Kants Unterscheidung von „Erscheinung“ [„phaenomenon“] und „Ding an sich“ [„noumenon“]

 

Einleitung

 

Es ist eine oft besprochene Frage, ob Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des „Ding(s) an sich“ ein legitimes Kapitel in einer Untersuchung über die Grenzen des Wissens sein kann. Kann man bezüglich der Existenz oder Nicht-Existenz eines unerkennbaren Etwas legitime Erkenntnisansprüche haben? Steht man mit der Doktrin eines unerkennbaren An-Sich-Seins noch auf dem Standpunkt der kritischen Fragestellung: „Was und wie kann ich wissen?“

 

Ich versuche eine Rekonstruktion und Rechtfertigung anhand der Kantischen Unterscheidung von Denken und Erkennen.

 

Hauptteil

 

Kant unterscheidet Denkbarkeit und Erkennbarkeit. Denkbarkeit des Denkbaren bedeutet z. B.: etwas ist von etwas denkbar. Analog bedeutet Erkennbarkeit des Erkennbaren: etwas ist von etwas erkennbar [gültig]. Zureichendes Kriterium der Denkbarkeit ist Widerspruchsfrei­heit, z. B. ein widerspruchsfreier Begriff [Aussageinhalt], z. B. eine widerspruchsfreie Aus­sage [Beg­riffsverknüpfung]. Kriterium der projektierten Erkennbarkeit ist: „Denkbarkeit plus mögliches Gegeben­sein“. Die Aussageinhalte müssen im Falle „Erkennbarkeit“ direkt oder indirekt auf raumzeit­lich Gegebenes referieren. – Auch der Bezug auf die bloße Möglichkeit des Gege­benseins kann für legitime Erkenntnisansprüche ausreichend sein. Wenn man sich z. B. auf Strukturen möglichen Gegebenseins bezieht. – So deutet Kant Arithmetik und Geomet­rie ei­nerseits, ande­rerseits auch allgemeine naturphilosophische Grundsätze wie z. B. Sub­stanzer­haltung und den Kausalnexus des bedingten Da- und Soseins. – Solche Sätze deutet er als Grundsätze der „Möglichkeit von Erfahrung“.

 

Denkbar ist also das widerspruchsfrei-Aussagbare. Wovon ein widerspruchsfreier Aussagein­halt der Aussageinhalt ist. – Widerspruchsfreiheit ist hier bereits hinreichendes Kriterium. - Das Erkennbare dagegen ist lediglich Teilbereich des Denkbaren, also eine auf mögliches Gege­bensein eingeschränkte Denkbarkeit. – Die Denkbarkeit ist im Falle der Erkennbarkeit also lediglich conditio sine qua non, es fehlt [der Denkbarkeit][zur Erkennbarkeit] noch die Möglichkeit sach­haltiger Referenz. Wir vermögen [denkend] dennoch von den Bedingungen des Ge­gebenseins zu abstra­hieren, ja sogar Begriffe von nicht-empiri­schen Entitäten zu bilden, teilweise sinnvoll, wie bei den Zahlen und geomet­rischen Konstruktionen, teilweise aber auch völlige Überflieger, wie in der transzendenten Metaphysik. Z.B. spekulative Gedanken über die Möglichkeit bestimmten So-Seins als Ein­schränkung eines Inbegriffs denkbaren Seins überhaupt.

 

Hier nun eine transzendent-spekulative Aussage:

 

„Der Begriff „prinzipiell unerkennbarer Gegenstand“ hat mindestens einen Anwendungs­fall.“

 

Diese Aussage ist eine theoretisch unent­scheidbare Aussage. Wegen Fehlens von Bedingun­gen des Gegeben­seins. Also die Aussage „es gibt [min­destens] ein Ding an sich“ widerstreitet einer maßgebli­chen Erkenntnis[gültigkeits]bedingung. Die gegen­teilige Aussage „es gibt kein Ding an sich“ übrigens ebenfalls. Das Sachbezugserfordernis des Begriffs „Ding an sich“ [„prinzipiell unerkennbarer Gegenstand“] fehlt nämlich in beiden Fällen. Gemäß der Doktrin, dass die Erkennbarkeiten lediglich einen Teilbereich der Denkbarkeiten sind, gibt es Denkbarkeiten, die in ihrer Erkennbarkeit [Erkenntnisgültigkeit] unentscheidbar sind. – Das Prädikat „... ist ein Ding an sich“ ist sozusagen prin­zipiell unrealisierbar oder undarstellbar. - Bezüg­lich Denkbar­keit [des Dings an sich] gibt es kein Problem, weil hier lediglich Wider­spruchsfrei­heit gefor­dert ist. Aber die Begriffe können leer sein, ohne Inhalt, ohne Bezug auf die „Mög­lichkeit des Gegebenseins“, ohne Bezug auf Darstellbarkeit bzw. Anwendbarkeit in möglicher Empirie . – Der Begriff „Ding an sich“ ist in diesem Sinn also ein leerer Begriff, ein Beg­riff ohne entscheidbaren Anwendungsfall [In­stanz], ohne „Gegenstand“, sogar „ohne möglichen Gegenstand.“ – „Ding an sich“, „ens rati­onis“, „reines Gedankending“ sind also dasselbe. – Deshalb fällt das Ding an sich unter eine Rubrik des Nichts: „leerer Begriff ohne Gegenstand“! [Tafel des Begriffs von Nichts, B 348] [siehe die zitierte Passage in der Anmerkung!]

