei­tungsschritte in der Geometrie. – Aber weiß man denn genau, wovon man hier redet? Wenn man z. B. von Punkten, Linien und räumlichen Figuren spricht? In der Wirklichkeit gibt es exakte Linien, Kreise und Quadrate nur näherungsweise.

 

Wer eine Anspielung auf die „Ideenlehre“ Platons gestattet, dem kann man sagen: „Sokrates erkannte einen Mangel an begrifflicher Substanz in fast all unserem Reden und unserem Denken.“ Für Plato waren Begriffsinhalte die eigentlich substantiellen Wesen, das wahrhaft Wirkliche, an dem die wahrnehmbaren, veränderlichen Dinge lediglich „Anteil“ haben. Für den, der diese Anspielung auf die „Ideenlehre“ nicht schätzt, läuft die Entdeckung des Sokrates auf eine Di­agnose eines mangelhaften begrifflichen Instrumentariums in unseren tatsächlichen Diskus­sionen hinaus. Mangelhaft nämlich dann, wenn man in nachfolgender, vergleichender Über­legung sagen will, was eine Aussage be­inhaltete und was nicht. – Und daran anschließend allererst ist eine Aussage darüber möglich, was an einer Aussage der Prüfung auf Wahrheit standhält und was nicht. Gel­tungs- bzw. Wahrheitsfragen folgen der Frage nach den Aus­sageinhalten [Bedeutungen] nach. Der Philosoph, als Freund der Wahrheit, muss zunächst einmal Philologe, also ein Freund des gesprochenen und geschriebenen Wortes, vor allem der Analyse des Wortinhalts, sein. Erst bei hinreichend klar ermittelten Wortbedeutungen lässt sich feststellen, was für oder gegen eine vorliegende Aussage spricht.

 

Der Philologe ermittelt anhand verschiedener Interpretationsmaximen den Bedeutungsspiel­raum einer sprachlichen Äußerung. Diese „Inhalte“ können logischer, emotional-affektiver, imperativischer oder sonstiger Art sein. Es gibt vielfältigen „Verwendungssinn“ und oft ver­schiedene Bedeutungsebenen, Sinn und Hintersinn, besonders im alltäglichen, „praktischen“ Sprechen, zudem gibt es Andeutungen, versteckte „Spitzen“ usw.. Das macht es für das überlegende Nachdenken im Nachhinein oft sehr schwierig, vielleicht sogar unmöglich, fest­zustellen, was in einer Situation wirklich gesagt wurde und was nicht. Die Darstellungsfunk­tion unseres Sprechens ist von anderen Ausdrucksfunktionen stark überlagert. Funktionen der Aufmerksamkeitslenkung und die Ab­sicht, bestimmte Dinge nicht zur Sprache zu bringen, spielen ebenfalls eine große Rolle.

 

Es also nicht immer klar, welche Sachverhalte eigent­lich zur Debatte stehen. Ein Fall, der unsere tatsächlichen Diskussionen nach Sokrates Hin­weis oft betrifft; Wir wissen sehr oft nicht, wovon wir reden. Wir wissen sehr oft nicht, was eigentlich bezüglich welcher Sache genau zur Debatte steht, weil wir unsere Aus­sageinhalte, ihre Verwendungsregeln und An­wendungskriterien nicht genügend prüfen. Zu­dem sind wir uns der Aspekte oft nicht recht bewusst, unter der wir eine Situation bereits von vornher einengend eingeordnet [und klassifi­ziert] haben. Perspektivische Selektivität, vom Sokrates-Gegner Nietzsche sehr betont, ist also ebenfalls ein wesentlicher Aspekt der Be­schränkung und „Endlichkeit“ unseres Denkens.

 

Hinzu kommt, dass wir in unserem Sprechen sehr oft den Eindruck erwecken möchten, als wüssten wir über eine Sache oder eine Situation gut Bescheid. Tatsächlich aber stehen wir gerade bezüglich alltäglicher Dinge in einem Zustand der weitgehender Unwissenheit, in einer Nicht-Wis­sens-Situation. Kenntnis der Nicht-Wissens-Situation ist oft das zuverlässigste Wissen, was es zu einem Thema oder einer Situation gibt. Z. B. in religiösen, weltanschaulichen, psychologi­schen und menschlichen Fragen. – Natürlich macht es in der Nachfolge zu dieser Einsicht großen Sinn, die haltbaren von den weniger haltbaren Standpunkten zu unterscheiden, sozu­sagen „Evidenzen“ und „Plausibilitäten“ herauszufinden und von andern Aussageinhalten probeweise zu sondern. Aber man sollte sich immer im Klaren darüber sein, dass der Mensch mit seinem Denken zu trügerischen Konstruktionen neigt. Oft ohne überhaupt einen Verdacht zu schöpfen.

