Die Sprache ist das Fass des Seins

 

Dieser Text ist eine Parodie auf Heideggers Satz: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ [Humanismusbrief]. Nach H. vollbringt das Denken den „Bezug des Seins zum Wesen des Menschen.“ „Im Denken“ des Menschen komme „das Sein zur Sprache“. In „ihrer Behausung“ wohne der Mensch. Sein und Mensch bewohnen also gemeinsam die Sprache als Haus, indem im Denken des Menschen das Sein zur Sprache gelange.

 

Die Sprache ist das Fass des sprachlich Fassbaren, das Fass des Seins. Sprechend mit andern, auch innerlich mit uns selbst, ver­mögen wir Fassbares zu erfassen. Das Erfasste des Gefassten ist das sprachlich Gefasste. Wirkliches, Mögliches, Gutes und Schlechtes, auch Unwirkliches, Unmögliches wird sprach­lich umfasst, erfasst und gefasst.

 

Das Umfassende des sprachlichen Umfassungsvermögens umfasst das sprachlich Erfassbare insgesamt. – Nur sprachlich Erfassbares kann im Einzelnen zur Sprache gebracht werden. – Die Sprache ist ein umfassendes Thematisierungsvermögen, bezogen auf den Umkreis des sprachlich Erfassbaren, des sprachlich Verfassten. – Inwiefern kann das Umfassende des sprachli­chen Fassens ebenfalls sprachlich gefasst werden? Dies läuft auf die Folge-Frage hinaus, ob sich das umfassende Themati­sierungsvermögen selbst zu thematisieren vermag. – Ge­nauer: ob ich, vermittelst meines Thematisierungsvermögen das umfassende Thematisie­rungsvermögen selbst zu thematisieren vermag.

 

Sprachlich nicht Gefasstes kann nicht mitgeteilt werden, weil ihm die sprachliche Fassung fehlt. – Aber die Sprache ist nicht nur Werkzeug der Mitteilung und des Austauschs. Vor der Frage der Mitteilung und des Aus­tauschs steht bereits die Frage des Begreifens. Das bereits ist eine Frage des Fassens und Erfassens. Mit ungeeigneten Worten und Begriffen erfasst man das Fass­bare nicht, jedenfalls nicht richtig und auf angemessene Weise, man bringt es nicht (richtig und auf angemessene Weise) zur Sprache, damit auch nicht richtig und auf angemessene Weise ins Licht des Bewusstseins.

 

Das sprachlich nicht Erfassbare ist das Unaussprechliche, das Unsagbare, das Unnennbare. Dieses gibt es in zwei Varianten: relativ und absolut. Das Unaussprechliche in dieser oder jener Hinsicht, oder das Unaussprechliche schlechthin, prinzipiell. Das Erste: Unaussprech­lich in Situationen dieser oder jener Art, gemäß Erfordernissen des Anstands, der correctness usw. Wer es mit den tonangebenden Kreisen nicht verderben möchte, für den ist es ratsam, gewisse Dinge nicht zur Sprache zu bringen oder nur in einer Weise, die als akzeptabel gilt. - Unser Sprechen unterliegt also diversen Normierungen. - Das Zweite: Principialiter unaus­sprechlich, namenlos, - unbegreiflich schlechthin. Inwiefern es dergleichen geben kann, wird uns hier zur Frage.

 

Sprachlich Fassbares ist deshalb, weil es erfassbar ist, noch lange nicht zur Sprache gebracht. Aber zur Sprache bringen können wir nur sprachlich Fassbares. Zur Sprache gebracht ist es dann ein sprachlich Erfasstes und Gefasstes.

