Begriff und Wirklichkeit

 

Wir können einen Begriff bilden von der allumfassenden Raum-Zeit-Struktur der wahrnehm­baren Wirklichkeit. Damit zeigt sich, dass wir [immerhin] grundsätzlich [prinzipiell] in der Lage sind, uns denkend, also vermittelst der begrifflichen und urteilsmäßigen Beschaffenheit unseres Den­kens, auf raum-zeitlich vorhandene Dinge und Geschehnisse zu beziehen.

 

Raum-zeitliches Gegebensein [Dasein in Relationen des Neben- und Nacheinander] ist eine grundsätzliche Beschaffenheit der wahrnehmbaren Dinge, Eigenschaften, Zustände und Zu­stands­folgen. Deshalb kann man sagen, die Raum-Zeit-Struktur sei „Daseinsform“ des mate­riell Wirklichen. Dabei sind Raum und Zeit „fließende“ [„zusammenhängende“, „kontinuier­liche“] Größen.

 

Weder kleinste noch größte Raum- und Zeitteile sind begrifflich erfassbar, obwohl beliebig kleine und belie­big große Raum- und Zeitteile durchaus begrifflich erfassbar sind. „Begriff­lich erfassen“ bedeutet: etwas aufgrund einer Eigenschaft, die es tatsächlich [also gemäß einer wahren Aussage] hat, [als etwas So-und-so-Seiendes bzw. Solches-Seiendes] zu klassifizie­ren. An wahrnehmbaren Dingen und Zustandsfolgen erfassen wir z. B. Ausmaße der räumli­chen und zeitlichen Erstreckung und haben derart Begriffe von räumlichen und zeitlichen Maßen. Obwohl Raum und Zeit kontinuier­liche Größen sind und weder kleinste noch größte Raum- und Zeitteile in ihnen begrifflich erfassbar sind, ist die Beschaffenheit einer derart gegebenen Wirklichkeit mit dem begriffli­chen und aussagemäßigen Charakter unseres Den­kens zu vereinbaren.

 

„Zusammenhängend“ [kontinuierlich] steht im Unterschied zu „aus unterscheidbaren Bestandteilen zusammenge­setzt“ [diskret]. – Allerdings kann man mit Aristoteles sagen, eine Raumstrecke „bestehe aus“ Teilen, und zwar aus Teilen, die eine gemeinsame Grenze haben. Das bedeutet genau dasselbe wie, dass es [ge­mäß Denkbarkeit] keine kleinsten Raumteile geben kann, bzw. dass zwischen zwei verschiedenen Punkten, sie mögen so nah bei­einander liegen, wie sie wollen, eine Raumstrecke vorhanden ist. Das ist Folge der „Tatsache“, dass fixierte Raumteile nur innerhalb eines größeren Ganzen gedacht werden können.

 

Quantenphysikalische Zwischenbemerkung: Gemäß [quantenphysikalisch grundlegender] Grenzen der physika­lischen Messbarkeit kann es minimale Raum- und Zeiterstreckungen geben. [Heisenberg hat in dieser Richtung nachgedacht. „Hodon“ und „chronon“ wurden als Bezeichnungen der Minimalerstreckungen vorgeschlagen.] Begrifflich [gedanklich], d. i. in diesem Fall „mathema­tisch“, ist jedoch jede fixierte Größe an räumlicher und zeitlicher Erstreckung in Teilerstreckungen teilbar, in Hälften, Drittel usw.. Die Frage, ob eine Teilstrecke von etwas, die man nicht messen kann, weil sie die Mini­malerstreckung unterschreitet, existiert, lasse ich hier unbe­antwortet. Sie ist verwickelt. So weit ich sehe, neigt Weizsäcker der Ansicht zu, dass man subminimale Erstre­ckungen nicht messen kann, weil sie physikalisch nicht existieren. Wer für Raum und Zeit wegen der Quanten­physik einen „Atomismus“ minimaler Erstreckungen fordert [eine „Quantelung“], setzt m. E. trotzdem noch immer voraus, dass eine beobachtende  und experimentierende Naturwissenschaft sich auf gegebene Realitäten innerhalb einer Struktur des Neben- und Nacheinander beziehen muss, um Wirklichkeitsbezug zu haben. – Für Punkte mit der quantenphysikalischen Minimalentfernung gäbe es allerdings kein „dazwischen“. In diesem Punkt widerspricht die Quantenphysik unserer alltäglichen Intuition.

