Eine Mystik des Unaussprechlichen bei Laotse und dem frühen Wittgenstein

 

Ausdrücke wie „unaussprechlich“, „unsagbar“ u. dgl. verwendet man alltagssprachlich z. B. in der Redewen­dung „un­sagbares Leid“. Wir finden in manchen Dingen nicht die richtigen Worte, bzw. das Thema ist uner­schöpflich. Liebe und Streit, Vertreibung, Flucht und Neuaufbau des Lebens: unsere sprachlichen Mittel reichen oft nicht aus, um der Wirklichkeit gerecht zu werden. Deshalb entwickelt der Mensch Literatur, in der Hoffnung, letztlich vielleicht doch die Wirklichkeit auf eine Weise zur Sprache zu bringen, die ihn zufrieden zu stellen vermag.  – Zweitens ist „unsagbar“ das konventio­nell Unsagbare, weil der Takt, gute Sitten oder gar irgendwel­che Tabus über manches zu schweigen gebieten. Hier gibt es den Übergang von „unsagbar“ zu „unsäglich“, was nicht dasselbe ist. Unsägliches über­steigt nicht die Grenzen sprachli­chen Ausdrucksvermögens, betrifft auch nicht unbedingt irgendwelche Sprech­tabus, ist aber aus anderen Gründen nicht au niveau, weil es z. B. gegen den guten Geschmack verstößt. „Unsäglich“ ist sozusagen ein ästhetisches Verwerfungsurteil. Mit unsäglichen Äu­ßerungen möchte sich niemand auseinandersetzen. Sie gelten als Peinlichkeiten und nicht zumut­bar. Unsägliches ist „unter aller Kanone“, bzw.„unter aller Sau“.

 

Bei Laotse und dem jungen Wittgenstein gibt es nun eine weitere Variante des Unsagbaren. Hier geht es um eine prinzipielle sprachliche Nicht-Darstellbarkeit von etwas, worüber man doch aus irgendwelchen Gründen spre­chen möchte.

 

Es gibt beim frühen Wittgenstein eine Konzeption des „Sich-Zeigens“ von „Unaussprechli­chem“, die sich leicht mit La­otses Unaussprechlichkeit [Unnennbarkeit, Namenlosigkeit] des Taos zusammenbringen lässt. – „Das Tao, das man benennen kann, ist nicht das eigentliche Tao“, sagt Laotse. Wittgenstein sagt an exponierter Stelle, nämlich ganz zum Schluss des Trac­tatus: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ [7] Es gebe aber „Unaussprechli­ches“. Das sei „das Mystische“. [6.522] – Laotse nennt das Tao „des Geheim­nisses noch tiefe­res Geheimnis“ bzw. nach einer anderen Übersetzung „verborgener als das Verborgene“. [1, bzw. 45 nach dem Mawangdui-Text] Das sind Parallelen, über die es sich nachzudenken lohnt.

 

Man muss deutlich sehen, dass beide, Laotse und Wittgenstein, von dem, was sie „unaus­sprechlich“ [bzw. „unsagbar“] nannten, nicht geschwiegen haben. Knapp und rätselhaft haben sie sich geäußert, das mag sein, ein Schweigen ist dies aber nicht. Der Hinweis auf „Unaus­sprech­liches“ war ihnen sogar besonders wichtig, wie ich vermute.

 

Ich möchte hier ebenfalls nicht schweigen, son­dern der Denkfigur dieser „Mystik“ bzw. Ge­heimnislehre nachgehen. – Es gibt viel Geheimnistuerei bezüglich alltäglicher Dinge unter den Menschen, weil das Theater des Alltags im Unterschied zum echten Theater nicht der „Erkenntnis“ [bzw. der „Selbsterkenntnis“] dient, sondern unserem Schutzbedürfnis; - oft taktisch-strategischen Zwecken der Kundgabe, der Verschleierung und der Abwehr in einem. – Man kann der Frage nachgehen, ob es eine Geheimnis­lehre von etwas „an sich selbst Ge­heimnis­vollem“ gibt, wo die Sache für sich selbst, also ohne Geheimnistue­rei und Brimbo­rium, etwas Rätsel­haftes und Erstaunenswertes darstellt. Insofern könnte diese „Sache“ durch ge­heimnisvolle Worte eine besonders wirk­same Darstellung erfahren. Aber es ist zu überle­gen, ob es nicht in diesen Fällen das Beste wäre, mit gewöhnlichen Worten etwas Unge­wöhn­liches zu sagen. „Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage etwas Ungewöhnliches“, war die Empfehlung Schopenhauers entgegen dem hohen Ton in der damaligen Philosophie.