 

Allerdings ist Kant in diesen Redeweisen nicht konsequent geblieben, redet zum Teil auch von „Ding an sich“ als „Ursache“,  „Grund“, „Korrelat“, „andere Seite der „Erscheinung“. – G. Prauss hat das alles akribisch ge­sammelt. – Aus der praktischen Philosophie, wo es um „Kausalität“ der ethischen Vernunft geht, kann Kant [m. E.] möglicher Weise gewisse Ent­schuldi­gungsgründe in Anspruch nehmen, aber insge­samt hat es zu viel Verwirrung geführt. Von Anfang an. Carl Leonhard Reinhold, Gottlob Ernst Schulze, Friedrich Heinrich Jakobi, Fichte, usw.. [Folie] – Kausalität ist ja in der K.r.V. als Konditional zweier Sachverhalte defi­niert, „wenn Zucker ins Wasser käme, würde er sich auf­lösen“. – Die Regel [dispositio­nale Eigenschaft] „Wasserlöslichkeit“ ver­knüpft hier zwei zeitfolgebestimmte Ding-Zustände bzw. Situationen. Solche Zusammen­hänge sind, wenn es um theoretische Wahrheit, um Er­kennbarkeit, geht, natürlich raum-zeit­lich restringiert. Die An­nahme von Kausa­lität im Zeitfolgegeschehen, als Prinzip bedingter Sachverhalte, bedeutet ja, dass ein raum-zeitliches Ereignis auf ein ande­res raumzeitli­ches Ereignis nach einer erkennbaren Re­gel folgt. Z. B. nach der bewährten Hypo­these „Zucker ist wasserlöslich“.

 

Denkbarkeit hat als zureichendes Kriterium die Widerspruchsfreiheit allein und kann deshalb von allen Bedingungen des Gegebenseins völlig abstrahieren. Sozusagen ein reiner Selbstläu­fer. In einer Denkfigur via negationis [ex negativo, limitativ,] können wir daher den Begriff von Denkbarkei­ten in’s Spiel bringen, welche ganz anderen Sachbezugs- und Gegebenheitsbedingungen un­terliegen als unsere empirischen, auf eine raum-zeitlich ausge­breitete Körperwelt bezogenen Erkenntnisse. Wir können sagen: „nicht-räumliche und nicht-zeitliche, jenseitige Dinge sind das“. Aber eine bejahende Bestimmung gelingt uns nicht, nur der limitative Gedanke „ganz anders als“ ge­lingt uns. – Aber eine Denkbarkeit stellt dieser li­mitative Gedanke, ex negativo, durchaus dar. – Nur in puncto „legitimierbare Erkenntnis“ fehlt die Bedin­gung einer [mögli­chen] sach­haltigen Referenz. Davon hatte man aber auch vorher abstrahiert. Das darf man im Nachhi­nein nicht vergessen.

 

Andere Formen des Gegebenseins, andere Formen des Daseins von einer ganz andersartigen Materie [des Denkens], also andere For­men als die raum-zeitliche Ausbreitung, die wir ken­nen, kann man sich also ex negativo, limitativ, durchaus den­ken, man kann davon nachdrück­lich behaupten, dass sie mit un­serem Raum und unserer Zeit nicht identisch sein können. O. K., bei diesem „nicht“ muss man es aber belassen. Man kann nicht sagen, was denn für andere Formen des Gegebenseins ansonsten noch in Frage kommen. – Selbst von Nagels Fledermaus, von der wir nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, nehmen wir an, dass sie die Objekte ihrer Begierde und Ablehnung raum-zeitlich ortet, also in Relationen des Neben- und Nacheinander..

 

Kant hält also ein „inhaltsleeres Denken“ für möglich, aber er rechnet die inhaltsleeren Denk­barkeiten [der transzendenten Metaphysik“] dennoch zu den Denkbarkeiten. Da wird etwas von etwas gedacht und behauptet, wenn auch z. B. nur eine leerlaufende Scheineigenschaft von einem reinen Gedankending. – Vielleicht ist dies ein Punkt, der es den Rezipienten schwer gemacht hat. Es wirkt nämlich ein wenig irritierend, dass auch im Falle von leeren, prinzipiell undarstellbaren Aussagen angenommen wird, dass da etwas von etwas, obzwar unentscheidbar, als gültig behauptet wird. – Aber die reinen Seinsspekulationen zeigen, dass auch dezidiert nicht-empi­rische Aussageversuche der Logik des „etwas von etwas“ [„ti kata tinos“], einer allgemeinen Aussagestruk­tur, verpflichtet bleiben.