 

Kant hat seine Auffassung vom Apriori-Charakter des Raumes mit Hinweisen auf die Evidenz geo­metrischer „Sachverhalte“ gestützt. Er hat z. B. geglaubt, dass wir in erfahrungsunabhängiger Weise [ohne Beobachtung und Experiment] wissen können, dass die Gerade die kürzeste Verbindung zwi­schen zwei Punkten darstellt. Auch dass z. B. die Winkelsumme im Dreieck 180 Grad beträgt, dass der Raum drei Dimensionen der Erstreckung besitzt und vieles mehr. Er hielt die euklidische Geometrie sozusagen für eine kosmologische Wahrheit a priori. Für eine universell gültige Wahrheit, über deren Gültigkeit wir uns am Schreibtisch ohne Wirklichkeitsbeobachtungen vergewissern können. In diesem Punkt ist die Zeit über Kant hinweg geschritten. Man hat 1. nicht-euklidische Geometrien entwickelt, 2. neue Vorstellungen über die Axiomatik geometrischer System propagiert und durchgeführt, [wo­nach man z. B. in Frage stellen kann, ob man ein geometrisches System überhaupt wahr oder falsch nennen kann]. Und 3.: haben sich im Zug der Relativitätstheorien Einsteins neue Auffassungen über das Verhältnis von „Geometrie und Erfahrung“ durchgesetzt. Vom physikalischen Weltraum behaup­tet man z. B., dass er nur näherungsweise „euklidische Beschaffenheit“ besitzt. [Die Winkelsumme in tatsächlichen Drei­ecken, realisiert z. B. durch drei Lichtquellen, ist nur näherungsweise gleich 180 Grad.] Ich möchte mich nicht gegen diese Auffassungen versperren, weise jedoch darauf hin, dass Kants Auffassung der euklidischen Geometrie nicht der springende Punkt seiner Aprioritätsthese ist. Der springende Punkt besteht vielmehr im Hinweis darauf, dass vor aller Erfahrung feststeht, dass wir es in unseren Beo­bachtungen und Experimenten mit einer Wirklichkeit in [irgendwelchen] „Struktu­ren“ des Neben- und Nacheinan­der zu tun haben werden. Kants Hinweise auf die „Fakten“ der Geo­metrie und mathemati­schen Na­turwissenschaft haben sich für die Beurteilung der wesentlichen Punkte seiner Aprioritäts-Lehre als hinderlich erwiesen, weil sie uns in weitläufige mathematische und physi­kalische Grundla­genfragen hineinbringen, die man nach der tatsächlichen Diskussionsentwicklung in diesen Themen heute anders beurteilt. Dass Raum und Zeit „Anschauungen a priori“ [„Formen des Gegebenseins“] sind, bedeutet in meiner Lesart lediglich, dass irgendwelche Strukturen des Neben- und Nacheinan­derseins für die empirische Wirklichkeit fundamental und voraussehbar sind.

 

Ich plädiere dafür, das punctum saliens des Aprioritätsgedankens noch schärfer zu fassen: Es geht bei Kant nicht primär um die „Theorie der Erfahrung“, sondern um die Theorie des „synthetischen Apri­ori“, d. i. um die Theorie des [etwaigen] Gehalts nicht-empirischer Erkenntnisansprüche. Diese Theo­rie zieht in der Hauptsache eine Grenze für die theoretische Philosophie, welche ihrem Wesen gemäß zu begrifflichen Spekulationen neigt. Hier ist die Auffassung Kants, dass eine „Wissenschaft“ aus „bloßen Begriffen“ zwar möglich ist, dass sie aber auf die „Möglichkeit der Erfahrung“ beschränkt bleiben muss. Die „Möglich­keit der Erfahrung“ ist es, welche unseren [möglicherweise projektierten] Apriori-Erkenntnissen [al­lein] Realitätsbezug zu verleihen vermag. Das hängt damit zusammen, dass Begriffe ohne jeglichen Raum-Zeit-Bezug „leer“ sind. Gedanken von [gänzlich] „unraumartigen“ und „unzeitartigen“ Entitäten bringen wir zwar vermittelst „limitativer“ bzw. „ex-negativo“-Denkfiguren zustande, vermögen aber keine Inhalte dafür zu benennen. Typisches Beispiel für einen solchen Ge­danken ist der Gedanke des reinen Ich-Selbst, der von allem physischen und psychischen Gegebensein abstrahiert. Desgleichen der Gedanke eines Inbegriffs an denkbarer Realität überhaupt. Kant versuchte sich an einer Systematik solcher Denkfiguren.

