Shakespeares Sommernachtstraum

 

Anbei eine meiner Lieblingsstellen aus „Sommernachtstraum“, einem Stück Shakespeares, das in meinen Augen eine großartige Systematik menschlicher Liebesnöte enthält:

 

Lysander: Weh mir! Nach allem, was ich jemals las

Und jemals hört’ in Sagen und Geschichten,

Rann nie der Strom der treuen Lieb sanft;

Denn bald war sie verschieden an Geburt –

 

Hermia: O Qual! Zu hoch, vor Niedrigem zu knien!

 

Lysander: Bald war sie in den Jahren missgepaart. –

 

Hermia: O Schmach! Zu alt, mit jung vereint zu sein!

 

Lysander: Bald hing sie ab von der Verwandten Wahl –

 

Hermia: O Tod! Mit fremdem Aug’ den Liebsten wählen!

 

Lysander: Und war Sympathie in ihrer Wahl,

so stürmte Krieg, Tod, Krankheit auf sie ein,

und macht ihr Glück gleich einem Schalle flüchtig,

wie Schatten wandelbar, wie Träume kurz,

schnell, wie der Blitz, der in geschwärzter Nacht

in einem Winke Himmel und Erde entfaltet;

doch eh’ ein Mensch vermag zu sagen: schaut!

Schlingt gierig ihn die Finsternis hinab;

So schnell verdunkelt sich des Glückes Schein.

 

Hermia. Wenn Leid denn immer treue Liebe traf,

so steht es fest im Rate des Geschicks.

Drum lass Geduld uns durch die Prüfung lernen.

Weil Leid der Liebe so geeignet ist,

wie Träume, Seufzen, stille Wünsche, Tränen,

der armen kranken Leidenschaft Gefolge.

[Aufzug 1, Szene 1]

 

Trotz solcher tief empfundenen Worte gleitet Shakespeare nicht ab in ein depressives Melo­dram. Die Zuschauer sollen keineswegs in eine Stimmung von Larmoyanz und Selbstmitleid versetzt werden, sondern eine tiefsinnige Sommernachtskomödie erleben. Die melodramati­sche Haltung des schmerzlichen Entbehrens muss um höherer Gesichtspunkte willen über­wunden werden.

 

Die Überwindung der melodramatischen Haltung ist ein nicht zu vernachlässigendes Deside­rat für diejenigen, die auch in affaires du coeur nach Wegen der Freiheit und Selbstbestim­mung suchen. Ein be­stimmtes Maß von Unabhängigkeit bezüglich unserer Stimmungen und triebbedingten Emotionen ist im Sinne einer Ethik der Selbstbestimmung und des guten Mit­einanders emp­fehlenswert, vermutlich sogar unentbehrlich. In vie­len Situationen ist es ratsam, darauf zu achten, dass sich der Geist stimmungsmäßig nicht zu stark erhitzt. Unter dem Ein­fluss über­hitzter Stimmungen kommt es zu Übertreibungen im Denken und Verhalten. Dies begünstigt Dispositionen, andern und sich selbst Schaden zuzufü­gen, der vermieden werden könnte. Primum nil nocere, heißt ein gutes lateinisches Wort: Wenn wir in Schwierigkeiten sind, kommt es zuerst einmal darauf an, selbstverschuldete, zusätzliche Schwierigkeiten zu vermei­den. Und sind wir denn nicht fast immer in irgendwie auch selbstverschuldeten Schwierig­keiten? – Mit dem Eigenanteil an unseren selbstverschuldeten Schwierigkeiten, der Sabotage an eigenen Freiheitsmöglichkeiten, sollten wir uns beschäftigen. Es steht in unserer Macht, von dieser Seite her tätig zu werden. Andere dazu zu bewegen, zu unseren Gunsten etwas zu tun, steht oft weit weniger in unserer Macht, als wir denken.

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Das übermäßige Schmachten und die beständige Jagd nach Liebesfreuden vertragen sich schlecht mit einer Kultur des Selbstbewusstseins und der Freiheit.

