Talfahrt, Arthur Miller

 

Das Stück hieß „Talfahrt“, Autor Arthur Miller, der auch die berühmten Stücke „Tod des Handlungsreisenden“ und „Hexenjagd“ geschrieben hat und eine Zeit lang mit Marlyn Mon­roe verheiratet war.

 

Der Protagonist des Geschehens, Lyman Fendt, huldigt dem Prinzip der Nicht-Identität auf besondere Weise. Er ist mit zwei Frauen verheiratet, nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Erklärung dafür ist, dass er sie beide liebt. Deshalb brachte er es in insgesamt 10 Jahren nicht über sich, sich von seiner ersten Frau durch Scheidung zu trennen. Aber die zweite heiratete er trotzdem, denn er hatte einen Sohn mit ihr, wollte ihr auch die Geborgen­heit einer Familie geben und liebte sie ja ebenfalls. Er erzählte aber seinen Frauen nichts von der jeweils ande­ren Familie. Er meinte, ein Mann müsse sich selbst gegenüber treu und wahrhaf­tig bleiben, das aber könne er nur, wenn er andern gegenüber nicht in gleichem Maße treu und wahrhaftig sei. – In diesem Falle müsse man sich eben entscheiden, und das habe er getan. Kon­sequenz sei nämlich sein besonderer Weg der Zweitehe gewesen.

 

Kinder hatte er mit beiden Frauen, die Tochter aus der ersten Ehe war ca. 20, der Sohn aus der zweiten Ehe 9. Er war erfolgreiche Gründer eines Versicherungsunternehmens, war auch fi­nanziell erfolgreich, sorgte gut für beide Familien und hielt es für eine besondere Leistung, 2 Frauen und 2 Familien zu versorgen und glücklich zu machen. Sein Unrechtsbewusstsein war nicht besonders groß, weil er auch schon in der Zeit vor seiner 2. Ehe Zweifel an der Institu­tion der Monogamie gehegt hatte. – Außerdem sah er einen Vorteil seiner Lebensform darin, dass er jeweils zur anderen Familien gehen könne, wenn er sich bei der einen langweile. - [Als Versicherungsunternehmer hegte er zeitweise den Plan einer „Bigamisten-Versicherung mit niedrigen Prämien“.]

 

Unglaubwürdig an der Geschichte ist m. E., dass die Frauen erst nach einem Autounfall von­einander erfuhren. Frauen haben in bestimmten Angelegenheiten schon von Natur aus außer­ordentlichen Scharfsinn, denke ich. Gerade die Existenz einer Zweitfamilie dürfte zu diesen Angelegenheiten gehören. - Er war allein im Auto bei diesem Unfall gewesen, an dem er nicht unschuldig war, denn er hatte in tiefer Nacht eine Fahrt auf Glatteis vom Berg in’s Tal hinab gewagt, wahrscheinlich eine metaphorische Anwandlung in Bezug auf seine nicht normen­ konforme Lebensart. Mit mehreren Knochenbrüchen und schweren Verletzungen fand er sich dann im Krankenhaus wieder, seine Familie wurde herbeigerufen, in diesem Fall wa­ren es dann eben zwei Familien, welche auf diese Weise voneinander erfuhren. Sie warfen ihm einen schlechten Charakter vor und dass in ihm, obwohl äußerlich und gesellschaftlich ein erfolg­reicher Mann, innerlich ein Problem­kind vorhanden sei. Obwohl er anfänglich deprimiert war durch das recht peinliche Aufeinan­dertreffen der beiden Mrs. Fendt, konnte er sich diese Zuschreibung eines schlechten Charakters nicht zueigen machen. Er sei seiner inneren Stimme gefolgt und könnte sich nach wie vor nicht entscheiden, weil er beide Frauen und beide Familien liebe. Dass er es ernst mit beiden Frauen gemeint habe, sehe man auch daran, dass er ja auch beide geheiratet habe und nicht, wie andern Vorstandsvorsitzenden seines Ver­sicherungsunternehmens, lediglich heuchlerisch Seitenbeziehungen pflege. Insofern sei sein Bigamismus eigentlich die Lebensform eines heroischen Charakters und nicht die eines Problemkindes gewesen. – Nur eben mit der gegenwärtig unzulänglichen Einrichtung der Gesellschaft käme man dabei zwangsläufig in Konflikt. Aus höheren Grün­den müsse man dies aber in Kauf nehmen, sozusagen als Preis des existenziellen Vorsatzes und des höheren Strebens. - „Der Seele, die nach jenen Höh’n verlangt, vor ihrem Flug durch Nacht und Grau­sen bangt“, dichtete Richard Wagner sehr passend für Wolframs Lied an den Abendstern [Tannhäuser].

 

Die Frauen erkannten, dass er „ein hoffnungsloser Fall“ war und verließen ihn beide, obwohl es zeitweise so aussah, als ob er sich noch hätte entscheiden können. Nur die Kranken­schwester hatte etwas Verständnis für ihn und gab ihm einen Kuss.

 

Das Motiv der Talfahrt wird im Dunkeln gelassen. Es klingt an, dass es sich um eine Hand­lungsweise „in suizidaler Absicht“ gehandelt haben könnte, weil er das Doppelleben eben doch nicht ver­kraftet hatte. Aber bei seiner Selbstverteidigung wirkt er dann wieder so munter und selbstbewusst, dass das Selbst­mordmotiv unplausibel wird. Es ist nicht die Sprache des reuigen Sünders, der einer tiefen Depression [des Lebensgefühls] unterliegt, die er da spricht, er bedauert nichts. Nach Meinung seiner Antagonistinnen fehlt es ihm an Einsicht und Un­rechtsbewusstsein. Gerade aber dieser Punkt macht die Geschichte für das Publikum interes­sant.  – Vielleicht hat der Autor das Stück deshalb eine Tragi-Komö­die genannt.