 

Wir besitzen einen Begriff von einer umfassenden Beschaffenheit der wahrnehmbaren Wirk­lichkeit. Raum-zeitliches Gegebensein [also in Relationen des Neben- und Nacheinanders] ist der grundsätzliche Charakter wahrnehmbarer Dinge, Eigenschaften und Zustandsfolgen. Die­ser Begriff [der umfassenden Beschaffenheit] ist nicht sehr detailliert. Ich möchte hier nicht behaupten, dass wir ein erfahrungsunabhängiges Wissen über Topologie und Metrik des Weltraums hätten. Ob wir z. B. in einem Kubusraum leben oder in einem Raum anderer to­pologischer Struktur, ob wir z. B. in einem Raum mit euklidischer Metrik leben oder in einem Raum mit einer anderen Metrik, wie es die Relativitätstheorie annimmt. Dennoch ist der Beg­riff einer umfassenden Struktur des Neben- und Nacheinander der Begriff von etwas Voraus­zusehendem [Vorauszusetzenden] vor aller beobachtenden und experimentierenden For­schung [Erfahrung, Empirie].und insofern ein „Wissensinhalt“ „a priori“.

 

Unser Denken ist begrifflich und aussagemäßig [„verfasst“ oder „strukturiert“]. Wir denken zwar selten in klaren, scharfen und eindeutigen Begriffen, dennoch aber ist unser Denken begriffs- und aussageorientiert. – Man könnte sagen: „begriffs- und aussage[ver]suchend“. Oft sind die Voraussetzungen unserer Aussagen ungeklärt und unerklärt. [Bei der Reflexion auf den Inhalt unserer „Begriffsversuche“ bemerken wir oft, dass wir keine eindeutigen und scharfen Begriffe haben. „Begriffsversuch“ und Wort waren u. U. „wohlfeiles Ungefähr“.]

 

Denken ist Denken von etwas Gedachtem, Denken ist Denken [und Denkbarkeit] von etwas Denkbarem. Die Denk­barkeit selbst respektiv aller Denkbarkeiten ist das „Subjekt“ meines Denkens [Bewusstseins], das „reine“ Ich-Selbst be­züglich all dessen, was ich zu denken ver­mag. Dies ist dasselbe wie die „Form des Bewusst­seins“ im Unterschied zu allen seinen In­halten. Das Bewusstsein selbst [die Denkbar­keit selbst] [im Unterschied zu seinen Inhalten] ist insofern weder physischer noch psychischer, noch abstrakt geistiger Art, sondern Mög­lichkeit des Be­wusstseins selbst, wovon auch immer, Möglichkeit des Bewusstseins über­haupt. Das reine, nicht-empirische Ich, diese „absolute“ [„unbedingte“] Bedingung all meines Denkens, ist nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeit meines Bewusstseins selbst.

 

Mit ähnlichem Recht, wie Wittgenstein von der „Unhintergehbarkeit der Sprache“ gesprochen hat, möchte ich von der „Unhintergehbarkeit meines Bewusstseins“ sprechen. Dabei bestreite ich nicht, dass „Sprache“ ein un­vermeidliches Mittel des Denkens ist. Ich möchte nicht behaupten, dass es Bei­spiele für ein Denken  außerhalb der Sprache gäbe. Diese Existenz-Behauptung liefe m. E. auf eine objektiv unentscheidbare Frage hinaus. Aber ich möchte auf folgendes hinweisen: Es kann u. U. so sein, dass ich träume, mit andern zu sprechen, und in Wirklichkeit doch schlafe. Ich weiß in diesem Falle nicht über meinen objektiven Zustand Bescheid. Ich bin vielmehr in der Illusion eines Traumes befangen. Dennoch kann ich selbst in dieser „Situation“, von der ich objektiv nichts weiß, darauf aufmerksam werden, dass ich als Subjekt meines Bewusstseins existieren muss, um mir irgendwelcher Vermeintlichkeiten [Denk- oder Bewusst­seinsinhalte] bewusst zu sein.

Das Dasein der Dinge „außer­halb“ meiner selbst möchte ich nicht generell bestreiten, aber es hat nicht dieselbe Art von Unbezweifelbarkeit wie sie die Gewissheit der „unbedingten“ Vor­aussetzung des Bewusstseins [Den­ken] hat, bezüglich all dessen, was ich denke.