 

Hermia und Lysander lieben einander, aber der herz- und verständnislose Vater möchte Her­mia mit Demetrius verheiraten. Deshalb suchen die beiden ihr Heil in der Flucht und geraten in einen Zauberwald. Sie schwören sich ewige Liebe. Aber solche Schwüre sind eine Sonder­form von Schwüren und vielleicht gar keine echten Schwüre, wie bereits das Al­tertum arg­wöhnte. Auf einmal interessiert sich Lysander nicht mehr für Hermia, sondern zeigt sich ihr gegenüber ab­weisend und stößt sie zurück. Er folgt nun Helena, „mit verliebtem Sinn“, wel­che aber ihrerseits ein Auge auf De­metrius geworfen hat und keinerlei Interesse für den frisch Verliebten zeigt. Alle haben sich unglück­lich fixiert. – „Bewacht die Sinnestore! Wahrt Eure Fähigkeit zu Freiheit und Selbstbestimmung!“ könnte man sagen, „am Anfang seid ihr frei, erst später seid ihr Knechte!“ Weil Euch Euer Zustand näm­lich leicht außer Kontrolle gerät.

 

Lysander jagt Helena nach, Helena jagt dem Demetrius nach, Demetrius Hermia. Nahezu handlungsunfähig, jedenfalls was vernünftige Handlungen betrifft, als hilflose Opfer ihrer inneren, fehlgeleiteten Triebe und Bedürfnisse irren sie durch den Zauber­wald. Keiner kann mehr einen klaren Gedanken fassen, die Not des unerwi­derten Liebesverlangens ist entsetz­lich. Sterben möchten sie vor Qual.

 

Tieferer Grund dieser verworrenen Situation, in der es keine Entsprechungen mehr im Wün­schen und Begehren [der Lebewesen] gibt, ist die Tatsache, dass sowohl das Natur- als auch das gesellschaftliche Geschehen in einen Zustand der Nicht-Identität und Entzweiung geraten oder „abgefallen“ sind. In diesem Fall kann man vom wesentlichen So-Sein der Nicht-Identi­tät sprechen: infolge des „nicht-identischen“ Grundcharakters [des Daseins] ist alles in rastlo­sem Wechsel und Wan­del begriffen. Stetes Werden und kein festes Dasein. Nichts kann blei­ben, was es ist, nichts steht still und fest, nichts ist wirklich so, wie es aussieht. Es schneit im Sommer, und im Winter wird es warm. Es passt auch nichts mehr zuein­ander, und selbst die Milch im Euter der Kuh ist schon sauer. Und der Mensch, zu alle dem, bietet uns das para­doxe Schauspiel eines gemein­schaftsunfähigen Gemeinschafts­wesens, das nicht mit- und nicht ohne seinesgleichen leben kann. - Sozusagen ein Stachelschwein, bei dem man keine Wärme finden kann, ohne sich dabei emp­findlich zu verletzen. Oder wie wenn einer eine Blutspende von einem Skorpion erwarten wollte. – Sie machen sich entweder selbst oder ge­genseitig verrückt, das Re­sultat ist gleichermaßen deprimierend.

 

Oberon, die männliche Naturgewalt, neidet seiner Frau Titania den Besitz eines zarten, indi­schen Knaben [!], den sie seit geraumer Zeit in ihrem Gefolge mit sich führt. – Zudem ist Oberon auch noch mächtig eifersüchtig wegen einiger Missverständnisse; - angebliche oder wirkliche Affären Titanias. – Geringfügigkeiten, nehmen wir an. - Durch bösartigen Liebes­zauber aber, als ganz gemeinen Racheakt, bewirkt Oberon nun, dass sich Titania in einen Eselskopf verliebt, der ein verwandelter Hand­werksbursche und Laien­schauspieler ist. – Eine fast unglaubliche Intrige. Durch Zauberkunst wurde ihm der Eselskopf auch tatsächlich auf den Leib gesetzt. „Zettel, du bist implantiert“, schrieen seine Laienschauspielkollegen, als sie ihn so sahen und suchten entsetzt das Weite.

