Wu Wei

 

Handeln durch Nicht-Handeln ist ein Motiv des Buches „Taoteking“, das Laotse zugeschrie­ben wird.

 

Die Bedeutungen von Wu Wei sind vielfältig: 1. Handeln, ohne etwas erzwingen wollen, 2. gewaltlos handeln 3. „mit dem Strich“ verfahren, handeln, wie es die Gelegenheit fügt 4. nicht unter dem Einfluss von Ungeduld und Unduld­samkeit handeln 5. nicht unter dem Einfluss der „Verwirrung des Herzens“ handeln 6. „umgekehrt“ han­deln.

 

Weitere Bedeutungen sind: 1. Leben und Leben lassen im Sinn der guten Moral der gemeinsamen Freiheit und des wechselseitigen. Ge­währen-Lassen. 2. Abstand halten bzw. weglassen von falschem Eifer 3. Loslassen fal­scher Prioritäten 4. Gelten-Lassen unter­schiedlicher, [sich letztlich doch nur ergänzender] Aspekte. – Wu Wei ist also kein eindeutiger Begriff, sondern ein Bedeutungsspektrum.

 

Unter dem Aspekt, dass wir Eifer hauptsächlich für problematische Verhaltensweisen wie Ungeduld und Ehrgeiz sowie für Ziele wie Macht und Reichtum zeigen, kann es in der Tat als die bessere Alternative erscheinen, „nicht zu han­deln“. Jedenfalls nicht so viel und nicht der­art, wie wir es aus irgendwelchen Gründen tatsächlich tun.

 

Möglicherweise hat es diesen Laotse niemals gegeben. Er ist eine legendäre Gestalt. Das Buch mit den geheimnisvollen Aphorismen, die in der Nachwelt so großen Eindruck gemacht ha­ben, stammt vielleicht von einem Autorenkollektiv. Es wurde im sechsten Jahrhundert v. Chr. verfasst.

 

Stichwort „Autorschaft“: Wir besitzen kein historisch gesichertes Wissen über die historische Existenz des La­otse. Wir wissen aber, dass das Buch „Taoteking“ seit uralter Zeit überliefert ist. Es ist ein Haupttext klassischer chinesischer Weisheit. Intellektuelle Mode ist z. Z. vielleicht das Plädoyer für ein Autorenkollektiv als Verfasser des Buchs. Dagegen spricht allerdings die hohe Einheitlichkeit und Originalität des Textes in Stil und Art der Gedankenführung. Dieser Gesichtpunkt macht dann doch wieder die „Einheit“ des Autors plausibel.

 

Taoteking heißt: Buch vom Tao und vom Te. Tao ist die große, allumfassende Ordnung der Dinge, Te die Fähigkeit [der Lebewesen und des Menschen], im Einklang mit dem Tao zu leben und zu handeln. – Te bedeutet zunächst „Leben“, „Leben“ bedeutet vermutlich eine besondere Art von Zweckausrichtung eines irgendwie aus sich selbst heraus handelnden We­sens. Wu Wei ist der [menschliche] Weg zu Tao und Te, der Weg zu „guter“ Ordnung und innerem Ein­klang. Da „Tao“ auch „Weg“ und „Richtung“ [des großen Ganzen] heißt, wäre Te der Weg zum Weg oder die Richtung zum Weg, Richtung zu einer Handlungsweise gemäß der umfas­senden Ordnung [des Tao]. Diesen Weg zu finden, ist Ziel des Menschen, in die­sem Falle wäre also der Weg selbst Ziel. Da Wu Wei auch Nicht-Handeln heißen kann, wäre [eine besondere Art von] Nicht-Handeln, eventuell eine Art von Inne- und An-Sich-Halten, der Weg zum Tao. Nicht-Handeln wäre demnach die Verhaltensweise hoher „Tu­gend“, die Art des menschlichen Lebens auf der Höhe seiner spezifischen Möglichkeiten. – Das klingt para­dox und geheimnisvoll, bedeutet aber vielleicht nicht mehr als: „Nicht-So-Han­deln“ ist besser als „So-Handeln“. Das „nicht“ kann also ersetzt werden durch „anders“ und wirkt dann weit weniger irritierend. Die Handlungsweise gemäß dem Tao würde demnach eine Umkehr oder Abkehr [vom Üblichen] bedeuten. – Natürlich nur eine positiv zu wertende Abkehr vom Üb­lichen, weil das Übliche als unzulänglich empfunden wird.. - Das ist ein Motiv, das wir in allen religiösen Traditionen finden. Es geht also um eine allgemeine Besinnung auf die zu verwirklichenden positiven Möglichkeiten des menschlichen Lebens.

 

Alan Watts [„der Lauf des Wassers“, S. 30] bringt ein anderes Beispiel für diese irritierende Ausdrucksweise: „Höhere Tugend nicht Tugend daher tugendhaft.“ Das ist für uns ein irritierender Telegrammstil, der durch eine kleine Ergänzung seine Befremdlichkeit verliert: „Höhere Tugend ist nicht absichtsvoll tugendhaft, und gerade deshalb ist sie Tugend.“ – Die Wendung „nicht absichtsvoll“ muss weiterhin aufgeschlüsselt werden: Bestimmte Neben- und Erfolgsabsichten ethisch-moralischer Handlungsweisen machen deren Motivation anrüchig. Wie steht es aber mit der Absicht, eine bestimmte Handlungsweise um ihrer selbst willen zu praktizieren, z. B. die Handlungsweise, einen Mitmenschen gleich mir selbst zu achten? Die Absicht, eine solche Handlungsweise um ihrer selbst willen zu praktizieren, wird nicht verworfen. Wer Betrug vermeidet, nur weil er befürchtet, dafür büßen zu müssen, pflegt die Tugend nicht um ihrer selbst willen und ist deshalb nicht wirklich tugendhaft. – Solche Gedankengänge sind uns auch in der europäischen Tradition geläufig. – Im Hintergrund steht die Frage nach dem Empfehlungs- bzw. Verpflichtungsgrund von Verhaltensweisen, die um ihrer selbst willen geübt wer­den sollten oder könnten.

 

Was ist Wu Wei? Die Kunst eines kampflosen Handelns könnte man sagen. – Man könnte auch sagen: eine Kunst des gewaltlosen Handelns. Die Kunst des Handelns, ohne etwas er­zwingen zu wollen. - Voreilige Entschei­dungen und voreilige Handlungen soll man vermei­den. Man soll sich in Geduld üben. Überreaktionen soll man ebenfalls ver­meiden, weil sie über das Ziel hinausschießen und Folgeprobleme schaffen. Es geht um die Zügelung des Tempera­mentes, die uns so schwer fällt. Aber wir sollten uns in dieser Züge­lung üben, denn mit dem Hang zu überschießenden Reaktionen sabotieren wir unsere eigenen Ziele und er­zeugen Schwierig­keiten für andere und uns selbst. Vor allem sabotieren wir die eigene Fähig­keit, [so weit wie möglich] frei und zwanglos zu existieren und zu handeln.

 

Aufschießende Emotionen soll man nicht ohne weiteres in Handlungen umsetzen. Laotse rät zum An-Sich-Halten und zum Inne-Halten. Er schätzt Geistesruhe und fließende Bewegung [im Gegenzug zu aufgeregter Betriebsamkeit]. Die Befürchtung, etwas zu versäumen, ist ihm fremd. Er wahrt das Seinige und überlässt den äußeren Erfolg seines Tuns dem Zufall. Im Grunde genommen auch ein stoisches Motiv.

 

Im Taoteking gilt Wu Wei sogar als Methode der hohen Politik. Der Gedanke lautet ungefähr so: „Wenn die Politik nicht abgeschafft werden kann, dann soll der Machthaber zumindest lernen, wie er dem Leben des Volks nicht schadet.“ [Yen-Hui Lee, Gelassenheit und Wu Wei, Nähe und Ferne zwischen dem späten Heidegger und dem Taoismus, eine Freiburger Philoso­phie-Dissertation 2001]. Laotse ist kein Freund der harten Hand.