Wichtig ist hier, das Wort „Vor­aussetzung“ im Sinne einer „inneren“ und nicht im Sinne einer „äußeren“ Vor­aussetzung zu nehmen. Natur und Kultur haben „mich“ als ein Wesen hervorgebracht, das denken, träumen und wachen kann. Insofern kann auch diese natürliche und historisch-kulturelle Vorgeschichte „Voraussetzung mei­nes Denkens“ genannt werden. Dies aber wäre „äußere“ Voraussetzung. Bei der Rede von „innerer“ Vorausset­zung wiederum ist zu beachten, dass es kein physisches und auch kein psychisches Innen ist, von dem wir spre­chen, wenn wir vom Subjekt des Be­wusstseins als „innerer“ Voraussetzung des Bewusstseins sprechen.

Zudem, was die Sache noch schwieriger macht: dieses Subjekt ist auch kein „spiritueller Wesenskern“ meines Bewusstseins. Warum nicht? – Weil es um die Möglichkeit des Bewusstseins geht unter Beiseite-Setzung von allem, worauf es sich beziehen könnte. Also dürfen wir nicht wiederum einen Inhalt des Bewusstseins oder einen Gegenstand des Bewusstseins daraus machen. Wir sind uns seiner als „Form des Bewusstseins“ bewusst und wollen nicht vergessen, dass die Denkrezeptur des inneren Ich es uns verwehrt, das „innere Ich“ zu einem voll­gültigen Gegenstand der besonderen Art zu komplettieren.

 

Man kann bezüglich des nicht-empirischen Ich-Selbst auch vom „Zentrum“ meines Bewusst­seins sprechen. Die prinzipielle Möglichkeit meines Denkens [„überhaupt“] ist nach diesem Bild „inneres Zentrum“ meines Bewusstseins, das „Dass“ der Möglichkeit des Bewusstseins über­haupt, die Inhalte meines Denkens, also das, was ich denke, sein „Was“ oder „Wovon“, wären demnach [„äußere“] „Peri­pherie“. „Zentrum“ des Bewusstseins ist aber nicht im Sinne von „Fokus“ des Bewusstseins [oder der Aufmerksamkeit] zu verstehen. Im Zentrum [Fokus] der tatsächlichen, sub­jektiven Auf­merksamkeit steht das reine Ich relativ selten.

Man kann sagen: „Fragen der Möglichkeit des Bewusstseins stehen selten im Fokus der Auf­merksamkeit und sind uns inso­fern nicht bewusst.“ Plakativ [nach C. F. v. Weizsäcker]: „Be­wusstsein ist ein unbewusster Akt.“

Für sich selbst genommen ist es [das Zentrum meines Bewusstseins] wesentlich inhaltsleer und in gewisser Hinsicht sogar lediglich eine Art von Fiktion. Warum ist es eine Art von Fik­tion? - We­gen seiner völligen Inhaltsleere. Ich erlaube mir die paradoxe Formulierung: „das reine Ich ist ein Etwas, das kein richtiges Etwas ist.“ Es ist nicht aus Fleisch und Blut, es ist weder kör­perlich noch psychisch vorhanden. „Alle Dinge sind nicht das Ich“, sagt der Buddha, der mit diesem Aus­spruch Phänomen und Problem des reinen Ich-Selbst-Gedankens mit unüberbiet­barem Scharfsinn darstellt.

 

Kant hat den Gedanken des „reinen Ich“ aus der europäischen Tradition aufgefasst, zum einen aus der Linie „Descartes-Leibniz“, zum andern aus der Linie „Locke-Hume“. Ich halte es der Erwähnung für wert, dass Refle­xionen auf das Ich des Bewusstseins auch in der fernöstlichen Tradition existieren. Die Zurückweisung der hin­duistischen Atman-Lehren durch Buddhas Anatta-Lehre ist ein Beispiel dafür, dass auch hier der nicht-gegen­ständliche Charakter des reinen Ich in scharfsinniger Weise diskutiert worden ist. Der Buddha hat den gegen­ständlichen Charakter des reinen Ich-Selbst nicht anerkennt, und zwar auch dann nicht, wenn man im Ich-Selbst ein nicht-empirisches, metaphysisches oder spirituelles Etwas sieht. – Dass dieses Thema auch in der fernöstli­chen Tradi­tion existiert, werte ich als Anhaltspunkt dafür, dass die Frage nach dem Ich-Selbst nicht nur eine Folge konven­tioneller Sprechgepflogenheiten im europäischen kulturellen Umfeld darstellt. Wobei bei anderen Gepflo­genheiten diese Überlegungen schlechthin unverständlich wären. Ich sehe in diesen Diskussionen [bezüg­lich des gegenständlichen Charakters des „reinen Ich“] ein Indiz dafür, dass die Frage nach dem „reinen Ich“, dem Subjekt des Bewusstseins, mit der „Natur“ [dem „Wesen“] des menschlichen Denkens zusammenhängt.