 

Eine Mystik des Unaussprechlichen entsteht für Wittgenstein dadurch, dass sich „an“ [„in“] unseren Aussagen und Sätzen eine Aussage- und Satzform zeigt, die im Gegensatz zur inhalt­lich wahren Behauptung [eines empirisch bestehenden Sachverhalts] „nichts“ bedeutet. Mit dem Hin­weis auf die allgemeine Aussageform [„so und so ist es mit etwas“] weise ich auf nichts Be­stimmtes hin. Ich sage weder, was wahr ist, noch, dass etwas wahr ist, sondern nur, dass die Aussagestruktur „so ist es“ die allgemeine Beschaffenheit einer wahren Aussage dar­stellt bzw. [im Falle einer effektiv wahren Aussage, wenn wir eine hätten] darstellen würde. Kan­tisch gesprochen: die „Form einer möglichen Erkenntnis“ wird hier zum Thema [des Nach­denkens]. Ich spreche damit von etwas, was eigentlich kein Etwas ist. – Meine Aussage dient hier nicht der Darstellung eines empirischen Sachverhalts. Sie ist ohne „deskriptiven Gehalt“, wie man sich bisweilen, leider auch nicht völlig glücklich, ausdrückt.

 

Man kann den Aus­druck „deskriptiv“ problematisieren. Deskriptive Wahrheit, im Unterschied zur präskriptiven, also auf ethische Normen bezogenen Wahrheit, ist hier: die Wahrheit einer Aussage, die feststellt, was „ist“ [tatsächlich existiert], im Unterschied zur „Gültigkeit“ einer imperativischen Aussage, die fordert, wie [und auf welche Ziele ausgerichtet] gehandelt werden soll bzw. sollte. Beschreibungen nennt man u. a. rich­tig oder falsch, und so könnte man die Richtigkeit einer beschreibenden Aussage mit der Wahrheit einer feststel­lenden Tatsa­chen-Behauptung gleichsetzen, also mit „theoretischer“ Wahr­heit in Kants Sprachgebrauch. Kant hatte den „the­oretischen“ vom „praktischen“ „Gebrauch der Vernunft“ folgendermaßen unterschieden: „Gebrauch der Ver­nunft“ heißt jeweils „Denken“. Theoretisches Denken betrifft nun das, „was ist“, praktisches Denken bezieht sich auf normative Denkinhalte, die in der Willens- und Verhaltensbestimmung berücksichtigt werden soll[t]en: „Handle so, dass …!“ Diese Terminologie weicht vom alltäglichen Sprachgebrauch ab. Hier heißt „theoretisch“ oft „wirklichkeitsfremd“ im Unterschied zu „praktisch“ und „handlungsrelevant“.

Bei der Gleichsetzung von „deskriptiver“ und „theoretischer“ Wahrheit haben wir nun das Problem der „theore­tischen“ Begriffe und Modelle: unsere Wahrheiten sind vermutlich niemals rein deskriptiv. Es gelingt uns ein­fach nicht, rein konstatierend zu sprechen, ganz ohne begriffliche Konstruktion und Hypothese. Die Unterschei­dung von „deskriptiv“ und „präskriptiv“, auch Kants Unterscheidung von „theore­tisch“ und „praktisch“, oder eine weitere vorgeschlagene Unterscheidung in „ontisch“ und „deontisch“ sind also nicht unverfänglich. Für eine Systematik eventuell auszusagender Wahrheiten, bzw. in einer Theo­rie der Er­kenntnisarten, kann man m. E. aber auf dergleichen Unterscheidungsversuche dennoch nicht verzichten.

Man kann auch versuchen, die begriffliche Unterscheidung „deskriptiv – präskriptiv“ anhand der Aussagemodi Indikativ und Imperativ durchzuführen. Hier tritt das Problem auf, dass man nach diesem Ansatz bestimmte konjunktivische Aussagen zu den Wirklichkeitsbehauptungen rechnen muss. Beispiel: „Würde man ein Stück Zucker in’s Wasser werfen, würde es sich auflösen.“ Man behauptet hier nicht, dass die Bedingung wirklich realisiert wird und bringt doch einen in der Wirklichkeit bestehenden Zusammenhang zur Sprache. Man hat also eine deskriptive, bzw. theoretische, bzw. ontische Aussage in konjunktivischer Aussageform. Mit „würde“ und „hätte“ kann man sozusagen kontrafaktische Wirklichkeitsbehauptungen aufstellen.