 

Ideal wäre also, jeden nach eigener facon glücklich werden zu lassen, solange er anderen nicht schadet. Genauer: ihn nach eigener facon glücklich werden zu lassen, sofern er auch andern zugesteht, ebenfalls nach [deren!] eigner facon glücklich zu werden. [Hier tritt zugege­bener Maßen die Frage auf, wer [wie] die Regeln für die Harmonisierung der Freiheitsspiel­räume definieren darf bzw. definieren muss.] Nur was die gemeinsame Freiheit aller [in der Harmonisierbarkeit wechselseitig zugestandener Spielräume] stört, rechtfertigt eine äußere Regelung. Ein reiner Konventionalismus bestehender Üblichkeiten verschafft einer Regelung keine hinreichende Legitimität. Der Gesetzgeber kann natürlich entscheiden: „In Deutschland auf den Straßen gilt Rechtsverkehr.“ Das wäre konventionell festgesetzt. Der „Grund“ aber, warum so etwas ent­schieden werden darf und muss, ist letztlich die Rechtssicherheit aller Verkehrsteil­nehmer. Für diesen letzten Grund, warum man überhaupt Rechtssicherheit für alle will, gilt keine rein konventionalistische Legitimität. Hier beruft man sich oft auf „Selbst­verständlich­keit“.

 

Allgemeine Rechtssicherheit ver­sucht man nicht allein deshalb zu verwirklichen, weil es in größeren Menschenansammlungen so üblich ist, diesen Versuch zu machen. – Missachtung der Rechtssicherheit ist für viele Bewohner dieser Erde eine alltägli­che Erfahrung. Den­noch ist die Rechtssicherheit des Menschen „ein Wert“, bzw. eine ethische Sollensnorm. In diesem Zusammenhang ist es ein schöner Mythos, dass die Gerechtigkeit, weil sie auf der Erde keine Heimstatt fand, als Sternbild an den Himmel versetzt wurde. Die ethische Wahr­heit gründet sich in ihren Kernbeständen nicht auf der Erfahrung von Üblich­keiten, auch nicht auf die fak­tische Existenz von Riten und Umgangsformen. – Dies ist der Kern der Kontroverse Lao­tses mit den Konfuzia­nern gewesen, besonders den legalistisch und höfisch rituell orientier­ten. – Die Art der Gültigkeit einer wahrhaft ethischen Norm „trotz allem“, was man aus der Erfah­rung kennt, ist etwas Erstaunli­ches und Geheimnisvolles, dem Laotse mit seinen spezifi­schen Versionen von Tao und Te beizukommen versuchte.

 

In der Hauptsache enthält das Taoteking drei Reflexionsebenen: naturphilosophisch, individualethisch und poli­tisch. Die politische Reflexion fragt nicht, wie z. B. Rousseau in der Neuzeit, wie die Legitimität von Herrschaft [von Menschen über Menschen] im Einklang mit der prinzipiellen Freiheit des einzelnen gedacht werden könnte. Laotse diskutiert auch nicht über Gottesgnadentum versus Volkssouveränität, Staatsformen, Gewaltenteilung o. dgl.. Er behauptet einfach, die beste Regierungsweise sei die, von der man am wenigsten merke. Zudem erteilt er militärischem Wettrüsten und ehrgeizigen Machtkämpfen eine Absage. Das alles entspräche nicht dem Tao, das still, unerschöpflich und unauffällig im Hintergrund wirke. – Freisetzung der Einzelwesen zu einer spezifischen Wirkungsweise, die mit dem Ganzen harmoniert, ist ebenfalls ein Wesenszug des Tao. Also kann man durchaus auf eine sowohl liberale als auch egalitäre politische Konzeption hin interpretieren. Laotse setzt voraus, dass es Herrschaft von Menschen über Menschen „schon immer“ gegeben hat und verwirft nicht ihre grundsätzliche Legitimität. Er plädiert lediglich gegen ein Übermaß von Regulierung und äußerem Zwang.

 

Krampfhaftes, forciertes Handeln führt oft nicht zum gewünschten Erfolg. Laotse rät zum entspannten Loslassen vor und nach jeder Anspannung. – Es ist bei ihm überhaupt so, dass man sich auf irgendwelche Erfolgsabsichten nicht allzu sehr fixieren sollte. Sein Ideal ist eine Handlungsweise, die um ihrer selbst willen getätigt wird und ihren tatsächlichen Erfolg ver­trauensvoll dem Schicksal bzw. dem unverfügbaren Spiel der Umstände überlässt. Die ru­hige und ausgeglichene Verhaltensweise wird sich mehr und mehr zum Selbstzweck, diese Ver­haltensweise entspricht dem von Laotse propagierten Persönlichkeitsideal. Weniger ist oft mehr, weiß er. Ungehaltensein im Reden und Handeln schafft Probleme und löst sie nicht. Probleme sind auch oft nicht in der Art lösbar, wie es uns vorschwebt. Es gibt oft einen Aus­weg, aber vielleicht nicht dort, wo wir ihn su­chen. Starrheit und Starrsinn führt zu Unbeweg­lichkeit und Verkan­tung. Unduldsamkeit, Ungeduld, Nicht-Verstehen-Wollen [sowie erst recht fordernde Gewalt] führen zu Konflikten. Fixiertes Sorgenma­chen macht blind dafür, den Dingen eine zunächst unscheinbare Wendung zum Besseren zu geben, was öfters möglich ist, als man glaubt. – In Härte und Starrheit sieht Laotse Zeichen des Todes, in Beweglichkeit, Anpas­sungsfähigkeit und Bieg­samkeit Zeichen des Lebens.

 

Wu Wei ist eine Handlungsweise, die nichts erzwingen will. Laotse nimmt nur, was man ihm freiwillig gibt. [„Nicht-Gegebenes nicht nehmen“ ist übrigens die buddhistische Formel für Nicht-Stehlen. Diese Formel übersieht m. E. den Sonderfall herrenlosen Guts. Und eventuell den Fall, dass man etwas auf ordentliche Weise erwerben kann, was einem ein anderer nicht gönnt.] Wenn Laotse etwas nur durch Streit, Zwang und Gewalt erwerben kann, schätzt er es zwar allein deshalb noch nicht gering, aber er wartet geduldig, bis er es ohne Streit, Zwang und Gewalt haben kann. Er wartet also, bis sich die Gelegenheit fügt, ohne Befürchtung, et­was zu versäumen oder zu kurz zu kommen. Dadurch hat er jedenfalls das gewahrt, worauf es ihm am meisten ankommt. – Auch dieser Gedanke klingt sehr stoisch: vor allem „dasjenige“ zu wahren bzw. zweckmäßig zu modifizieren, was effektiv in unserer Macht steht. Das ist eigentlich „nur“ [bzw. „immerhin“] eine Fähigkeit, mit den eigenen Einstellungen umzugehen und sich nicht an die Stress-Programme von Ehrgeiz, Macht und Gewinnstreben zu verlieren.

 

Handeln, ohne etwas erzwingen zu wollen, ist die von Laotse propagierte Haltung nicht nur anderen Menschen gegenüber, sondern auch der Natur gegenüber. Man könnte versuchen, daraus eine prinzipielle Technikfeindlichkeit abzuleiten.

 

Stichwort „Technikfeindlichkeit“. Es existiert wohl ein gewisser Grad an Technikfeindlichkeit bei Laotse, aber er ist nicht grundsätzlich technikfeindlich. Er schätzt die Verfahrensweisen, die „mit dem Strich“ der Natur ge­hen, z. B. die Kunst der Segelschifffahrt, die nicht gegen die Kraft des Windes und des Wassers ankämpft, son­dern sich diese Kräfte zunutzen zu machen vermag. Was er nicht schätzt, ist z. B. die Kriegskunst, welche ihrer Natur gemäß gewaltsam und wider gegnerischen Willen ein Ziel erreichen will. Man könnte sagen, er schätzt Verfahrensweisen, welche nicht in Gegnerschaft zu Natur und Mensch ausarten, weil er an komplexe Abhängig­keitsbeziehungen von allem zu allem glaubt. Und er glaubt an Harmonisierbarkeit und teleologische Ausrichtung von allem auf eine große Einheit in der Vielfalt [von allem] hin. – Die Kunst des Bergbaus würde er vielleicht auch nicht schätzen, weil man damit dem Gebirge und der Erde gewaltsam ein Inneres entreißt, und aus gewon­nenen Metallen darüber hinaus vielleicht sogar Kriegsgerät und Schmuck produziert. Beide Dinge könnten zur „Verwirrung des Herzens“ beitragen und den Menschen aus seiner „Mitte“ reißen.