Man kann auch sagen, dass solche Fragen typische Phänomene des menschlichen Wesens betreffen, oder dass sie aus der „Verfassung des mensch­lichen Daseins“ resultieren.

[Man könnte das Sanskrit als Wurzel des Ich-Gedankens ansehen. Weil wir innerhalb derselben Sprachfamilie denken, sollte uns die prominente Rolle des Ich-Gedankens in der fernöstlichen Tradition nicht verwundern. Die Frage, die sich nun erhebt, wäre folgende: „Gibt es eine Sprachtradition, in der sich der Subjekt-Gebrauch des „ich“ nicht übersetzen lässt?“]

[Subjektgebrauch von „ich“ findet, wenn ich glaube, bestimmte Empfindungen oder Wahrnehmungen zu haben. Ich kann mich dann nicht irren derart, dass da zwar [subjektive] Empfindungen oder Wahrnehmungen sind, aber nicht ich es bin, der sie hat. Wenn ich mich als die oder jene Person „identifiziere“, handelt es sich um „Objekt-Gebrauch“. Hier kann mich durchaus mit jemand oder etwas verwechseln.]

 

Man kann nun aus der Inhaltslosigkeit des reinen Ich-Selbst verständlich machen, warum un­ser Denken begrifflicher und aussagemäßiger Art sein muss. Dies geschieht auf folgende Weise:

 

Vieles und vielerlei  kann Inhalt des Denkens sein und somit gedacht werden. – Dass ich vie­lerlei zu denken vermag, sei es nun lediglich subjektiv oder sogar objektiv „berechtigt“ [an­gemessen], sei vorausgesetzt, obwohl ich zunächst im Einzelnen nichts behaupten will. Ich möchte auf Folgendes hinaus: Aus der Inhaltslosigkeit des Ich [allein und für sich selbst ge­nommen] folgt nicht die Annahme von bestimmten subjektiven oder objektiven Gegebenhei­ten. [Es gibt keine „Deduktion“ oder „Konstruktion“ von Inhalten subjektiver oder objektiver Art allein aus dem Ich-Bewusstsein allein.] Ich kann mir allerdings ganz allgemein klar ma­chen, dass die Form des Denkens überhaupt mit unter­schiedlichen Inhalten zu vereinbaren ist.

 

Etwas Bestimmtes denken im Unterschied zu etwas anderem, was ich damit nicht denke, kann ich nur, indem ich einen Inhalt denke, der einen unterschiedlichen Inhalt ausschließt. Hier gilt Spinozas Diktum: „omnis determinatio est negatio.“ Dies ist ein logischer Satz, weil er die Denkbarkeit von bestimmten Denkbaren ganz allgemein betrifft. – Einheit der Unterschiede besteht bei irgendwelchen Unterschieden darin, dass sie gleichermaßen Denkbarkeiten dar­stellen. Aber das Denken eines bestimmten Inhaltes ist das Denken dieses Inhaltes, indem es nicht das Denken eines anderen Inhalts ist.

 

Das inhaltsleere Ich meines Bewusstseins ist eine [die] nicht-empirische Bedingung meines Denkens überhaupt. Es steht für die Möglichkeit des Bewusstseins vonseiten der bloßen Denkbarkeit. Ein Begriff dagegen steht für die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu denken, indem etwas anderes durch ihn nicht gedacht wird.

 

Etwas denken, im Sinne des Denkens eines bestimmten begrifflichen Inhalts, heißt, über ein gedanklich erfasstes Kriterium zu verfügen, um eventuell vorhandene Gegenstände in solche zu unterscheiden, auf die es [das Kriterium] zutrifft, und solche, auf die es nicht zutrifft. Inso­fern ist ein Be­griff mit einer mengenbildenden gedanklichen Regel gleichzusetzen. Ich kann auch sagen: mengenbildendes Kriterium. Begriffe sind wesentlich Klassifi­katoren. Um fest­zustellen, ob ein Begriff, über den ich denkend verfüge, in gegebenen Einzelfäl­len zutrifft oder nicht zutrifft, muss ich wahre Aussagen tätigen bzw. zutreffende Urteile fäl­len. Um ver­mittelst von Begrif­fen etwas von etwas zu denken [zu können], muss ich urteilen [können]. Damit ist gesagt, dass ein unterscheidendes, bestimmtes Denken von etwas [bezüglich von etwas] begrifflich und urteilsmäßig „verfasst“ [„strukturiert“] sein muss. Aus Gründen seiner „inneren“ Mög­lichkeit.