 

Manches wird nicht zur Sprache gebracht, weil es einfach nicht üblich ist, dass es zur Sprache gebracht wird. – Manches darf nicht einmal zur Sprache gebracht werden, oder nur in ganz besonderen Situationen und in ganz besonderer Weise. Mit dem, was einer zur Sprache bringt und auch mit der Art, wie er es tut, kann er das Empfinden anderer verletzen.– Manches darf nur mit verhüllendem Aus­druck zur Sprache gebracht werden. Mit der Sprache lenken wir unsere Aufmerksamkeit, ap­plizieren vorab und meist insgeheim irgendwelche schnellen Werturteile und Stimmungen, bringen bestimmte Sachverhalte zur Darstellung und verstellen den Blick für an­dere As­pekte und Sachverhalte, oft alles zugleich in einem intransparenten Durcheinander. Wir offen­baren und verhüllen in einem, auch der Affekt- und Stimmungsaus­druck darf nicht zu kurz kommen. – Unser Sprechen ist perspektivisch und tendenziös wie unser Be­wusstsein auch.

 

Sprachlich Erfassbares kann in angemessener und in unangemessener Weise erfasst und ge­fasst werden.

 

Die wahre Rede, der richtige Logos, die richtig verknüpften Logoi, besteht [bestehen] in einer Fassung des Fassbaren. Sie beinhalten eine Fassung des Fassbaren. Fassbares wurde in eine Fassung und auf angemessene Weise zur Sprache gebracht. – Es geht um die Aussageinhalte unserer Prädikationen und Prädikationsverknüpfungen.

 

Nochmals zur Unfassbarkeit in puncto „inneres Erleben“. – Die Sprache reicht irgendwie an das innere Erleben nicht heran, dieser oft genannte Sachverhalt ist hier zu klären. Klar ist an dieser Stelle, dass vieles Fassbare nicht zur Sprache gebracht wurde, wird und werden wird, allein schon wegen der „Fülle des Daseins“. Aber wir möchten die Frage der Existenz des prinzipiell Unfassbaren erörtern. – Was spricht dafür, was dagegen? – Oder unentscheidbar?

 

Führt uns unser Erleben und Empfinden darauf, dass etwas Unsagbares in uns vorgeht, wel­ches als unaussprechlich, namenlos und unthematisierbar in prinzipieller Hinsicht zu fassen ist? Auf die fassbare Existenz eines prinzipiell Unfassbaren? – Denn soviel müssten wir wirklichkeits- und wahrheitsgemäß zumindest sagen können: „Da ist etwas Unfassbares, Na­menloses, Unaussprechliches.“ – Man müsste also auf einer höheren Reflexionsebene sagen können: „Fassbar, dass etwas Unfassbares existiert.“ Aus dem Umkreis behauptender Rede sind wir nicht heraus. – Es ist auch schwer, aus diesem Umkreis herauszukommen, wenn man etwas behaupten will.

 

Bei Kant ist es ähnlich, aber doch etwas einfacher mit dem „Ding an sich“. – Er unterscheidet Denkbarkeit, Kriterium „Widerspruchsfreiheit“ und Erkennbarkeit, Kriterium „Denkbarkeit und mögliches Gegeben­sein“. Das Erkennbare ist Teilbereich des Denkbaren, weil wir von den Bedingungen des Ge­gebenseins zu abstrahieren vermögen und Begriffe von nicht-empiri­schen Entitäten bilden können, teilweise sinnvoll, wie bei den Zahlen und geometrischen Konstruktionen, teilweise aber auch völlige Überflieger, in der transzendenten Metaphysik. Hier nun die Aussage:

 

„Der Begriff „prinzipiell unerkennbarer Sachverhalt“ hat eine In­stanz [einen Anwendungsfall].“

 

Diese Aussage ist eine unent­scheidbaren Aussage. Wegen Fehlens von Bedingungen des Gegeben­seins. Also die Aussage „es gibt min­destens ein Ding an sich“ widerstreitet einer maßgebli­chen Erkenntnisbedingung. Die gegen­teilige Aussage „es gibt kein Ding an sich“ übrigens ebenfalls. – So ist das bei Kant. - Bezüg­lich Denkbarkeit [des Dings an sich] gibt es kein Problem, weil hier lediglich Widerspruchsfreiheit gefordert ist, die Begriffe aber leer sein können. – Der Begriff „Ding an sich“ ist in diesem Sinn also ein leerer Begriff, ein Beg­riff ohne entscheidbare In­stanz, ohne „Gegenstand“, sogar „ohne möglichen Gegenstand.“

