Rotkäppchen und der Wolf

 

 

Vor einigen Monaten spielte der Blues-Musiker Tom Shaka ein Stück namens Red Riding Hood, einen Titel, der 1965 ein Hit war. Die Band, die diesen Hit hatte, hieß „Sam the Sham and the Pha­raons“. „Little Red Riding Hood“ ist der englische Ausdruck für „Rotkäppchen“. Selbstver­ständlich hat mich ein Thema von so großer philosophischer und psychologischer Bedeutung stark angesprochen. Ich habe einen erneuten Blick in die Rot­käppchen-Forschung geworfen. Meine Meinung war ja, dass das Märchen eine Warnung für die liebeshungrigen Wölfe darstellt, nicht allein im Wald umherzuschweifen. Die armen Wölfe könnten allzu leicht Opfer ihrer ungezügelten Triebe werden, wenn irgendwelche Rot­käpp­chen in Erschei­nung treten, die starke Projektionen bei den Wölfen auslösen. Diese Interpretation muss kor­rigiert werden, die Wahrheit ist eine tiefere. Es gibt keine ein­deutigen Täter- oder Opfer­rollen, das ist m. E. die wahre Lehre. Reine Opfer und reine Täter gibt es nicht im wirklichen Leben, son­dern nur in unserer idealtypisch arbei­tenden Einbildungskraft und Denkungsart. In der Wirklichkeit gibt es nur Mischformen. Der Wolf hat sich „nicht ohne Eigen­anteil“ und Selbstverschuldung eine übermäßig verwegene Lebenshaltung zueigen gemacht, das gefährli­che Verhaltens­muster manöv­riert ihn letztlich in eine Opferrolle mit hohem Eigenverschul­dungsanteil. Das Motto „lebe gefährlich!“, das er sich durch ein Über­maß an existenzialisti­scher Lektüre zueigen gemacht hat, ist ihm nicht be­kömmlich. Es bringt ihn regelrecht zur Strecke.

 

Im Wechselspiel der Verhaltensweisen kommt es zu dem für ihn verhängnisvollen Ab­lauf der Geschehnisse.

 

Die Mutter von Rotkäppchen ist irgendwie in Bedrängnis und lässt es darauf ankommen, dass Rotkäppchen allein in den gefährlichen Wald gehen muss. Es kann gut sein, dass sie Rot­käppchen loswerden will. Sie sagt: „Der Wald ist gefährlich, sieh’ zu, wie du zu recht kommst.“ Sie lässt es darauf ankommen, dass Rotkäppchen unerfahren und unvorbereitet in gefahrvolle Situ­ationen kommt.

 

Die Großmutter von Rotkäppchen ist eine gut erhaltene, durchaus lebens- und unterneh­mungslustige Person, die allein im gefährlichen Wald wohnt und nicht einmal ihre Haustür fest verschließt. Sie ist sicherlich nur aus­nahmsweise krank, sonst würde sie nicht ganz allein auf sich selbst gestellt so leben wollen. Auch sie lässt es darauf ankommen, dass etwas Uner­war­tetes und Gefährliches geschieht.

 

Der Wolf selbst ist wahrlich auch kein Unschuldslamm. Auch er legt es offen auf ein gefähr­liches Erleb­nis an und möchte das zarte, süße Rotkäppchen als Leckerbissen verspeisen.

 

Rotkäppchen erzählt dem gefährlichen Wolf nun genau, wo sie hingehen wird. Wo die kranke Großmutter wohnt, dass sie, Rotkäppchen, aber noch einige Zeit brauchen wird, um Blumen für die kranke Oma zu pflücken. Das ist natürlich keine Art, den bösen Wolf von seinen un­lauteren Vorsätzen abzu­bringen. Rotkäppchen hätte ihm ohne Not diese Hinweise vorenthal­ten können. So gestelzt wie er seine Fragen stellte, hätte sie sofort schalten müssen, dass er Böses im Schilde führte. Und sie hätte sich sagen müssen: „Wenn ich nicht sofort zu der kranken Grußmutter eile, um sie zu warnen und um ihr zu helfen, wird dieser Wolfsteufel kommen und sie fressen“.

 

Der Wolf also liefert sich ungezügelt seinen finsteren Trieben aus, bemächtigt sich erst der Großmutter, später dann des Rot­käppchens, was natürlich sehr unmoralisch ist. Rotkäppchen aber tut ganz ahnungslos. Es wirkt auf den neutralen Betrachter fast wie ein Witz, wenn sie sich nicht fassen kann vor Verwunderung über die Augen, Ohren und Hände und den allzu großen Mund der angeblichen Großmutter. Wie ein Hecht verschlag er die zarte Geliebte, konnte sie aber unzerkaut nicht verdauen. Rotkäppchen wird dann durch den herbei eilenden Jäger trotz allem gerettet. Dessen Motivation möchte ich hier nicht nachspüren. Er sagt sich vielleicht: „Das arme unschuldige Mädchen! Und so süß! Ich muss sie retten!“ Ich denke, dass auch seine vorgeblichen Motive nicht die wahren sind, je­denfalls nicht die einzigen. Der Wolf, anfäng­lich der Ver­folger [von Rotkäppchen und der Großmutter], wird nun seinerseits verfolgt, er wird nun das Opfer von Rotkäppchen, dem Jäger und der Großmutter gemeinsam. Sie fan­gen ihn, füllen seinen Bauch mit schweren Stei­nen und werfen ihn tief in den Brunnen. Ob das noch verhältnismäßig ist, nachdem Großmutter und Rotkäppchen das böse Spiel doch relativ gut über­lebt haben?