 

Sokrates’ Hinweis lässt sich ausweiten. Wir sind uns unserer Denkinhalte, unserer Redens­weisen und Redensarten, unserer Urteilsgewohnheiten und auch unserer Wahrnehmungsmus­ter nur in beschränktem Maße bewusst. Es fehlt uns sozusagen an Aufmerksamkeit für die Tendenz und Art unserer Aufmerksamkeit. Wir sind uns auch unserer Unter­stellungen, unse­rer Konstruktionen und Projektionen, der Art des Auswählens und der Art unserer Perspektive in nur beschränktem Maße bewusst. Wir haben keine genügende Auf­merksamkeit dafür und unterliegen derart sehr oft einem „Trug des Bewusstseins“. Aussageinhalt und Wahr­heitsfä­higkeit unseres Denkens kümmern uns sozusagen so wenig, dass die Existenz von Vorent­scheidungen und vorher festgelegte Perspektiven (unserer Wirklichkeitsauffassung) uns nicht beunruhigen. Die damit zusammenhängende trügeri­sche Art unseres Bewusstseins macht uns wenig Sorgen.

 

Man kann hinzusetzen: Nicht nur unserer Redensweisen, Wahrnehmungsmuster und Projekti­onen, auch unserer Verhaltensmuster sind wir uns oft nicht mit hinreichender Deutlichkeit bewusst. Es entgeht weit­gehend unserer Aufmerksamkeit, was wir tun, wie wir es tun und was wir andern und uns selbst damit antun. Das ist die conditio humana, unter dem Aspekt des Bewusstseins und Unbewusstseins (Betriebsblindheit) aufgefasst. Theatralisch ausge­drückt spricht man von „Verblendung“. Aufmerksamkeit bezüglich der Art unseres Bewusst- und Unbewusstseins bildet den Leitfaden solcher Betrachtungen. Wie reden wir? Wie denken wir? Was wissen wir? Was interessiert uns nicht? Wie handeln wir?

 

Sokrates war also ein Urlehrer wahrer und echter Philosophie, weil er für Aufmerksamkeit auf unsere Denk-, Rede- und Verhaltensweisen eintrat. Wahrheitsfähigkeit und trügerische Art unseres Denkens werden hier gleichermaßen zum Thema. – Ausgangspunkte sind oft zu­nächst ganz andere Fragen, z. B. Fragen der Gerechtigkeit, Fragen des richtigen Lebens für den einzelnen, Fragen der politischen Ordnung für die Allgemeinheit usw.. Was sich dann aber eröffnet, sind Fragen nach dem Inhalt und der Wahrheit des menschlichen Denkens und Fragen nach der Art des menschlichen Bewusstseins in dieser oder jener Sache: unsere Be­­griffe und Redensweisen, die Abstraktions­fähigkeit unseres Bewusstseins, seine Selektivität, seine Perspektivität, seine Diskursivität, seine „Endlichkeit“, eventuell auch seine „Unend­lichkeit“. Statt „Unendlichkeit“, ein Ausdruck, der an Hegel erinnert, könnte man, vielleicht weniger missverstänlich, „Grenzenlosigkeit einer gewissen Art“ sagen: weil man voraus­setzt, dass alles, was es gibt, irgendwie sprachlich und bewusstseinsmäßig [von uns] themati­siert wer­den kann. Das sprechende Denken, obwohl weitgehend der unmaßgeblichen Mutma­ßung ver­haftet, kann auf Dinge, Situationen und Geschehnisse aller Art „irgendwie“ Bezug nehmen. „Kann“ im Sinne einer prinzipiellen Potentialität.

 

Trotz der trüge­rischen Art unseres Sprechens und Denkens setzen wir ja voraus, dass durch Sprechen und Denken etwas Wirkliches zur Darstellung gebracht werden kann. Nur durch Sprechen und Denken, kann man versucht sein zu sagen, obwohl zuzugeben ist, dass Sprache und Denken auch dazu dienen können, die Wahrheit zu verbergen und von der Wirklichkeit abzulenken.