 

Die Verzauberung von Titania ist Geschlechterkampf auf Biegen und Brechen. Abgrundtief bösartig, krank oder sehr verzweifelt. Oder alles zusammen in nicht zu sondernder Mischung. Es erinnert uns an den destruktiven Streit und die Selbstzerfleischung eines Paares, wie sie uns Edward. Albee in dem Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ [1962] vorgeführt hat. M. E. wäre es bei solchem Streitgeschehen zwingend erforderlich, dass ein Paar sich trennt. Es wäre ein Gebot der Humanität, dass ein Menschenpaar sich trennt, dessen Denk- und Ver­haltensweisen sich derart unglücklich ineinander verwickelt haben. Solchen Streit darf man sich nicht antun. Man untergräbt damit jegliche Chance, Selbstbewusstsein, Freiheit und wechselseitige Anerkennung [als Freiheitswesen] in gutem Miteinander zu wahren. Oder auch nur diese Wechselseitigkeit als prinzipielle Möglichkeit zu erstreben. Aber bei den ursprüng­lichen Naturgewalten des Männlichen und des Weiblichen, die Shakespeare durch Oberon und Titania personifiziert, ist es natürlich nicht möglich, dass sie sich trennen. Ein Tren­nungsversuch bei real bestehender Abhängigkeit ist das Schwierigste von der Welt. Alle double binds bestehen auf der Grundlage, dass man sich nicht trennen kann. Es sind Ge­fange­nendilemmata. Wenn man sich trennt, muss man etwas preisgeben, was man innig zu bewah­ren wünscht. Zusammen aber kommt man nicht zurecht und macht sich gegenseitig das Leben schwer.

 

Ich habe zu Oberons Vorgehensweise gesagt: „bösartig“, „krank“ oder „sehr verzweifelt“. Ergänzen muss man einen „systemischen“ Gesichtspunkt. - Wie kommen die Gedanken in unsere Köpfe? - Indem wir von dem, was wir sehen und hören, uns tendenziös etwas zueigen machen. Was wir denken und sprechen, ja sogar die für uns typischen Verhaltensweisen ha­ben sich im allgemeinen Kommunikationsgeschehen verfestigt und verfertigt. So wie es der Eigenart unserer Auffassungsweise entsprach. Der „Eigenanteil“ besteht lediglich [bzw. „im­merhin“] darin, dass wir uns einiges zueigen gemacht haben, anderes nicht. Abgesehen von diesem oft schwer fassbaren Eigenanteil kommt alles andere aus der Umwelt, aus den Situati­onen und aus der Atmosphäre, welche in der allgemeinen Wechselwirkung unserer gedank­lich bestimmten Verhaltensweisen erzeugt worden sind.

 

Shakespeares Konzeption des Sommernachtstraums besteht darin, uns irgendwie klarzuma­chen, dass trotz uranfänglicher Einheit „von allem“ ein Kampf der Gegensätze entbrannt ist. Dieser Kampf [der Gegensätze], der sich auch im Geschlechterkampf zeigt, wird mit unfairen Zaubermitteln und ohne humanitären Minimalstandard geführt.

 

Man muss sich wundern, dass ein solch tief destruktiver Streit nicht den Rahmen einer som­mernächtlichen Zauberkomödie sprengt. Aber Shakespeare bringt dieses Kunststück tatsäch­lich fertig, indem er ein romantisches Ambiente mit Blumen, Elfen, Nymphen und Kobolden aufbaut. – Auch die unfreiwillig komische Theatergruppe, welche die Tragödie „Pyramus und Thisbe“ probt, trägt dazu bei, dass man sich über die Art des Streitens von Oberon und Titania nicht allzu viel Gedanken macht.

 

In mondheller Nacht, inmitten der Schar der Nymphen, wird der Eselskopf von der Liebe und Zärtlichkeit der weiblichen Naturgewalt verwöhnt. Er weiß nicht, wie ihm geschieht, aber er ist begeistert. Schmelzende Liebesworte sagt sie ihm, „süßes Lang­ohr“ und „mein pelziger Kraulfreund“, er erwidert die Koseworte mit arttypi­schen Eselslauten des Behagens. Diese Äußerungen hält sie wiederum für Reden von Geist und Es­prit! Das ist natürlich die Folge des heimtückischen Zaubers, den der streitsüchtige Oberon seiner Frau angetan hat, weil er sie demü­tigen wollte. Um eines zarten, süßen Knaben willen, man stelle sich nur vor! Welch ein Abgrund an nicht ge­lungener Bedürfnisintegration in der menschlichen, besonders männli­chen Psyche! – Dies ist der Höhepunkt der Verwicklungen.