 

Allerdings ist Kant in diesen Redeweisen nicht konsequent geblieben, redet zum Teil auch von „Ding an sich“ als „Ursache“ der „Erscheinung“. – G. Prauss hat das alles akribisch ge­sammelt. – Aus der praktischen Philosophie, wo es um „Kausalität“ der ethischen Vernunft geht, kann er gewisse Entschuldigungsgründe in Anspruch nehmen, aber insgesamt hat es zu viel Verwirrung geführt. Von Anfang an. Jakobi, Fichte, usw.. – Kausalität ist ja in der K.r.V. als Konditional zweier Urteile defi­niert, „wenn Zucker ins Wasser käme, würde er sich auf­lösen“. Solche Zusammenhänge sind, wenn es um theoretische Wahrheit geht, natürlich raum-zeitlich restringiert. Die An­nahme von Kausalität im Zeitfolgegeschehen bedeutet ja, dass ein raum-zeitliches Ereignis auf ein  anderes raumzeitliches Ereignis nach einer erkennbaren Re­gel folgt. Z. B. der bewährten Hypothese und Regel „wasserlöslich“.

 

Und wie ist es mit der Denkbarkeit des prinzipiell Undenkbaren? – Zählen die Undenkbar­keiten auch unter die Denkbarkeiten? – Nein, hölzerne Eisen, quadratische Kreise, Primzah­len, die auch Quadratzahlen sind usw., ent­halten einen widersprüchlichen, sich selbst aufhe­benden Begriff. Beim hölzernen Eisen fängt man sozusagen an mit dem Holz und hebt es durch das Eisen wieder auf, das ist ein wider­sprüchli­cher Aussageinhalt, wenn ein Prädikat dergleichen Widerspruch in sich birgt, kann es nur dort zugesprochen werden, wo es auch negiert werden muss, welches die Möglichkeit der Aussage aufhebt. Dergleichen Prädikat entspricht etwas Unfassbarem – Die Sprache erlaubt allerdings Widersprüche, die nur schein­bar welche sind und deshalb zu den besonderen Dar­stellungsmitteln zählen. Z. B.: „Das menschliche Leben ist der Bereich, in dem sich die un­menschlichsten Machtkämpfe abspie­len.“ „Weniger ist mehr.“ -

 

Der Fall „Denkbarkeit des prinzipiell Denkbaren“ ist analog „Fassbarkeit des prinzipiell Fass­baren“. Die Fragen „Denkbarkeit des prinzipiell Undenkbaren“ und „Fassbarkeit des prinzi­piell Unfassbaren“ laufen wohl parallel. Sprache, Denken und Bewusstsein wohl auch, weil man das Denken als ein Sprechen mit sich selbst, ohne Außengeräusch, auffassen kann. Wenn man also beim Hören einer Musik etwas fühlt, was man nicht recht zur Sprache zu bringen weiß, deutet das vielleicht auf sprachliche Fassbarkeit der Existenz eines sprachlich Unfassba­ren hin. – Möglicherweise aber ist es einfacher: Die Musik vermag uns zu einer Stimmung und zu Gefühlen anzuregen, welche etwas anderes sind als das sprachliche Erfassen eines Fassbaren. – Ich möchte unser Ausfassungsvermögen nicht vorschnell mit unserem sprachli­chen Auffassungsvermögen gleichsetzen. – Aber zur Sprache gebracht werden kann nur das sprachlich Erfassbare.

 

Frage, für den Fall der Musik, der ästhetischen Wahrnehmung usw.: „Muss es wirklich die sprachliche Erfassbarkeit der Existenz eines sprachlich Unfassbaren sein, die wir ins Spiel bringen? Genügt nicht vielleicht der Hinweis darauf, dass wir von sprachlichen Erfassbarem nur einen geringen Teil wirklich zur Sprache bringen? – Wie führt man das Problem am bes­ten ein? Sprachunabhängige, vorsprachliche Vorstellungen, nicht einmal sprachförmig „af­fin“, gänzlich disparat? Aber doch fassbar, was seine Existenz anbelangt?

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2012