 

Die „Unendlichkeit“ des „endlichen“ Denkens bedeutet also folgendes: Trotz der Vagheit unserer Begriffe und trotz der Selektivität der für relevant erachteten Aspekte [einer Situation] ist unser Denken [zumindest? immerhin?] prinzipiell wahrheitsfähig. Wahrheiten und Wirk­lichkeiten, die sich uns er­öffnen können, bleiben dem Medium des sprachlichen Denkens [trotz seiner Unzulänglich­keiten] prinzipiell verbunden. Medium und Mittel des sprachlichen Denkens bilden einen Ho­rizont, innerhalb dessen allein sich Wahrheiten und Wirklichkeiten eröffnen können. In Wahrheits- und Wirklichkeitsfragen ist das denkende Sprechen bzw. sprechende Denken nicht zu hintergehen, darin besteht eine der wesentlichen Eigenarten die­ses sprechenden Denkens. Darin, dass es abstrahierend und reduzierend verfährt, besteht seine Endlichkeit und Diskursivität.

 

Ob wir also von kritischer, analytischer, hermeneutischer oder dialektischer Philosophie spre­chen, es geht alles auf Sokrates’ Interesse an den Diskussions- Rede- und Verhaltensweisen zurück.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2006

 

 

Zusatz aus einem anderen Aufsatz [von der Perfidie des Orakels]:

 

Unsere Begriffe bzw. Begriffsversuche sind sehr oft  nicht hinreichend präzise, um klärenden und vertiefenden Rückfragen gerecht zu werden. Dies ist ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Berechtigung der sokratischen Nicht-Wissens-Behauptung. Ich nenne es das „Phänomen der sprachlichen Verständigung mit nicht hinreichend scharf definierten Begriffen“. Jedenfalls: „nicht in allen Kontexten hinreichend scharf definiert“. Das ist die Entdeckung des Sokrates gewesen.

 

Um diesen Aspekt der sokratischen Entdeckung zu illustrieren, wähle ich eine Stelle aus Phaidros. Im Phaidros bringt Platon eine anmutige Dialektik um die Begriffe „Liebe“, „Wahnsinn“ und „Vernunft“ in Gang. Da besonders die erotische Verliebtheit [und Liebe] manchen Formen des Wahnsinns nahe komme, wäre es nach der dort versuchten Argumentation ratsamer sich mit Nicht-Verliebten [und Nicht-Liebenden] als mit Verliebten [und Liebenden] einzulassen. Denn es ist nicht leicht mit Vernunft zu begründen, dass man der Unvernunft folgen solle, es sei denn, diese Unvernunft sei eine höhere Art von Vernunft. Die Rede von der „höheren“ Art der Vernunft führt uns aber wieder in eine schwer zu beantwortende Rückfrage.

Sokrates spricht: „In allen Dingen ... gibt es nur einen Anfang für die, welche richtig ratschlagen wollen: sie müssen wissen, worüber sie Rat pflegen, oder werden notwendig das Ganze verfehlen. Die meisten nun merken nicht, dass sie das Wesen eines jeden Dinges nicht kennen. Als kennten sie es also, verständigen sie sich nicht darüber im Anfang der Untersuchung, und im Fortgang bezahlen sie dann die Gebühr, sie sind nämlich weder jeder mit sich selbst noch untereinander einig.“ [Phaidros, 237 b –c]

Sokrates beruft sich hier also tatsächlich auf das Phänomen der sprachlichen Verständigung mit nicht hinreichend scharf definierten Begriffen, worauf die Erzeugung von Widersprüchen [und „Aporien“] in seinen Dialogen beruht. Offen an dieser Stelle ist die Frage, ob es uns gelingen kann, unseren Sprachgebrauch von vornherein so weit explizit und eindeutig zu gestalten, dass Missverständnisse und Widersprüche zu vermeiden sind. Denn die Bedeutung der Wörter beruht oft nur auf stillschweigender Übereinkunft. Versucht man aber, stillschweigende Übereinkünfte durch ausdrückliche Übereinkünfte zu ersetzen, so erlebt man, dass dies nur zu geringem Teil gelingt, mitunter aber Endlosdiskussionen und Widersprüche entstehen. Damit ist die Situation des sokratischen [wissenden] Nicht-Wissens produziert: Es ist ein Ergebnis der tat­sächlichen Dialog- und Kommunikationserfahrung, das hier beschrieben wird. Nicht hinrei­chend präzisierte Begriffe führen uns darauf, dass sich schwer entscheidbare Fragen ergeben, die niemand bündig beantworten kann. Vor allem finden sich letztlich keine Antworten mit einem allgemeinen Konsens.

 

Nov. 2016