 

An einer Stelle wächst Zettel jedoch über sich hinaus. Als Titania ihm ihre Liebe gesteht,  hingerissen von seinem schönen Gesang und seiner lieblichen Gestalt, sagt er:

 

„Mich dünkt, Madam, Sie können dazu nicht allzu viel Ursache haben. Und doch, die Wahr­heit zu sagen, halten Vernunft und Liebe heutzutage nicht viel Gemeinschaft. Schade, dass ehrliche Nachbarn sie nicht zu Freunden machen wollen..“ [3. Akt, Szene 1] – Darauf Titania, mit durchaus berechtigtem Lob: „Du bist so weise, wie du reizend bist.“

 

Noch einmal zu Zettel, dem Weber und Laienschauspieler:

 

Der einzige, wenn auch [weitgehend] unverdient Beglückte in diesen verworrenen Gesamtge­schehen ist der in einen Esel verwandelte Weber Zettel, dem alles wie ein überaus aufregen­der Rausch oder Traum erscheint. Der erotische Sommer­nachtstraum hat ihn mit der idealtypi­schen Titania zusam­mengeführt, die ihn, aufgrund dieses heim­tückischen Zaubers, für ein Muster an Klug­heit, Schönheit und Weisheit hält. Ja, der Wahn und die Ver­blendung, was nicht alles tut der Mensch sich selbst und seinesgleichen in solchen Zuständen an! – Man kann sich nun im Nachhinein fragen, ob der erotisch  beglückte Mensch aus dem naturgewalti­gen Abenteuer in seiner Alltagstauglichkeit gestärkt oder geschwächt her­vorgeht. – Manche Dichter jedenfalls, mit ihren Visionen vom arkadischen Leben, „et ego in Arcadia“ usw., klagen über tief empfun­dene Unzufrie­denheit und schmerzliches Ungenügen im alltäg­lichen Leben. Gerade weil sie die schönen Bilder vom beglückten Leben vor ihrem inneren Auge allzu sehr genährt haben, erliegen sie einem melancholischen Zustand der Schmerzlich­keit des Entbehrens. . - Dabei verliert man natürlich leicht den Sinn dafür, was die Situation hier und jetzt erfordert. Und dafür, das Beste daraus zu machen.

 

Es ist gewissermaßen eine Gemeinheit Shakespeares, dass er die weibliche Urgewalt der Na­tur derart verunglimpft, indem er sie so sehr durch Verblendung gesteuert darstellt. Aber ei­nem Theaterdichter müssen wir Dramatisierungen und Übertreibungen zugestehen. Er darf das Darstellungsmittel der Dramatisierung nutzen, um einen Zauberspiegel des Le­bens zu fertigen, der uns hilft, mit extremen Sichtweisen zu experimentieren. Unbewusst und be­triebsblind angewandt erzeugt dramatisierende Übertreibung, sozusagen das Theater des All­tagslebens, sehr oft Probleme. Aber in der Kunst ist dieses Stilmittel erlaubt und sogar er­wünscht, weil es uns eine Erkennt­nis von Gestalt durch Schaffung von Gestalt ermöglicht. Also durch überzeichnende Kon­struktion und plakative Vereinfachung , die eigentlich einen Willen zu Undifferenziertheit darstellt. – Offenbar kann eine im Prinzip sehr ähnliche Vorge­hensweise, welche das Theater der Kunst und das Theater des realen Lebens gleichermaßen auszeichnet, durch den unterschiedlichen Kontext ganz unterschiedlichen Zie­len dienen. Das Theater des Alltags dient der Verschleierung und Bemäntelung unserer wirklichen Absichten und Motive, so dass wir irgendwann nicht mehr wissen, was Dichtung und was Wahrheit ist, weil alles konturenlos ineinander läuft. So erleiden wir tatsäch­lich Realitäts­verlust, bzw. wir entscheiden uns sogar für diesen Realitätsverlust durch die gewählt tendenziöse Art unseres Denkens, die wir betriebsblind ausagieren. Wir werden zu Getriebenen der Chimären, die wir selbst aufge­peitscht haben, unfassbaren Mixturen aus Sein und Nicht-Sein. Am Anfang sind wir frei, später sind wir Knechte. Ein Goethe-Wort aus Faust Eins. - Das richtige Theater aber dient, jedenfalls unter günstigen Um­ständen, der Selbsterkenntnis. Durch stimmungsintensive Mittel plakativer Stilisierung. Der Tatsache, dass wir uns ja irgendwie bei Laune halten müs­sen, also einer Art von Stimmungs­erzeugung, dienen sie beide, irgendwo in einem Kontinuum zwi­schen böser Manipulation und der Stimulierung höherer Geisteskräfte. – Vermutlich ist alles dies ein zweischneidi­ges Schwert.