 

Durch diese Sprechweisen erklärt sich, wie Kant behaupten konnte, dass wir über „Denkbarkeiten überhaupt“ nachdenken können, wobei wir dieses „reine Denken“ in vielen Fällen erkenntnismäßig nicht objektivieren können. Die Sphäre der Denkbarkeit umfasst eben den Bereich dessen, wovon man sachhal­tige Erkenntnis haben kann, als Teilbereich. – Im ersten Fall gilt ja das Krite­rium der bloßen Denkbarkeit, im zweiten Fall kommt ein Kriterium der Realisierbarkeit von Aussageinhalten hinzu, welches dem „reinen Denken“ die Flügel erheblich stutzt, wenn es auf theoretische Wahrheit und erkennbare Wirklichkeit pochen möchte. Nur unter dem Aspekt der Denkbarkeit, mit ihrem Potential der abstrahierenden Wirklichkeits-Negation, kann man von einem Ge­genstand des nicht-restringierten Denkens sprechen. – „Lediglich, bzw. immerhin“ kann man hinzusetzen. Man kann lediglich von Denkbarkeiten des nicht-restringierten Denkens sprechen. Oder: man kann immerhin von Denkbarkeiten des nicht-restringierten Denkens sprechen. Die Denkbarkeit des Denkbaren ist dabei das Etwas der Denkbarkeit, ihr Gegenstand bzw. ihr Thema. Das kann völlig abgehoben sein, an Inhalt völlig leer, allein der Widerspruchfreiheit verpflichtet.

 

Und wie ist es mit der Denkbarkeit des prinzipiell Undenkbaren? – Zählen die Undenkbar­keiten auch unter die Denkbarkeiten? – Nein, hölzerne Eisen, quadratische Kreise, Primzah­len, die auch Quadratzahlen sind, usw., ent­halten einen widersprüchlichen, sich selbst aufhe­benden Begriff. Beim hölzernen Eisen fängt man sozusagen an mit dem Holz und hebt es durch das Eisen wieder auf, das ist ein wider­sprüchli­cher Aussageinhalt, wenn ein Prädikat dergleichen Widerspruch in sich birgt, kann es nur dort zugesprochen werden, wo es auch negiert werden muss, welches den Aussageinhalt aufhebt. Dergleichen Prädikat entspricht etwas Unfassbarem – Die Sprache [in einer auf Heidegger anspielenden Ironie „das Fass des Seins“] erlaubt allerdings Widersprüche, die nur schein­bar welche sind und deshalb zu den besonderen Dar­stellungsmitteln zählen. Z. B.: „Das menschliche Leben ist der Bereich, in dem sich die un­menschlichsten Machtkämpfe abspie­len.“ „Weniger ist mehr.“ „Väter sind die besseren Mütter.“ [Was ich allerdings nichts glaube.] – Das ist na­türlich rhetorischer Sprachzauber, eventuell als Mittel der Aufmerksam­keitslenkung zu be­greifen.

 

Anmerkung:

 

B 347 heißt es: „Den Begriffen von Allem, Vielem und Einem ist der, so alles aufhebt, d.i. Keines entgegengesetzt, und so ist der Gegenstand eines Begriffs, dem gar keine anzugebende Anschauung korrespondiert, = Nichts, d. i. ein Begriff ohne Gegenstand, wie die Noumena, die nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden können, obgleich auch darum nicht für unmöglich ausgegeben werden müssen, (ens rationis,) oder wie etwa gewisse neue Grundkräfte, die man sich denkt, zwar ohne Widerspruch, aber auch ohne Beispiel aus der Erfahrung gedacht werden, und also nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden müssen.“

 

AA VIII, S. 137 heißt es: „Es lässt sich manches Übersinnliche denken (denn Gegenstände der Sinne füllen doch nicht das ganze Feld aller Möglichkeit aus)“. [Was heißt: Sich im Denken orientieren?]

 

B XXVI, Anmerkung [Vorrede zur 2. Auflage der K.r.V]: „.. denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d.i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiere oder nicht. Um einem solchen Begriffe aber objektive Gültigkeit (reale Möglichkeit, denn die erstere war bloß die logische) beizulegen, dazu wird etwas mehr erfordert.“

 

P.S.: Der Text entstand anlässlich eines Seminars zu Kants „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ an der VHS/Abendakademie Mannheim und wurde zum Welttag der Philosophie 2012 am 17.11.2012 vorgetragen.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2012