 

Erich Fromm meinte nun in psychoanalytischer Spekulation, der Bauch des Wolfes sei als ein Bei­spiel für männliche Schwangerschaft zu verstehen, was es ja auch bei den Seepferdchen gibt. – Ja, die un­erschöpfliche Natur in all ihrer gewaltigen Variabilität! - Man kann sich dann fragen, ob denn nun der Jäger oder Rot­käppchen der andere Verursacher dieser männlichen Schwanger­schaftsunpässlichkeit war. Ich bleibe hier konservativ und sage, dass das Rotkäpp­chen die Verursacherin war. Das weibliche Lebewesen ist die Trägerin der Eizelle, das männ­liche der Träger der Sa­menzelle, so ist das im großen Ganzen. Ob je­mand aber schwanger werden kann oder nicht, besagt nicht viel oder jedenfalls nichts Grund­legendes in puncto der Geschlechtseigenschaft. Wie man bei den Seepferdchen ja sieht.

 

Die harmlosere Deutung des außergewöhnlichen Zustands besteht natürlich darin, dass es dem Wolf nach der ganzen Ge­schichte speiübel geworden ist. - Weil er im Grunde genommen doch ein sensibler Typ war. Und er hat sich zudem auch ganz einfach übernommen.

 

Das Märchen erschien 1693 in einer französischen Sammlung unter dem Titel „le petit chape­ron rouge“, von wo es auch die Gebrüder Grimm aufnahmen. Von dort aus rezipierten es die Briten unter dem Titel „Red Riding Hood“, „Hood“ ist die Kapuze oder Kappe. Das Wort „riding“ deutet vielleicht auf eine Art Reisekleidung hin.

 

Das Märchen zeigt also eine Art „Realdialektik“ von Täter- und Opferrollen. Alles ist ganz anders, als es zunächst aussieht. Und dann erscheint das Tun des einen als ein Tun der ande­ren; - und auch wieder umgekehrt. Es ist alles sehr verwirrend. – Zudem ist es ein obszöner Stoff, ab­solut nicht jugendfrei.

 

Unschuldig war er gewiss nicht, der Wolf. Er war übermä­ßig gierig, weil er eine Großmutter und ein Mädchen nacheinander fressen wollte. Dass das keine gute Diät ist, ist völlig klar! Aber alle andern spielten ebenfalls ein ziemlich böses Spiel, weil sie es darauf ankommen ließen, dass et­was Gefährliches passieren würde. Gut, kann man kann sagen, der Wolf war ein freier und offener Verächter von Anstand und guter Gesittung, die andern waren alle eher versteckte Heuchler. Aber die Maske der Heuchelei ist besser als die offene Verachtung der guten Sitte, weil sie, diese Maske der Heuchelei, doch wenigstens die formelle Anerken­nung der guten Sitte beinhaltet. – Also ich meine, der Wolf war so ein Sitten-Anarcho, ein Veräch­ter landläu­figer Moral, und durch das Zusammenspiel der verschiedenen Verhaltensweisen wurde dann sein Untergang bewirkt, ohne dass er sich der Gefahr richtig bewusst war. Sein Leicht­sinn war auch einfach viel zu groß.

 

Man hätte dem Wolf in’s Gewissen reden müssen. Ich vermute, da hätte man vielleicht bes­sere Chancen gehabt als bei den andern mit ihrer gut versteckten Heuchelei. Man hätte dem [durch Gier] Verblendeten sagen müssen: „Lieber böser Wolf! Du darfst nicht von den gängi­gen Sitten abweichen, indem du sie unterbietest, weil du dann ja noch viel schlimmer bist als all die andern!“

 

Tom Shaka fing den Song mit tiefem Bassgesang an, als der Wolf mit Rotkäppchen im Wald spazieren gehen wollte. Später ließ er den armen Hund dann in hohen Tönen heulen. Vor gut einem Jahr habe ich Tom Shaka schon einmal mit diesem Gesang gehört. Ich war damals schon sehr beein­druckt. Diesmal war ich völlig hingerissen.

 

So viel lebensnahe und tief­gründige Beobachtungskraft in einem angeblichen Kindermärchen erhebt doch sehr das menschliche Herz! Ein Stoff dieser Art in seiner drastischen Realistik und psychologischen Raffinesse muss ein Autor modernen Beziehungstheaters erst einmal erfinden!

 

P.S. Wesentliche Anregung zu diesen Überlegungen verdanke ich Eric Berne und seinem Werk „Was sagen Sie, nachdem Sie guten Tag gesagt haben?“ Eric Berne hat in Modifikation psychoanalytischer Ansätze die sog. „Transaktionsanalyse“ entwickelt. J.B.