 

Kompensatorisch aber, bezüglich der Verunglimpfung der weiblichen Naturgewalt, kommt auch die männliche Naturgewalt nicht gut weg. Der Ur­vater streitet mit seiner Frau wegen erotischer Ambitionen bezüglich eines zarten, indischen Knaben! Wo sind wir hier? – Es er­innert uns an eine Stelle im Platon, wo es heißt, ein Mann hätte eine Frau und eine Familie, weil es das Herkommen so mit sich bringe. Höhere Bildung und Künste, auch Liebeslyrik und dgl. pfleg­e er aber am besten in Verbindung mit der schönen Knabenliebe. - Davon sind wir heute peinlich berührt. Päderastie gilt uns ja so ziemlich als das Schlimmste, was es gibt.

 

Ich denke mir die Sache mit dem Urvater so: In der Urzeit, ganz am Anfang, war alles unun­terscheidbar eins, erst später traten Gegensätze hervor, sozusagen im Zuge der Ausdifferen­zierung des Seins zerfiel die Wirklichkeit in sich entfremdende Teilbereiche mit spezifischen Eigengesetzlichkeiten. Auch der Ge­gensatz der weiblichen und männlichen Urgewalt trat im Zuge dieser Ausdifferenzierung der uranfänglichen Wirklichkeit erstmals hervor, also ganz ur­sprünglich war auch dieser Gegensatz nicht vorhanden, denn alles war eins. Als nun der Unterschied der weiblichen und männlichen Naturgewalt erstmals entstanden war, erlebte die Welt zuerst einmal tatsächlich die Harmonie dieses Gegensatzes. Es geschah das urgewaltige Fest der Liebesvereinigung und Fortpflanzung des Lebens, zum größten Behagen aller Betei­ligten. Dann aber, weil der Mensch ja kein Maß und kein Ziel kennt und in allem übertreibt, kam es dann doch leider bisweilen auch zum Kampf der Gegensätze. Alles artete aus. Den Män­nern gefiel es nun besser beim Wettspiel und Fußball, bei Nikotin und Alkohol, als da­heim bei ihren Frauen. Jünglinge, Sportler und Athleten wurden ihre Idole, woran sie sich nicht satt sehen konnten. – Sie klagten auch mehr und mehr über die Unberechen­barkeit der weiblichen Natur, womit sie nicht zurechtkamen. – [Es entstand auch das Problem einer di­vergierenden Semantik der Geschlechter. Unter ähnlich klingenden Worten verstanden sie bisweilen sehr verschiedene Dinge. Es kam zu Missverständnissen und Unterstellungen der Böswilligkeit.]

 