 

Prinzipienstarre Dogmatik widerstrebt dem Wesen des Laotse, insofern sollte man keinen Index der verbotenen, technischen Verfahrensweisen und Künste erwarten. Der härteste Punkt seiner Moral ist wohl die Ablehnung gewaltsamer Handlungsweisen bezüglich anderer Menschen. Auch hier „soweit als möglich“, nicht „absolut“, „völlig“ und „prinzipiell“.

 

Laotse propagiert Offenheit dafür, dass es auch anders geht. Ohne Hektik und Hetze kann man so handeln, wie es sich am besten fügt. – Das jeweils Beste aus der jeweils gegebenen Situation machen, ist sonderbarer Weise immer und überall möglich, wenn man bedankt, dass es über das Können hinaus keine wahrhafte Verbindlichkeit geben kann. Je nach Blickwinkel ist das eine Trivialität oder eine tiefgründige Weisheit.

 

Wir alle sind Wesen, die ihren inneren Drang nicht bezähmen können und deshalb fast be­ständig quengeln und drängeln. Die richtige Art des Bewegt-Seins entspringt aber aus der Be­wahrung von Unaufgeregtheit, Stille und Ruhe. Er sagt also dasselbe wie unser Sprichwort: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ – Eine Redensart nutzt sich durch häufigen Gebrauch und Miss­brauch ab. Aber wohlwollend interpretiert propagiert unser Sprichwort genau die Art des Be­wegt-Seins aus innerer Ruhe und innerem Ausgleich, die Laotse unter dem Titel „Wu wei“ zu einem Zentralartikel seines Denkens gemacht hat.

 

Laotse pflegt eine duldsame Haltung und hält sich mit übereifrigen Worten und Taten zu­rück. Er übt das Innehalten der Gedanken und Handlungen. Er agiert nicht aus. Er vermag es, den Geist in der Stille zur Klarheit zu bringen.

 

Im „Dienst des Himmels“ [59] ist nichts so wichtig wie die Mäßigung. – Mäßigung der Den­kungs­art und der Handlungsweisen. Genau die Kunst des unverkrampften, kampf- und ge­waltlosen Handelns. Die Kunst, nicht so zu handeln, wie wir es infolge falscher Angewohn­heiten [be­züglich konfliktschaffen­der Verhaltensweisen] allzu oft tun.

 

Wenn man mit dem, was man tun will, rechtzeitig anfängt, rechtzeitig aufhört und dazwischen unverhältnismäßige Aktionen unterlässt, sammelt man doppelt die Kräfte des Lebens und bleibt jeder Anforderung gewachsen. [59] Laotse rät zur Einübung maßvoller Verhaltenswei­sen und vertraut darauf, dass uns die Umstände nicht überfordern werden, wenn wir uns ein entsprechendes Verhaltensrepertoire für die verschiedenen Situationen des Lebens aufgebaut haben. – Die Reaktion aus der Ohnmachts- oder Panikperspektive, sowie die Verhaltenswei­sen des überforderten Kindes lehnt er ab. Hiergegen baut er, sozusagen verhaltenstherapeu­tisch, ein geeignetes Übungsprogramm auf. – Unvorbereitet und aus dem Stand heraus kann man vielen Situationen nicht gerecht werden. – Die „Übung“ ist eine Kultur der Zuversicht, nicht eine Kultur von Ohnmachts- und Verzweiflungsgefühlen

 

Die hirnarchäologisch „alten“ und psychologisch nahe liegenden Empfindungs-, Denkungs- und Verhaltensweisen zielen ab auf Übertreibungen in Befürchtungen und Erwartungen, auf Hauen, Stechen und Um-sich-beißen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Laotse aber erkennt die Berufung des Menschen zu Unaufgeregtheit, Ausgeglichenheit und einem großen, umfas­sen­den Geist.

 

Er erreicht sein Ziel durch Nachgiebigkeit. Durch maßvolles Auftreten und bescheidene Re­den wahrt er seinen Standpunkt. Suaviter in modo, fortiter in re. Indem er also konziliant auf­tritt, wahrt er, worum es ihm hauptsächlich geht. – Er tritt mit niemandem in einen polemi­schen Streit ein, und wahrt doch die ihm wichtigen Gesichtspunkte. „Des Berufenen Tao ist wirken, ohne zu streiten.“ [82]

 

Wer seine Fehler erkennt, der kann sich auf die rechte Weise darüber hinweg setzen. Indem er bescheiden bleibt, tut er Großes. Das Bescheiden-Bleiben ist ihm nämlich das Große.

 

Er beachtet das Unbeachtete. – Es bedarf 30 Speichen, um ein Rad zu fertigen, aber die Funktion des Rades beruht nicht allein auf diesen Baumaterialien, sondern auch auf der Leere in ihrer Mitte, der Nabe. [11]

 

Er versucht nichts zu erzwingen. Freiheit und Einsicht, die ihm hilft, kann jeder zu einem we­sentlichen Anteil nur in sich selbst finden.

 

Er lässt ab von aufgeregtem und ungeduldigem Tun und bemerkt, dass dies mehr und mehr möglich ist. Er bemerkt, dass ihm Unaufgeregtheit, Geduld und Gelassenheit gut bekommt und gut ansteht.

 

Vorlaute Wichtigtuerei ist nicht seine Sache. Er bevorzugt wie Epikur die Verborgenheit.

 

Er gibt nach, um gerade dadurch das Eigene zu wahren. Kleinliche Streitigkeiten bauen sich auf zu Konflik­ten, die Eigengesetzlichkeiten hervorbringen und uns vom Wesentlichen ab­bringen. Vor allem erzeugen sie „schlechte Energie“. „Schlechte Energie“ heißt: unsere Be­ziehungen sind durch negative Gefühle belastet. – Rückkehr zu sich selbst und Orientierung auf das Tao erneuern die „gute Energie“. „Gute Energie“ heißt: Unbefangenheit, als sich selbst verstärkende Disposition zu günstigen Einfällen.

 

Er vergilt unfreundliches Betragen mit Wohlwollen. Zumindest mit Unaufgeregtheit. Er siegt durch Nachgiebigkeit. Und wenn er nicht siegt, hat er doch gewahrt, worauf es ihm vor allem ankommt.

 

Er gesteht jedem das Recht zu, die Wahrheit in sich selbst ohne äußere Nötigung zu finden. Sich selbst verhärtende Gemütszustände wie Abscheu und Trotz schätzt er nicht. Auf unge­zwungene Weise distanziert er sich davon.

 

Er wird sich selbst mehr und mehr Weg und Ziel. Er findet mehr und mehr eine für ihn per­sönlich geeignete Lebensweise heraus.

 

Er handelt mit Gelassenheit und aus innerer Ruhe, unabhängig davon, ob er Lob oder Tadel er­fährt. – Wird er allerdings von seinen Vorgesetzten gelobt, fragt er sich, ob er nicht doch et­was falsch gemacht hat. Denn in der hierarchisch strukturierten Zusammenarbeit entsteht viel Eifer für das Falsche. Man lobt und tadelt nicht derart, wie es unabhängig denkenden Men­schen entspricht.

 

Durch Selbstlosigkeit erlangt er Selbstvollendung. [7] – Aber er opfert sich auch nicht andern auf, denn Ruhe und Frieden sind ihm das Höchste. [31] – Er kann Trübes „durch Stille all­mählich klären“. Er kann „Ruhe durch Dauer allmählich erzeugen“. [15] Er tritt behutsam auf, als gelte es einen angeschwollenen Fluss zu durchwaten. [15]

 

Im alltäglichen Kampf um Anerkennung und Reputation hält sich Laotse weitgehend zurück. Er scheut die Eigendynamik der Konflikte: am Anfang sind wir frei, danach gerät uns die Sa­che ja fast zwangsläufig außer Kontrolle. – Es liegt ihm nicht einmal etwas daran, als Denker des Tao oder des Wu Wei anerkannt zu werden, weil er weiß, auf wieviel Missverständnis, Scheinbarkeit und Zufall solche Anerkennung zu beruhen pflegt. Hier ähnelt er dem Sokrates, der eine Gruppe von Touristen, die in eine der berühmten Athener Philosophenschulen ge­führt werden wollten, in irgendeine Philosophenschule führte, ohne auch nur zu erwähnen, dass er der weithin bewunderte Sokrates sei. Er hielt es nicht für angebracht, über seine eigene Tätigkeit etwas zu bemerken.