 

Das Problem, dass wir nicht mit scharfen und eindeutigen Begriffen denken, sondern besten­falls mit hinreichend scharfen und eindeutigen Begriffen, bedeutet, dass wir immer wieder vor Situationen stehen, in denen wir nicht wissen, ob unser Begriff zutrifft oder nicht zutrifft, weil sein Inhalt nicht genügend scharf definiert ist, um für diese Situation eine Entscheidung tref­fen zu können. So ist es z. B. bei der scharfen Unterscheidung von Pflanze und Tier im Falle mancher Algen. Oder bei der Unterscheidung von lebendiger und toter Materie im Falle von Viren usw. usw.. In all diesen Fällen ergibt sich die Frage, was wir mit unserem Begriff „ei­gentlich“ den­ken und was nicht. Es entstehen Reflexionen über Begriffsinhalte, die anzeigen, dass wir nicht für alle Fälle entscheiden können, was die Inhalte unserer Begriffe sind. Aber manche von ihnen sind dennoch für verschiedene Situationen hinreichend scharf „definiert“. [Die „Logik“ unserer Alltagssprache ist m. E. sehr weitgehend eine „Fuzzy“-Logik der offe­nen, d. h. unerklärten und ungeklärten Präsuppositionen.]

 

Begriffe sind erkenntnismäßige Kriterien, etwas als etwas [bestimmter Art] zu klassifizieren.

 

Um Erkenntnisse [der wahrnehmbaren Wirklichkeit] zu haben, müssen wir raum-zeitlich Vorhandenes begrifflich bezeichnen und klassifizieren können.

 

Es ist eine „logische“ Anforderung an etwaige Erkenntnisse, dass sie begrifflicher und ur­teilsmäßiger Art sein müssen. Nicht nur, dass sie [unsere etwaigen Erkenntnisse] keinen Wi­derspruch beinhalten dürfen, sondern auch bzw. vor allem, dass sie nur vermittelst von be­grifflichen und aussageartigen „Bestandteilen“ denkbar sind, ist „logische“ Anforderung. „Logisch“ sind die Anforderungen der „Denkbarkeit“.

 

Im Medium des subjektiven Bewusstseins bilden wir Begriffe und verknüpfen diese zu Aus­sageinhalten und die Aussagen wiederum miteinander. Vermittelst dieser Strukturen ver­knüpft sich unser inhaltsleeres Ich mit bestimmten Inhalten. Derart vermag mein Bewusstsein das Denken von etwas zu sein. Jegliches bewusste Innewerden von etwas, auch die Aufmerk­samkeit auf „eigentlich“ widersinnige Trauminhalte beruht auf der Vereinbarkeit der Auf­merksamkeitsinhalte mit dem inhaltsleeren Bewusstseinszentrum. Die allgemeine Logik weiß dabei nichts von der subjektiven oder objektiven Existenz irgendwelcher Bewusstseinsinhalte. Sie weiß lediglich davon, dass wir ohne begriffliche und urteilsartige Strukturen in unserem Bewusstsein die „logische Form“ irgendwelcher Wirklichkeitsauffassungen nicht haben könnten.

 

Hat der „Geist“, dieses inhaltsleere Bewusstseinsinnere, die Denkbarkeits-Form der Wirk­lichkeit „hervorgebracht“? – Das kann man nur in einem bestimmten Sinne sagen: „Er setzt sie einfach voraus.“ Von einer prinzipiell undenkbaren Wirklichkeit können wir nichts den­ken, nicht einmal dies, dass sie existieren könnte. – Das heißt natürlich nicht, dass auch das, was wir „faktisch“ nicht denken, nichts Denkbares sein könnte. Vermutlich sogar das meiste von dem, was wirklich ist, wurde von uns niemals bedacht.

 

In der theoretischen Philosophie untersuchen wir Fragen äußert allgemeiner Art wie die, ob wir über die Art unserer Erkenntnis und der von ihr betroffenen Gegenstände etwas Umfas­sendes sagen können. Das ist Kants synthetisches Apriori, mit dem wir Erkennbarkeiten in prinzipieller Weise von nur scheinbaren Erkennbarkeiten sondern möchten.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2005