All dies kann rätselhaft erscheinen nur für den, der den Grund der Dinge nicht zu erahnen vermag. Gemeinschaftsunfähige Gemeinschaftswesen, sozusagen wärmebedürftige Stachel­schweine, mit giftigen Stacheln, sind wir alle, Weiblein und Männlein gleichermaßen. Wie gewaltig ist das Wärmebedürfnis, aber wie giftig und schmerzhaft sind auch wiederum die Stacheln! Das ist das Doppelgesicht, die abgrundtiefe Dialektik der menschlichen Natur. Im Falle der Männlein müssen wir eine Zusatzannahme zum Verständnis der Dinge heranziehen: die zusätzliche Hypothese von der sexuellen Un­zulänglichkeit oder Unterlegen­heit des Mannes. – Das hört man natürlich gar nicht gerne. Es klingt deprimierend und erschreckend. - Was besagt diese These? Sie besagt: an Mus­kelkraft ist der Mann der Frau überlegen, aber an Muskelkraft einzig und allein. In allen andern Dingen ist er ihr aber nicht überlegen. Leben z. B. kann er nicht gebären. Nun, das kann er vielleicht verschmerzen, denn es ist mit Be­schwerlichkeiten verbunden, und es mangelt ihm an Geduld, Ausdauer und Leidensfähigkeit. Aber weiter: In Fragen der Intuition, des Wahrnehmungsvermögens und der sexuellen Potenz kann er eben­falls nicht mithalten. Der Gedanke daran ist ihm aber gerade im letzen Punkt völlig unerträg­lich. Er kompensiert diese natürliche Inferiorität mit Zauberkräften und Zau­berspielen, wie wir an Oberon sehen. Aber mit welchem Resultat? – Die ganze Natur und Gesellschaft bringt er an den Rand eines Abgrunds. Er schafft sich selbst und seinesgleichen furchtbare Leiden. – In ironischer Umkehrung eines Verses aus Mozarts Zauberflöte könnten wir sagen: „Ein Weib muss Eure Herzen leiten, denn ohne sie pflegt jeder Mann aus seinem Wirkungskreis zu schreiten.“ [1. Aufzug, Szene 19]

 

In geistesgeschichtlicher Reminiszenz erinnern wir uns an Sigmund Freud, der vor ziemlich genau. 100 Jahren, ca. 1908, seine damals höchst provokanten Thesen von Kastrationsangst und Penisneid formulierte. Sprechen wir zunächst über den vielleicht weniger bedeutsamen Punkt, den Penisneid. Er befalle das kleine Mädchen, wenn es diesen Körperteil zufällig bei einem Bruder oder Spielkameraden bemerke. - Dazu möchte ich folgendes anmerken: Ich selbst bin in einem Kreis von Mädchen aufgewachsen, habe aber von diesem Phänomen nichts bemerkt. Ich müsste mich sehr anstrengen, um eine Evidenz für diese These aus eige­nem Erleben anzuführen. Das Phänomen erscheint mir des­halb nicht sehr bedeutend. Eher könnte ich sagen, dass ich die Mädchen um manches benei­dete, wenn auch nicht um Körper­teile. Einmal wurde ich an Fastnacht als Rotkäppchen ver­kleidet, ein ander­mal als „Glöck­chen“, im Kreis der Mädchen. Das waren weibliche Rollen, die ich als zutiefst erregend emp­fand. Mädchen dürfen z. B. ein Armband tragen, was ich mich nicht getraut habe. Als Schüler war dergleichen unmöglich. – Die andern, unsere Mit­men­schen, Mit- und Gegenspieler in der Wechselwirkung unserer Verhaltensweisen, haben sehr scharfe Zungen in einer gewissen Art von äs­the­tisch-moralischen Fragen. – Jeden­falls: an den Penisneid der Mädchen habe ich nie ge­glaubt.

 

Nun zur Kastrationsangst. Diese These ist m. E. ernst zu nehmen. Dabei möchte ich zur Ver­deutlichung allerdings eine Verschiebung aus der psychoanalytischen Praxissitua­tion in einen größeren Zusammenhang vornehmen. – Der irrtümliche Glaube, dass geriebenes Pulver von einem Nashorn sexuelle Stärke des Mannes bewirke, hat diese Tiere fast zum Aussterben ver­urteilt. – Das ist in meinen Augen ein deutliches Zeichen, woran die männliche Psyche am effektivsten krankt. Eben der erwähnte Standpunkt von der sexuellen Unterlegen­heit des Mannes.

 

