Glück

 

Solang du nach dem Glücke jagst,

Bist du nicht reif zum Glücklichsein,

Und wäre alles Liebste dein.

 

Solang du um Verlornes klagst

Und Ziele hast und rastlos bist,

Weißt du noch nicht, was Friede ist.

 

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,

Nicht Ziele mehr noch Begehren kennst,

Das Glück nicht mehr mit Namen nennst.

 

Dann reicht dir des Geschehens Flut

Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht.

 

[Hermann Hesse]

 

 

Erste Strophe: „Reif zum Glücklichsein“. Es gibt „innere“ Voraussetzungen zum Glücklichsein, die wir selten erfüllen. Glücksfähigkeit oder das Talent zum glücklichen Leben fehlt uns weitgehend. „Nach den Glücke jagen“ ist eine Verhaltensweise, die das Glück zwar erstrebt, aber zu Lasten der Glücksfähigkeit. Es ist eine widersinnige Verfahrensweise, um das Glück wirklich zu erlangen. Wir haben starke Gefühle in Bezug auf unsere unerfüllten Wünsche. Wir haben zu unserem Leidwesen Verfahrensweisen der Unruhe und Ungeduld kultiviert. Wir neigen zu Stress und hektischer Betriebsamkeit, um irgendetwas in Bezug auf unseren Vorteil zu bewirken. Lassen wir uns aber hinreißen zu dieser gehetzten Art der Betriebsamkeit, geben  wir mehr und mehr die innere Glücksfähigkeit preis und verlieren das wahre Glück [des glücklichen Lebens] aus den Augen.

 

Nochmals denselben Gedanken gewendet! Wir vergessen oft, dass die Erlangung [des Glücks] des glücklichen Lebens eine besondere Art von innerer Glücksfähigkeit voraussetzt. – Die Jagd nach dem Glück ist eine wilde Sache und widerstrebt dem wahren Glück, das irgendwie eine ruhige, jedenfalls mehr ausgeglichene Sache ist. – Der verblendete Mensch erstrebt sein Glück zu Lasten seiner Glücksfähigkeit, [sowie zu Lasten des Glückes anderer], dieser sonderbaren „inneren“ Voraussetzung des glücklichen Lebens. - Er erkennt nicht, was er andern und sich selbst durch die Art seines Strebens antut. - Man wagt es kaum zu sagen: Die „innere“ Voraussetzung des glücklichen Lebens ist eine Sache der richtigen Einstellung die man finden muss, bzw. übend erlangen kann, mehr oder weniger. Die Hetzjagd dagegen ist wilder Aktionismus, welcher zeigt, dass man das richtige Maß noch nicht gefunden hat.

 

Zweite Strophe. Ein Zeitaspekt: Unser Denken fixiert sich auf Zukünftiges oder Vergangenes und vergisst wiederum eine „innere“ Voraussetzung: den inneren Frieden. Rastlosigkeit und Klage zeigen wiederum den Mangel an Glücksfähigkeit, diesmal unter dem Titel „Friede“, von dem man nicht leicht sagen kann, worin er besteht. Im klagenden und rastlosen Denken zeigt sich ein innerer Mangel an Friede, eine Voraussetzung des „Glücklichseins“, die man vergessen hat.

 

Drittes Motiv: Eine fast stoische Wendung, welche das Glück der Wunschlosigkeit propagiert. Vielleicht etwas übertrieben, weil die äußeren Voraussetzungen „des Glücklichseins“ nicht völlig unerheblich sind. Auch ein Mensch mit dem Talent zur stillen Zufriedenheit wird in großer Bedrängnis nicht glücklich sein. Er kann nur den Eigenanteil der Bedrängnis mindern, indem er selbstverschuldete Zusatznöte mildert. Zusatzgedanke ist die „Namenlosigkeit“ des Glücklichseins. Man kann es nicht „definieren“ z. B. durch ein in Geldwert quantifiziertes, durchschnittlich soziokulturelles Wohlfühlniveau. – Dagegen könnte man sagen: „Geld und Gesundheit sind nicht alles, aber ohne Geld und Gesundheit ist alles nichts.“ [Rem. an Schop.]  In der Praxis wird wohl alles eine Frage der Balance sein. Tendenz der Verse ist aber, den Blick auf die „inneren“ Voraussetzungen zu lenken. Da zeigt sich dann, dass wir nicht glücks- und friedensfähig sind, weil wir mit widersinnigen Methoden nach Glück und Frieden streben, z. B. mit Unruhe, bösem Stress, Nötigung und Gewalt.

 

Vierte Strophe: Klingt wiederum nach dem stoischen Glück der Wunschlosigkeit, nach Selbstgenügen an einer besonderen Art innerer Fassung. Man kann die richtige Art der inneren Ruhe als Glücksfähigkeit auffassen, als richtige Art, nach Glücklichsein und nach Wunscherfüllung zu streben. Denn eigentlich muss man auf nichts verzichten, wenn man auf eine richtige Weise danach strebt. Man unterlässt z. B. die Hetzjagd nach dem Glück und erreicht damit einen Zustand höherer Bedürfnisintegration. Es kann einem dadurch besser gehen, als wenn er sich in Stress versetzt und letztlich mit seinen Vorhaben übernimmt.