 

In affaires du coeur und Fragen der Liebe ersetzt er finstere Leidenschaft durch Heiterkeit und anerkennende Sympathie. Er sucht die Freiheit des Einvernehmens und vermeidet, so weit als möglich, manipulatorisches Spiel. Dem ungeduldigen Kind in sich, das auf schnelle Entscheidung für und wider drängt, verwehrt er die füh­rende Stimme. Er übt sich also auch hier, soweit als möglich, in Milde und Gelassenheit.

 

Das Phänomen des Verliebtseins betrachtet er mit einem gewissen Argwohn. Es ist zum Teil unzweckmäßig, weil man sich dabei vielleicht vorschnell auf eine bestimmte Person fixiert, obwohl man viel besser zu einer anderen Person passen würde. Also muss man eine gewisse Verliebtheitsdisziplin einführen, um sich nicht vor­schnell zu verlieben. Zum anderen Teil ist die Verliebtheit aber auch wieder ein zweckmäßiger Gefühlszustand, weil es den einzelnen Menschen aus sich herausführt und eine Änderungsbereitschaft gegenüber dem bisherigen Leben bewirkt. – Aber die Verwirrung des Herzens stellt wohl in allen Fällen eine Gefahr für den Menschen dar. – Gerhard Roth sagt: „Menschen ändern sich, wenn sie in emotionalen Aufruhr kommen. Ansonsten arbeiten die für Emotionen zuständigen Systeme des Gehirns weiter wie gewohnt.“ – Der Sinn des Verliebtseins in der Natur könnte also ganz einfach darin bestehen, den Menschen vermittelst eines besonderen Frühlingsgefühls über sich selbst hinaus zu führen.

 

Der Ausdruck „Gelassenheit“ kann auch mit der Konnotation von Gelten-Lassen und Anerkennung des andern verbunden werden. Nicht aber mit Coolness im Sinne einer abwertenden und instrumentalisierenden Haltung dem andern gegenüber.

 

Laotses Persönlichkeitsideal erinnert uns an das Porträt des hochsinnigen Mannes, das Aris­toteles im vierten Buch seiner Ethica Nicomachea zeichnet. Dort heißt es z. B::

 

„Wo sich Ehrgeiz in den Vordergrund drängt, hält er sich fern, desgleichen da, wo andere die erste Rolle spielen. Ruhe und bedächtiges Zuwarten zeichnen ihn aus, …“ [1124 b 23 ff.]

 

„Seine Bewegungen sind gemessen, seine Stimmlage ist tief und seine Sprechweise ausgeglichen, denn wer nur weniges ganz ernst nimmt, gerät nicht leicht in Hast, und wer nichts als „groß“ empfindet, kennt keine nervöse Spannung.“ [1125 a 13 ff.]

 

Der beste Kommentar, den ich dazu kenne, stammt von Bertrand Russell: „Aristoteles … gibt ein Bild des Men­schen, der alle Tugenden, wahre Seelengröße besitzt. Das gibt ein gutes Bild von dem, was im Benehmen der Bürger jener Zeit ganz allgemein für bewundernswert gehalten wurde – im Ganzen überwältigend, und das Nichtvorhandensein falscher Bescheidenheit herzerfrischend.“ [Denker des Abendlandes]

 

Versucht man das Taoteking im Großen und Ganzen zu fassen, ist die Propagierung eines bestimmten Persön­lichkeitsideals eine der wichtigsten Bedeutungsebenen. Die beiden andern Ebenen sind der Gesichtspunkt des Ganzen der Wirklichkeit und die Frage nach der politischen Herrschaft. – Die beste ist die, von der man am wenigsten bemerkt.

 

Wu Wei ist ebenfalls eine Art des absichtslosen Handelns. Inwiefern absichtslos? Absichtslo­ses Handeln wäre ein Handeln um des Selbstzwecks einer spezifischen Art des Handelns willen. Im Falle des Menschen wäre dies ein Handeln auf der Höhe der spezifisch menschli­chen Möglichkeiten. So wie man ehemals sagte, wahre Tugend sei sich selbst Lohn und werde nicht um eines äußeren Erfolges willen geübt.

 

Man könnte auch interpretieren: „Wu wei heißt, nicht so handeln.“ Nicht so, wie wir es unter dem Einfluss alltäglicher Verwirrungen und Verkennungen tun, sondern irgendwie anders. Gemäß spezifische n Möglichkeiten der menschlichen Natur. [Im Guten, nicht im Schlechten Die „eigensten“ Möglichkeiten sind in beiden Fällen „spezifisch“.] Da Laotse den harten, fordernden Ton eines ethischen Rigorismus vermeidet, wäre das die Emp­fehlung, so weit als möglich von dem Gedanken Abstand zu nehmen, etwas erzwingen zu können oder zu wollen. – Auch hier, wie bei seinen Ausführung über Waffenbesitz und Waffenanwendung [31]: „so weit als möglich“. – „Waffen sind eine unheilvolle Gerätschaft. Wenn er nicht umhin kann, gebraucht er sie.“ – In [30]: „Zu keinem Zweck gebraucht er Gewalt.“

 

Eigentliche und echte menschliche Moral, falls es sie geben sollte, muss wohl etwas enthal­ten, was um seiner selbst willen gesucht und erstrebt wird. Bei Aristoteles ist das ein letzter Zweck, der menschliches Bedürfnis mit wahrer Vernunft vereint. – Die rechte Harmonie der Seelenkräfte richtet sich wie von selbst auf einen letzten Zweck aus. - Bei Kant ist es der Mo­dus des nicht-hypothetischen Gebotenseins, der bestimmte gedanklich motivierte Verhaltens­weisen hervorbringt. Ein „Um-seiner-selbst-willen“ muss auftreten, weil wir sonst keine ge­dankliche Begründung für das Gebotensein gewisser Verhaltensweisen hätten und die Rück­frage in’s Endlose ginge. Es gäbe dann keine gültige Norm des Verhaltens. Das ist vermutlich der Grund, warum auch Laotse einen reinen Konventionalismus in der Moral ablehnt: „die Sitte ist Treu und Glaubens Dürftigkeit und der Verwirrung Anfang.“ [38]. Tatsächlich neh­men wir Stellung zu konventionellen Regeln: wir bejahen, verneinen oder relativieren sie aus anderen konventionellen Gründen und auch aus irgendwelchen überkonventionellen Gründen. Gemäß einem Gedanken davon, was wirklich „notwendig“ ist, was wahrhaft empfehlenswert ist usw.. Vielleicht auch nur wegen der leitenden Idee einer anzustrebenden Kohärenz ver­schiedener konventioneller Gültigkeiten. - Laotse sagt: „zurück zur Natur!“ Das heißt in sei­nem Falle: Zurück zur eigentlichen Quelle, zum Ursprung, zum Tao. Dieser Ursprung war für ihn der eigentliche Empfehlungsgrund der Haltung, die das Ihre wahrt. – Es handelt sich um den moralischen Einklang mit dem großen Ganzen. Die „Wirklichkeit“, die man hier nicht auf naturwissenschaftlich Berechnetes reduzieren kann, hat im zweckmäßigen Verbund [mit an­deren Wesen] Lebewesen hervorgebracht, welche die Fähigkeit besitzen, der „Ordnung der Dinge“ in einer Art von erhabener Kontemplation bewusst zu werden und im Einklang damit zu handeln. Im Geist der Stille wird das Tao sich seiner selbst bewusst.