Sigmund Freud mit seinen Theorien der menschlichen Subjektivität war ein Genie. Er er­kannte gewisse Unzulänglichkeiten der damaligen Schulmedizin und systematisierte auf eine vorher nicht gehörte Weise seine Erkenntnisse aus der psychoanalytischen Gesprächssitua­tion. Viele Zeitgenossen erkannten die Bedeutung seiner Schriften. Aber das Genie und der Pionier sind gewaltig in ihren Einsichten und Irrtümern zugleich. Es gelang ihm nicht, den Schleier eines mehrtausendjährigen Verblendungszusammenhangs bezüglich der männlichen Sexualität von seinen Augen zu nehmen. Es ist m. E. verständlich, dass der Mann Phallus­symbole u. dgl. entwirft. Aber nicht aus Gründen einer selbstgewissen Grandiosität, son­dern als Selbstverherrlichung in kompensatorischer Absicht. Er hütet das Bambussprösslein mehr als seine Augäpfel, obwohl ihm die Augen zu einer weit größeren Orientierungsleistung auf dem Felde der Wirklichkeit verhelfen. Das Fortpflanzungsorgan ist mental unverhältnismäßig rep­räsentiert. Das hat Freud ganz richtig gesehen. Aber nicht auf der Grundlage von Macht und Selbstbewusstsein und ausschweifender sexueller Potenz [ist dieses Organ mental unver­hält­nismäßig repräsentiert], sondern, zumindest teilweise, auf der Grundlage von Gebrech­lichkeit, Inferioritäts- und Versagensängsten. – Das ist in mei­nen Augen zumindest ein ergän­zender Gesichtspunkt zur These vom Kastrationskomplex.

 

Auch wenn es ausufernd erscheinen mag, lenken wir unsere Aufmerksamkeit nochmals auf Freuds berühmt-berüchtigte Thesen von Penisneid und Kastrationsangst. Wovon handeln diese Thesen? Worin genau besteht ihr thematischer Bezug? – Es sind nicht tatsächliche se­xuelle Verhaltensweisen oder sexuelle Eigenschaften der Men­schen, um die es hier geht, sondern frühkindliche Auffassungen oder „Theorien“ bezüglich des anatomischen Unter­schieds äußerer Geschlechtsmerkmale. Es ist eine Art des Denkens und Sprechens, wovon diese Thesen handeln, mit den Tatsachen der Sexualität selbst haben sie wenig zu tun. Die Kinder erhaschen einen flüchtigen Blick von etwas und ziehen daraus frappierende, völlig unverhältnismäßige Folgerungen. Sie erdichten eine mythische Geschichte. In dieser Ge­schichte geht es um verbotenes Begehren, Bestrafungs- und Katastrophenangst. Es ist eine reißerische Geschichte. Sie zeigt, wie sehr der kindliche Geist bei gewissen Themen zu un­mäßiger Dramatisierung und Katastrophenangst neigt. – Ist diese reißerische Art des Den­kens, dieses Dramatisieren und „Katastrophisieren“ nur die kindliche Art des Denkens und den Erwachsenen wirklich fern?

 

Nochmals zu den Nashörnern! Wie steht es um die Qualität der Theoriebildung in diesem Falle? – Beobachtungsbefund, tatsächliche Evidenz, ist die zeitliche Länge des Begattungs­aktes bei diesen Tieren. Die Schlussfolgerung darauf, dass geriebenes Pulver des Nashorns ein Stärkungsmittel für die männliche Potenz sei, ist natürlich willkürlich und ebenfalls nur von einer infantilen, oder sehr archaischen Psychologie her zu verstehen. Diesmal allerdings eine infantile und archaische Psychologie des erwachsenen Menschen, der über eine Waffen­technik verfügt, mit der diese großen, starken und gut gepanzerten Tiere ausgerottet werden können. – Man sieht hier das Zusammensein einer beträchtlichen Irrationalität in der Zielset­zung mit der technischen Perfektion in Verfahrensweisen und bereitgestellten Mitteln, wel­ches für das moderne Marktgeschehen so charakteristisch ist. Das Pulver selbst ist dabei kein taugliches Mittel, es besitzt allenfalls einen Placebo-Effekt. Die technische Perfektion liegt in den Jagdwaffen und der Jagdveranstaltung.

 

Wenn Nashörner zur Modifikation ihrer Verhaltensweisen durch gedankliche Inhalte und sprachliche Abstimmung [Absprache] befähigt wären, dann müsste man ihnen raten, sexuelle Aktivitäten nicht vor den Augen anderer Lebewesen auszuführen. In diesem Falle wird näm­lich ein Zusammenspiel von Verhaltensweisen, das, im Kreise der Natur, normalerweise der Arterhaltung dient, zu einem die Existenz der Art gefährdenden Akt.  Warum? fragt man sich. – Weil dieses Zusammenspiel der Verhaltensweisen den Neid anderer Lebewesen erregt? Vielleicht nicht den sprichwörtlichen Neid der Götter, aber den Neid von Menschen, die trotz völlig infantiler Schlussfolgerungen in der Lage sind, andere Lebewesen [und sich selbst] mit gefährlichen Waffen zu jagen. Und wenn der Neid der Öffentlichkeit auch nicht erregt würde, mit Missgunst muss man bei provozierenden Verhaltensweisen immer rechnen, man kann die Gemüter ja aus ganz verschiedenen Gründen erregen. – Es gibt m. E. also sehr triftige Gründe, gewisse Dinge nicht vor den Augen der Öffentlichkeit zu tun. Auch wenn man groß, stark und gepanzert ist und  keine natürlichen Feinde kennt.

 

Zurück nun zu Shakespeare und seiner abgründigen Konzeption der männlichen Naturgewalt. Wegen des Streits um einen Knaben bringt Oberon die Welt an den Rand eines Abgrunds. Dass ein derart satirisches Konzept zu Lasten und auf Kosten gewisser homoerotischer Sub­kulturen geht und insofern gegenwärtig politisch nicht korrekt erscheint, geben wir zu und verstecken uns hinter der ansonsten ja allgemein anerkannten Größe von Shakespeares Werk.

 

[Ein analoges Phänomen haben wir mit dem „Kaufmann von Venedig“. Shakespeare lebte und schrieb lange vor den Nazis. Der Jude Shylock aber verkörpert den grausamen, geldgierigen Juden so, wie ihn die Nazis sehen wollten. Nach den mörderischen, rassisti­schen Exzessen der Nazis muss man sich ernsthaft überlegen, wie man mit diesem, ansonsten sehr schönen Theaterstück heute umgehen kann. Vielleicht „darf“ man dieses Stück nicht mehr spielen. „Ohne weiteres“ kann man es jedenfalls nicht.. Es ist eine ganz heikle Frage, ob man es „darf“. Und wenn man vorsichtig ist, tut man es nicht.]

 

Zurück zum Handlungsstrang des Sommernachtstraums:

 

Lysander und Hermia, Helena und Demetrius, auch die Naturgewalten vereinigen sich wieder zu gemeinsamer Wirksamkeit, zu schönem, harmonischen Miteinander, trotz all dem bösen Zauber, der geschehen ist. Wodurch wird der Zauber gebrochen? Durch Gegenzauber, wo­durch Oberon wieder alles rückgängig macht. Wir sind im Theater. Dort ist das möglich.

Was ist denn überhaupt geschehen, fragen wir uns, war es denn mehr als die Schwüle des Sommer­nachtstraums, von der wir hier etwas erfahren haben? Und: Kann man denn Traum und Wirklichkeit so ganz genau und effektiv voneinander unter­scheiden?

 

Ein Fürst feiert seine Hochzeit, und die Laienschauspieltruppe blamiert sich unsterblich mit dem eigent­lich tragischen Liebestod von Pyramus und Thisbe. So fürchterlich, dass es für das Publikum ein außerordentli­ches Vergnügen wird. So viel Unsinn und Ungeschick auf einmal hat man noch nicht zu hören und zu sehen bekommen. Die zarte Thisbe von einem stämmigen Schau­spieler mit Bassstimme und Bart besetzt. Eine spre­chende Wand tritt auf und ein Schlitz in der Wand, durch den die beiden ihre Liebesseufzer austau­schen. Und der furchtbare Löwe, der Pyramus schlägt, aber doch nicht furchtbar und gefährlich aussehen darf, damit die Da­men der Hofge­sellschaft von der Theaterdarbietung nicht erschreckt wer­den! – Man flicht ihm Schleifchen und Blümchen in die Mähne, und man entschied sich für eine re­lativierende Vorrede. - Und zum Schluss der tote Pyramus, mehrmals wiedererweckt zu er­neuten Dekla­mationen unsägli­chen Jammers. Als ob er nicht tot zu kriegen sei, der tragische Held!

 

Shakespeares Som­mernachtstraum ist ein Anti-Depressivum erster Sorte, weil er Melodrama­tik und Komödie so gelungen zu vereinigen weiß. Man müsste so etwas eigentlich in jedem Sommer erneut einmal se­hen.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2008