 

Die Formel „Einklang mit dem Tao“ ist ähnlich weitläufig und unbestimmt wie das stoische [oder epikureische] „gemäß der Natur leben“. Natur- und moralphilosophische Betrachtung werden hier nicht in moderner Strenge unterschieden. – Es ist ein teleologischer Naturbegriff, welcher die Betrachtung Laotses dennoch nachvollziehbar macht. Die Natur, in endlos flie­ßendem Gestaltenwandel, hat mit dem Menschen ein Wesen hervorgebracht, dessen Te [Wirkkraft, spezifische Fähigkeit] darin besteht, eine besondere Art von Einklang mit seinen Umständen und sich selbst zu realisieren. In stillen, behutsamen und geduldigen Verhaltens­weisen wird dieser Einklang eher spürbar als in wilder Hetzjagd. Eine Hand voll Ruhe ist ihm sozusagen mehr wert als zwei Hände voll von Haschen nach Wind. In allge­meinen, umfas­senden Gedanken kontemplativer Art, die nicht um eines Nutzens willen ent­stehen, findet der Mensch zu sich selbst.

 

Tao ist die lautlose und unsichtbare „Ordnung der Dinge“. Das „Gesetz“ des Himmels und der Erde, könnte man sagen. Das Wort kommt von „Weg“, „Richtungssinn“, „Ordnung“ usw. und entspricht in etwa unserem Wort „Sinn“, weshalb es in einer mir vorliegenden Überset­zung mit „SINN“ wiedergegeben wird. Worin besteht diese große, umfassende Ordnung „von al­lem“? Im unaufhaltsamen Fluss der Geschehnisse, in welchem letztlich Menschen hervor­treten, die eine besondere Art von Einklang von Äußerem und Innerem realisieren. Man darf vielleicht hinzu setzen: Das Tao besteht darin, dass Wesen existieren können, welche sich in der Modifikation ihrer Denk- und Verhaltensweisen „üben“ können derart, dass ihnen ein Einklang mit andern und sich selbst mehr und mehr gelingt. Durch die erzielbare Überein­stimmung innerer und äußerer Umstände erzielen sie letztlich einen inneren Einklang mit sich selbst. Der Weg zum Tao ist also ein Weg zu sich selbst. Diesen Weg gefunden zu haben, heißt, das Ziel des eigenen Lebens erreicht zu haben. Der Weg führt heraus aus der „Verwir­rung des Herzens“. – „Verwir­rung des Herzens“ ist also Laotses Ausdruck für „Verblendung“ bzw. „Fehlwissen“ bzw. „Fehleinstellung“.

 

Laotse ist ein milder Geist. Er spricht nur von „Verwirrung des Herzens“, wo andere Dämo­nen in finsteren Höllen tanzen lassen. Seine Empfehlung, „das Herz zu leeren“, bedeutet nicht Herzlosigkeit, sondern Abstand von der „Verwirrung“. Das Ende seines Wegs soll ein stilles Ufer sein.

 

Stichwort „Theorie des Bösen“.

 

Trotz seines Vertrauens in das Leben spendende und mütterlich gewährende Wesen der Natur übersieht Laotse nicht die Unzulänglichkeit des menschlichen Wesens. Für Machtkämpfe und Kriegskünste hat er wenig übrig. „Die Starken sterben selten eines natürlichen Todes.“ [42] „Handlungen kommen auf das eigene Haupt zurück.“ [30] Er sagt: „Erreiche dein Ziel, aber hüte dich vor der Gewalt.“ [30] – Heere und Waffentechnik sind in seinen Augen mit Disteln, Dornen und Hungerjahren verbunden.

 

Neben ehrgeizigen Machtkämpfen sind Vielbeschäftigung, ruhelose Hast und Unmäßigkeit des menschlichen Verhaltens typische Phänomene der menschlichen Unzulänglichkeit. „Ren­nen und Jagen machen der Menschen Herzen toll.“ [12] „Es gibt kein größeres Übel als kein Genüge kennen. Es gibt keinen größeren Fehler als haben wollen.“ [46]

 

Phänomene der Unmäßigkeit des menschlichen Wollens und Verhaltens sehen wir überall. Laotse sieht das als Unausgeglichenheit und Dezentriertheit. Er selbst empfiehlt das Handeln „aus der Mitte“.

 

Die Persönlichkeitshaltung „des Berufenen“ besteht vor allem in Ruhe, Geduld und Gelassen­heit. – Gegenteilige Verhaltensweisen sind nach dem Werturteil „des Berufenen“ nicht zu empfehlen, sie gefährden erfahrungsgemäß auch sehr oft den Erfolg unseres Handelns

 

Das große Tao gleicht dem Bogenspannen.

Oberes wird heruntergezogen, Unteres emporgehoben,

Gebogenes gestreckt, Gestrecktes gebogen.

Großes Tao besteht darin, was zuviel ist zu verringern,

was zuwenig ist, zu ergänzen.

Des Menschen Sinn ist nicht so,

er verringert, was nicht genug hat,

um es dem zu geben, der ohnehin zuviel hat.

Wer das Tao erkennt, ist imstande, von dem abzugeben,

was er zuviel hat.

Er wirkt ohne Erwartung und ohne sich wichtig zu machen. [77]

 

Laotse für Unternehmensberater, Musikübende und Sportler: Viele Menschen schaffen sich ein Übermaß an Stress und Anstrengung, gerade weil sie sich so sehr anstrengen. Aber dieser Druck bringt keine besonderen Leistungen hervor. Wir kennen das aus dem Sport. Bis zu ei­nem ge­wissen Grad ist Anstrengung wunderbar, aber ab einem bestimmten Maß führt An­strengung dazu, dass man verkrampft, dass man nicht mehr genügend flexibel ist. [aus einem Interview mit dem Management-Berater Hans-Georg Huber, Sendung im Bayrischen Rund­funk vom 18.01.2006]

 

Man ist oft verspannt und nicht in Übereinstimmung mit sich selbst, geistigen, psychischen und physischen Faktoren und Aspekten insgesamt. Man hat nicht den Bezug zur „inneren Tiefe der Seele“. Laotse sieht kei­nen Vorteil in krampfhafter Übung und fixierter Erwartung. Er übt sich im Handeln, Reden und Denken, ohne etwas er­zwingen zu wollen. Er vertraut auf die ordnende Kraft der Übung und den Ausgleich des Ganzen.

 

Warum kommt es zu Übereifer und Überstürzung, zu krampfhafter Hektik? – Dafür hält La­o­tse den Hinweis auf die „Verwirrung des Herzens“ bereit. Sie kann durch die ordnende Kraft der Übung überwunden werden.

 

Laotse neigt zu einer Mystik des Unaussprechlichen. Tao und Te lassen sich sprachlich nicht darstellen wie gewöhnliche alltägliche Dinge. Was man in der Weise alltäglichen Sprechens benennen kann, ist weder wahres Tao noch wahres Te. Diese beiden „Dinge“ sind uns ledig­lich [bzw. immerhin] in der Weise ahnungsvoller „Intuition“ zugänglich. Wahrscheinlich han­delt es sich um sehr allgemeine, umfassende Voraussetzungen, die wir in unserem Denken und Reden in einer Art von implizit beanspruchter Selbstverständlichkeit machen. Solche Voraussetzungen werden hier unter den Stichworten „Tao“ und „Te“ nicht nur stillschwei­gend verwendet, sondern eigens als Ungesagtes bzw. sogar Unsagbares thematisiert. – Die Fähigkeit des Menschen, über eine allumfassende Ordnung der Dinge nachzudenken, bringt sein Denken auf das Tao, die Art der umfassenden Ordnung. Die Fähigkeit zu einer Hand­lungs­weise mit eingeschlossener Zurückwendung zu allgemeinen und grundlegenden Gedan­ken ist das Te. – Das Ganze mit dem optimistischen Ergebnis, dass es auch anders ginge, als es tatsächlich geht, weil das Tao die teleologische Ausrichtung auf das Te enthält und das Te den Blick auf die Ordnung der Dinge.

 

Das sind Themen, die sich einer einzelwissen­schaftlichen Analyse oder Objektivierung ent­ziehen. Derart kann man Tao und Te als umfas­senden Verstehenshorizont der Wirklichkeit auffas­sen. Oder als „Sein des Seienden“ im Sinne einer vorausgesetzten Beziehungsfähigkeit der menschlichen Rede auf irgendwelche Inhalte oder Gegebenheiten.

 

Eine generelle Eigenart der wahrnehmbaren Wirklichkeit ist der unaufhörlicher Fluss der Ge­schehnisse und die Wandelbarkeit der Dinge. Laotse betont den Aspekt unablässigen Gestal­tenwandels. Auch deshalb misstraut er der fixierenden Art sprachlichen Denkens.

 

Unveränderlichkeit des wahrnehmbaren Daseins könnte bei allem Wandel in einem festen Gesamtquantum phy­sikalischer Energie bestehen, so dass es bei aller Veränderung ein Erhal­tungsgesetz gibt. So meinte Kant im Grundsatzkapitel der K. r. V., 1. Analogie, dass Wechsel und Wandel nur als Gestaltwandel eines unveränderli­chen Quantums an Materie, für die wahrnehmbare Wirklichkeit insgesamt, denkbar sei. In moderner Fassung dieses Gedankens, als Energieerhaltungssatz, muss man die Äquivalenz von Masse und Energie berücksichtigen. Man kann nicht mehr, wie Kant es an einer Stelle tut, die Beharrungsgröße in einem unverän­derlichen Quantum an wägbarer  Materie, also in der Masse, sehen. – Kant nennt einen anti­ken Philosophen, der sich die Frage vor­legt: „Wie schwer ist der Rauch?“ – Dieser antike Philosoph bildete die Dif­ferenz aus der Masse des Brenn­materials und der übrig bleibenden Asche und setzte damit die wägbare Masse als Erhaltungsgröße voraus.

 

In mancher Hinsicht ist es besser, nicht so viel zu denken. Unser Denken zielt oft auf Eindeu­tigkei­ten, wo keine sind. Zudem neigen wir zu überzogenen Schlussfolgerungen und willkür­lichen Verallgemeinerungen, sozusagen überschießendem Muster-Erkennen. Die Natur aber liebt in vielen Fällen keine so eindeutigen Entscheidungen, wie sie der Mensch in seinem Denken oft fälschlich erwartet. Wenn man sie nötigt, Farbe zu bekennen, übt man Zwang auf sie aus, der das Ergebnis beeinflusst. – Laotse kennt eine tiefe Skepsis gegenüber der fixie­renden Eigenart des menschlichen Bewusstseins. In unserem Handeln fällt es uns oft unge­heuer schwer, einen Wunsch oder eine Begehrlichkeit loszulassen. In unserem Denken fällt es uns oft allzu schwer, einen einmal erfassten Gesichtspunkt etwas zu relativie­ren. Die grundle­gen­den Gesichtspunkte unseres Denkens und Handelns sind aber in der Art einseitiger Fixie­run­gen oft nicht zu erfassen, meint Laotse.

 

Etwas anderes als das, was wir zu wissen glauben, ist eigentliche Wahrheit. Wir übersehen ja oft man­cherlei wichtigen Zusammenhang, z. B. die Leere in der Mitte der Speichen, welche als Nabe das Rad funktionsfähig macht. [11] – Laotse kommt mit manchem seiner Aussprü­che einem Selbstdementi nahe. Man kann diese Denkfiguren vielleicht aber auch als Aussprü­che eines sich selbst in seinen Ansprüchen relativierenden Denkens verstehen. Der Text mit sei­nen Stilmitteln des paradoxen und orakelartigen Ausspruchs gestattet m. E. keinen zwingen­den Schluss auf die Verwerfung jeglichen Wahrheitsanspruchs.

 

Zu Beginn dieses Aufsatzes hatten wir von verschiedenen Bedeutungen der Wendung „Wu wei“ gesprochen: 1. Handeln, ohne etwas erzwingen wollen, 2. gewaltlos handeln 3. „mit dem Strich“ verfahren, handeln, wie es die Gelegenheit fügt 4. nicht unter dem Einfluss von Unge­duld und Unduld­samkeit handeln 5. nicht unter dem Einfluss der „Verwirrung des Herzens“ handeln 6. „umgekehrt“ handeln.

 

Punkt 4, 5 und 6 kann man weitläufig paraphrasieren und ergänzend ausgestalten. Z. B. im Sinne von: Nicht-Ausagieren problematischer Stressprogramme, z. B. in Situationen von Angst und Schrecken. Wilhelm Busch dichtet treffend: „In Ängsten findet man­ches statt, was sonst nicht stattgefunden hat.“ Man kann auch sagen: Wu wei heißt Aufhören, ein Problem mit Maßnahmen der Art aus der Welt schaffen zu wollen, mit denen man sich mehr neue Schwierigkeiten schafft als alte überwindet. Dies in Anlehnung und Abwandlung an einen Spruch von Albert Einstein: „Wir können unsere Probleme nicht mit den gleichen Maßnah­men lösen, mit denen wir sie verursacht haben.“

Das setzt zugegebenermaßen die Erkennbarkeit der eigenen Denk- und Verhaltenswei­sen zu­mindest prinzipiell voraus, und zwar vermittelst zutreffender und passender Begriffe. Im All­tag können wir diesem Anspruch nur gelegentlich in den etwas helleren Stunden unseres Le­bens gerecht werden. Ungünstige mentale Verfassung behindert uns sehr oft. Die Erkenn­bar­keit unserer Denk- und Verhaltensmuster soll hinsichtlich des Gesichtspunkts erfolgen, inwie­fern wir uns vielleicht mit der Art unseres Problemlösungsverhaltens zusätzliche Schwierig­keiten schaffen. Ein großes Problem dabei ist vermutlich der innere Wider­stand dagegen, un­zweckmäßige und problematische Denk- und Verhaltensweisen auch bei sich selbst wahr­nehmen zu lernen. Wu wei und Ge­lassenheit erfor­dern also den Verzicht auf „pa­ranoide“ Wirklichkeitskonstruktionen, wonach unser Unglück vor allem vom missgünsti­gen Verhalten anderer herrührt. Wu wei beinhaltet demnach auch den Entschluss, gelegent­lich, bzw. mehr und mehr, auf kontraproduktive Übertreibungen und Dramatisie­rungen zu ver­zichten. – Wer z. B. fürchterliche Zustände in unserer Krankenhäusern perhorresziert, in­kom­petente Ärzte und schlecht ausgebildetes Pflegepersonal am Werk sieht, ohne eigentlich etwas Genaue­res über einen bestimmten Krankenhausbetrieb zu wissen, und dann selbst einmal in’s Kran­ken­haus muss, der hat sich durch diese Dramatisierung in einer Nicht-Wis­sens-Situation ein zu­sätzliches vermeidbares Problem geschaffen. In der Wu Wei-Haltung verzichtet man weitge­hend auf die dramatisierende Projektion, konstatiert die Nicht-Wissens-Situation, in der man tatsächlich steht, tut das Mögliche und erhofft das Beste. Man versucht also, Probleme zu verneiden, die durch eine vermeidbare Fehleinstellung entstehen könnten. – Übermäßige Sor­genmacherei und schlimme Befürchtungen gehören zu den schlechten Ange­wohnheiten, auf die man achten sollte. Es gibt hier so etwas wie ein zuträgliches Maß, sozu­sagen konstruktive, weniger konstruktive und destruktive Formen von Sorge und Befürch­tung. Die Frage der „Definierbarkeit“ des Maßes werden wir in einem der nächsten Ab­schnitte unter dem Ge­sichtpunkt der „Angemes­senheit“ thematisieren.

 

Das „mimetische“ Bedürfnis unserer [menschlichen] Art des Denkens und Handels wirkt dem Erfordernis [der Nicht-Überreaktion] zum Teil entgegen. Tempera­ments- und Stimmungsaus­brüche in geeigneten Situationen machen oft sehr viel mehr unmittelbaren Ein­druck als Ruhe und Vorsicht. Überreaktion ist sozusagen eine sich fortpflanzende, „anste­ckende“ Gleichge­wichtsstörung bezüglich der anzustrebenden Ruhe des Denkens und Han­delns. – Wu wei wäre damit vor allem mit dem Gehör für die „leise Stimme der Vernunft“ [S. Freud] ver­bun­den, die unter Un­ständen sehr hilfreich wirken kann. Stim­mungsmache, Mystifikation, Dä­monisierung und Scharfmacherei müssten dabei in vielen Situationen eingeschränkt werden. Es geht darum zu bemerken, was wir mit unseren Denk- und Verhaltensmustern andern und uns selbst antun. Dazu be­darf es [gelegentlich] einer um mäßige und zutreffende Ausdrücke sich bemühenden Sprechweise ohne verschlei­ernde oder anderweitig tendenziöse Absichten. Das ist ein hohes Ideal, in Wirklichkeit „nur“ annähernd [bzw. „immerhin“ annähernd] zu realisie­ren. In diesem Sinne ist Wu wei nicht weniger als die Fä­higkeit, aus ethischer Refle­xion Überreaktionen und die Entstehung zusätzlicher Schwierig­keiten einzuschränken. Wu wei als Nicht-Überreaktion wäre also „verhältnismäßige“, „ange­messene“ Aktion. Kein Nicht-Han­deln, sondern höchste Form des Handelns gemäß einem besonderen Persönlich­keitsideal.

 

Es ist eine interessante Frage, ob man Wu wei als „verhältnismäßiges“, „angemessenes“ Han­deln weiter explizieren kann. Z. B.: „Die verhältnismäßige Denk- und Verhaltensweise in einer gegebenen Situation ist diejenige D.-V.-Weise in einer Reihe von alternativen Optionen mit dem größten Nutzen-Erwartungswert. Gemäß Wahrscheinlichkeitswissen bezüglich der zu erwartenden Konsequenzen und irgendwelchen Wünschbarkeits­werten.“ Eine solche „Spieltheorie“ ist aber etwas sehr Theoretisches. Lebensnaher ist die Rede vom Einüben der Denk- und Verhaltensweisen, wozu auch der Aufbau persönlicher Prioritäten des Wün­schenswerten und der Aufbau eines Systems von Wahrscheinlichkeitsannahmen bezüglich der Konsequen­zen und Wechselwirkungen zählen, nämlich der Wechselwirkungen unserer D.-V.-Weisen mit den D.-V.-Weisen anderer. Das sind die Elemente, Materialien und Phänomene des menschlichen Lebens: „der Menschen mannigfach Gebaren“. „Mentalitätsbeeinflusstes und gedanklich modifizierbares Gebaren“, möchte ich ergänzen.

In allen diesen Bereichen treffen wir auf das Phänomen des Sich-Zuei­gen-Machens von Ein­stellungen, Denk- und Verhaltensweisen. – Vorauszusetzen, jedenfalls prinzipiell, ist die mensch­liche Fähigkeit, die eigenen und fremden Verhaltensweisen begriff­lich zutreffend auf­zufassen. Jedenfalls unter gewissen günstigen Umständen, z. B. in einem besonderen Ge­spräch. Ebenso muss man eine einigermaßen zutreffende Einschätzung der Konsequenzen unse­rer Verhal­tensweisen als möglich voraussetzen. Sol­cherart, dass man z. B. bemerkt, dass Hass, Gewalt und Nicht-Anerkennung anderen gegen­über fast regelmäßig Gegenhass, Ge­gengewalt und reziproke Nicht-Anerkennung provozieren. Es denkt z. B. jemand, dass ein genügend großes Maß von Fähigkeiten, Macht und Gewalt aus­reichen würde, Gegenwehr gegen ein Vorhaben zu verhindern. Hypothetisch und konjunkti­visch genommen hat er dabei vielleicht Recht, in Wirklichkeit täuscht er sich jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit über die „genügende“ Größe der Fähigkeiten, der Macht und der Gewalt. In diesem Falle wäre neben dem moralischen Problem auch die Pro­jektion der genügenden Fähigkeiten, Macht und Ge­walt zu erörtern. Und die Sorge um deren Erhalt.

 

Auch im Falle von Misstrauen und geheimer Feindseligkeit treffen wir auf das Phänomen der self fullfilling prophecies. Wu Wei möchte ein destruktives Selbstläufertum dieser Störungen vermeiden. Eine wichtige Frage ist dabei immer, ob überhaupt Optionen bestehen oder ob uns das Gesetz des Handelns aufgezwungen wird. Es wird uns oft sehr viel weniger aufgezwun­gen, als wir denken, meinte wohl Laotse dazu. Diesen Punkt kann und muss jeder letztlich in der Stille und in geeigneten Gesprächssituationen [wofür es keine Patentrezepte gibt] für sich selbst entschei­den.

 

Sehr wichtig ist es, Aufmerksamkeit für die Voraussetzung zu wahren, dass es Optionen für Denk- und Verhaltensweisen gibt. In dieser Bedeutung ist Wu Wei ein Innehalten. Es gibt nahe liegende Denk- und Verhaltensmuster in uns, die wir nicht betriebsblind ausagieren sollten. Unser Denken und Handeln gerät leicht in den Sog von Unterstellungen und Projekti­onen. Daraus resultiert eine Unfähigkeit zu bemerken, was man sich selbst und andern antut.

 

Der direkte Anblick des Medusenhaupts in der griechischen Mythologie führt zur Erstarrung dessen, der sich unmittelbar dem Anblick des Schrecklichen aussetzt. Im Spiegel der Refle­xion betrachtet führt der Anblick des Medusenhaupts aber nicht zur Erstarrung. Nehmen wir den Blick in den Spiegel als Innehal­ten in einem betriebsblind ablaufenden Denk- und Akti­onsmuster. Das Muster selbst sei der gespiegelte Sachverhalt, der uns in eine Erstarrung ver­setzen kann, wenn wir es allzu unmittelbar ausagieren. Dann haben wir fol­gende Situation: Die Erstarrung würden wir selbst produzieren durch betriebsblind erfolgende Überreaktion. In der Innehaltung aber, welche keine schroffe Abwehr des problematischen Denk- und Verhal­tensmuster darstellt, denken wir über dieses Muster nach und bewerten es als lediglich mögli­che, wenn auch naheliegende Handlungsweise in einer Reihe von abgewandelten Alternati­ven. Aus der Überlegung heraus erfolgt dann die Modifikation des ursprünglich naheliegen­den Pro­gramms. Mit der Fähigkeit zur Modifikation unserer D.-V.Weisen hüten wir uns vor einer gefährlichen Art der Erstarrung und wahren eine wünschenswerte Art der Flexibilität.

 

Durch die Fähigkeit des Wu wei im Sinne des Nicht-Ausagierens bzw. der Nicht-Überreak­tion steht der Mensch in einem spezifisch menschlichen Verhältnis zu seinen eigenen Ge­wohnheiten und zu seiner Tradition. Goethe dichtete zu diesem Phänomen: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“ Dieses „Erwerben“ ist die modifizie­rende Anverwandlung der „gegebenen“ Denk- und Verhaltensweisen. „Gegeben“ sind diese Muster aufgrund von Einübung, Gewohnheit und Überlieferung. Niemand weiß genau, wa­rum wir uns dieses oder jenes angeeignet haben, aber von dem Phänomen der anverwandeln­den Aneignung können wir ausgehen. Diese Fähigkeit [der anverwandelnden Aneignung] gilt es, durch Wu wei, Ruhe und Gelas­senheit zu wahren, weil sie eine wesentliche Fähigkeit der menschlichen Natur darstellt. Diese Fähigkeit ist für das menschliche Leben we­sentlich und bejahenswert zugleich. – Üblich und nicht bejahenswert ist es, dass man sie nicht in genügen­dem Maße entfaltet.

 

Die Bedeutung des Nicht-Ausagieren-Müssens und der Nicht-Über-Reaktion für unsere geis­tige und seelische Gesundheit ist kaum zu überschätzen. Vielleicht ist sie sogar deren wich­tigste Eigenschaft.

 

Weitere mögliche Bedeutungen von Wu Wei: Gelassenheit andern gegenüber im Sinne einer Anerkennung. Z. B. Jeder soll seine eigene Meinung haben, aber es soll eine bestimmte Wechselseitigkeit des Bestehens gelten. In diesem Sinn ist Wu Wei eine Haltung des Gelten­lassens.

 

Wu Wei als Loslassen: Loslassen bezüglich Konflikte schaffender Denk- und Aktivitätsmus­ter. Z. B. Wir können unsere Konflikte nicht lösen durch Denkmuster und Verhaltensweisen, durch die wir sie geschaffen haben. – Probleme mögen zum Teil durch Nichtstun entstehen. Eine ganze Menge menschlicher Probleme entsteht aber durch schlechte Praxis. Durch das Fixiertsein auf problematische Denk- und Verhaltensmuster. – Man sieht hier, dass Wu Wei ein aktiver Verhaltensmodus ist, kein passives, vielleicht gar durch Ohnmachtsgefühl bege­leitetes Nichts-Tun.

 

Aus Gewohnheit, Ungeschicklichkeit und Mangel an Flexibilität pflegen wir unzweckmäßige Denk- und Verhaltensweisen. Wu Wei in diesem Zusammenhang: Wahrnehmung dieser Phä­nomene, Distanzierung und Einübung eines besseren Repertoires an Denk- , Stimmungs- und Verhal­tensweisen. In Bezug auf das Verhaltensrepertoire heißt es: üben, nicht ausagieren.

 

Man kann also sagen, Wu Wei  bestehe darin, das Mögliche zu tun [„nichts bleibt ungetan“], dabei aber Übereifer, Überreaktion und Aktionismus zu vermeiden [„das Nichts-Tun wird nicht vergessen“]. Es ist, wie wir festgestellt haben, eher ein Nicht-So als ein Nicht. Analog dazu können wir den Begriffsversuch des „Nicht-Denkens“ wagen. Stille, Nicht-Denken, Vergessen der Gedanken werden oft als Weisheitsmethode des Ostens propagiert. Man macht sich bisweilen mystische Vorstellungen vom völlig beruhigten Denken, obwohl es vielleicht in der Hauptsache um Qualitäten und Inhalte unseres Denkens geht. Und dass wir uns von bestimmten Denkinhalten losmachen sollten, weil sie uns z. B. in Konflikte mit andern und uns selbst stürzen. Freund- und Feindbilder pflegen, willkürliche Ab- und Aufwer­tungen, willkürliche und tendenziöse Verallgemeinerungen, Angst- und Sorgenmacherei, das sind ja alles Angelegenheiten unserer Denkweisen und Denkinhalte. Mit dem Denken können wir uns geistige Blockaden aufbauen, bis hin zu Eng­stirnigkeit und Handlungsunfähigkeit. Es hindert uns oft an einer alternativen oder relativie­renden Sichtweise, die uns vielleicht gut täte. In diesem Sinne wäre das Nicht-So-Denken, wie wir es tatsächlich tun, das höhere und bessere Denken. Wir würden uns einer bisher unre­flektiert angewendeten Denkweise, die wir uns irgendwann einmal, ohne es recht zu bemer­ken, angeeignet haben, in einer günstigen Stunde doch einmal bewusst werden und vielleicht bemerken, dass sie uns insgesamt nicht sehr bekömmlich war. Da wir uns damit nicht identi­fizieren müssen, sondern dem Fluss der Gedanken und Geschehnisse huldigen, können wir uns an Modifikationen versuchen und uns davon eventuell mehr und mehr ablösen. Das ist eine Version von Nicht-mehr-[so]-Denken. Eine Version von höherer Einsicht, die an „gege­benen“ Denkweisen üben kann und darf. Ein ergebnisoffenes, freies Nachdenken, welches der Natur des Menschen entspricht.

 

„Etwas“, eine Denk- oder Verhaltensweise zu ändern, deren man sich nicht bewusst ist und die man nicht zur Debatte stellen will, ist besonders schwer. Insofern muss man eine Denk­weise zuerst einmal identifizieren, um Nicht-mehr-Denken zu praktizieren. Sie zu ändern oder aufzugeben. Das anstrengungslose Nicht-Denken ist derart eine ganz eigene Art besonderer Anstrengung. Man kann sagen, diese Art von Loslassen sei eine regelrechte Aufgabe, an der man sich üben muss.

 

An der Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Denkens sollten wir festhalten, obwohl der „Trug“, die „Verblendung“ und „Verwirrung“ unseres Denkens kaum zu unterschätzen ist.

 

Man redet sich vieles ein, was weder gut noch bekömmlich ist. Damit muss man aufhören.

 

Der freie, selbstbewusste, aber nicht rechthaberische Mensch, der mit seinen Bedürfnissen, sowie seinen Denk- und Verhaltensweisen spielerisch umzugehen weiß, das ist das Ideal des Laotse. – Der Sinn des menschlichen Lebens besteht darin, nach der Regel der wechselseitig bestehenden Freiheit zu leben und zu sterben. Das ist sozusagen alles, worum es Laotse geht.

Mit dem Zusatz: „soviel als möglich“. Es ist trivial und geheimnisvoll zugleich, dass dies in unserer Macht steht.

 

Wenn man darüber nachdenkt, findet man immer weitere Verhaltensweisen, welche der Hal­tung des Wu Wei entsprechen. Z. B.: zu ergebnisoffener Kommunikation fähig sein. Nicht dem andern, sozusagen in jedem Fall, „meinungsstark“, wie man sagt, eine Meinung oder Sichtweise aufzwingen wollen. – Dies entspricht der Anerken­nung des Selbstbestimmungs­rechts des andern. Übrigens auch der Situation der eingeschränkten Sichtweise in vielen Fäl­len. – Das Problem, ob es Grenzen der Toleranz gibt, kann man in die Frage fassen, wie die Freunde der Meinungsfreiheit mit den Feinden derselben umgehen sollten. – Ebenso die Freunde der Freiheit, der Gerechtigkeit usw. mit den Feinden derselben. Das läuft m. E. nicht darauf hinaus, dass man eigentlich kein Freund der Meinungsfreiheit sein kann, wie manch­mal behauptet wird. – Aber wer z. B. einen andern mit Gewalt oder Stimmungsdruck dazu zwingen möchte, mit ihm einer Meinung zu sein, wirft mit seinem Verhalten nicht allein das Thema der Meinungs­freiheit auf, sondern übt tatsächlich Gewalt aus. Er ist der Meinung, dazu sei er berechtigt. Man kann m. E. nicht davon ausgehen, dass tatsächlich ausgeübte Gewalt lediglich die Frage einer Mei­nungsfreiheit ist. Was er tut, geht darüber hinaus, eine Meinung zu äußern. Für oder wider Gewalt zu sein, kann man diskutieren, obwohl es vielleicht gefährlich ist und nicht gerne gehört wird. Gewalt aber auszuüben, das stellt eine entschiedene Rücksichtslosigkeit und eventuell eine Straftat dar. – Natürlich ergibt sich hier das Problem der Gewaltdefinition, und wer zu dieser Definition berechtigt ist, vor allem mit welchen Konsequenzen für andere. – Bei den menschlichen Verhal­tensweisen entkommt man irgendwie nicht dem Phänomen der nicht präzise zu festigenden und dennoch unerlässlichen Begriffe.

 

Wu Wei ist die rechte Art des Loslassens dessen, was nicht in unserer Macht steht. – Hier spiele ich auf die Unterscheidung Epiktets an, was in unserer Macht steht und was nicht. – Um äußeren Erfolg meines Tuns kann ich mich auf vernünftige Art bemühen, aber ich sollte ihn nicht herbeizwingen wollen, denn er, der Erfolg, steht nur teilweise in meiner Macht. Völlige Gleich­gültigkeit allen Erfolgen meines Tuns gegenüber wäre nun übertrieben. Es wäre keine glaub­hafte und stimmige Haltung, sondern finsteres Entsagen und Abwerten. Man würde sich sozu­sagen an überhaupt nichts mehr freuen können. – Hier gab es die sehr interes­sante, aber sehr theoretische Frage, ob der weise Stoiker, dem alles Äußere gleichgültig ge­worden ist, auch auf der Folter glücklich sei. Menschenverachtende Gewalttäter probieren so etwas sogar praktisch aus. - Aber ver­zichten können, wo es nötig ist, weil man nur so die Freiheit des Geistes erhalten kann, das ist die rechte Art des Loslassens, die man propagieren kann. Also ein Loslassen-können, keine finstere Entsagung.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2006