 

Die Aussagen bezüglich der „Satzform“ sind also ohne „deskriptiven“, darstellenden Gehalt. Umge­kehrt: In meinem Sprechen „zeigt sich“ eine „logische Form“, die ich nicht als de­skrip­tiven, darstellenden Inhalt von Sätzen auszudrücken vermag. – Das logische „Etwas“ ist ein empiri­sches Nichts, bzw. es ist nichts Empirisches, es „zeigt sich“, es wird vorausgesetzt im Sinne einer prinzi­piellen Sprachförmigkeit [Besprechbarkeit, Aussag­barkeit] oder Dar­stell­barkeit wirklicher, empirischer Sachverhalte durch eine darstellende [„deskriptive“] Spra­che. – W. gebraucht z. B. den Ausdruck: „steht in keiner darstellenden Beziehung zur Wirk­lich­keit“. [4.462]

 

„Dass es eine allgemeine Satzform gibt, wird dadurch bewiesen, dass es keinen Satz geben darf, dessen Form man nicht hätte voraussehen [d.h. konstruieren] können. Die allgemeine Form des Satzes ist: Es verhält sich so und so.“ [4.5]

 

Wenn man sagt, die Sprachform „korreliere“ der „sprachlichen Ver­fasstheit“ der Wirklich­keit, übersieht man leicht die Eigenart des „Sich-Zeigens“ [der Aussagestruktur] bzw. des Voraussetzungscharakters dieser „Verfassung“. Erkenntnis und sprachliche Darstellung set­zen gewisse Grundzüge von Erkennbarkeit bzw. Darstellbarkeit einfach voraus. [Wahrheits­behauptungen setzen eine prinzipielle sprachliche Darstellbarkeit ihres Themenbereichs vor­aus.]

 

Wenn man z. B. sagt, die Wirklichkeit bestehe aus Gegenständen und deren „Attributen“ [Ei­genschaften und Relationen], dann sagt man, dass die Wirklichkeit so beschaffen ist, dass wir etwas [von etwas] wahrheitsgemäß zu sagen vermögen. Diese Aus­sage ist nicht lediglich em­pirisch wahr, sondern sie ist wahr aufgrund der Sprachform selbst, „die sich zeigt“, aber kein empirisches Faktum betrifft. Das Sich-Zeigen des Unaussprechli­chen ist also Wittgen­steins Version der logischen Wahrheit, welche für alle denk- und dar­stellbaren Wirklichkeiten gilt. Themenbereich dieser sonderbaren Überlegung ist also die Philosophie der Logik. – Leibniz sah in den logischen Wahrheiten Wahrheiten, die in allen „möglichen Welten“ gelten, Kant sprach von „notwendigen Bedingungen des Denkens über­haupt“.

 

Die Aussageform, ähnlich [bzw. ebenso] wie das innere [nicht-empirische] Ich des Denkens, ist sozusagen ein Etwas, das kein normales Etwas ist. – So unkonventionell und avantgardis­tisch Wittgen­stein mit seinem Tractatus auftrat, durch die Propagierung einer absoluten Satz­form liefert er uns genau ge­nommen ein Stück traditioneller Philosophie. Auch die Rede von den Grenzen der Sprache und der Welt, sowie dem [nicht-empirischen] „Ich“, das kein Teil der Welt und der Wirklich­keit, sondern deren Grenze sei, ist genau genommen klassische neuzeitliche Philosophie. – Aus einem gewissen Abstand überlegt, cum grano salis, könnte man die „Grenzen meiner Sprache“, „die Gren­zen meiner Welt“, die allgemeine Aussageform und das innere Ich als „Grenze der Abstraktion“ koinzidieren lassen und hätte damit eine neu­zeitliche Philosophie gemäß bestimmten wesent­lichen [allerdings „wohlverstandenen“] Moti­ven bei Descartes, Kant und Fichte. – Für Wittgenstein [und viele anderen] war wohl nur nicht klar, wie nahe er zu dieser Tradition stand, wenn man sie entsprechend gründlich rezi­piert.

 

Man reflektiert also auf die allgemeine Aussageform, kann aber nicht in der Art empiri­scher, einzelwissenschaftlicher Aussagen darüber sprechen. Es ist das „Phänomen“ der Unhinter­gehbarkeit der Sprache, was man derart „entdeckt“. Die „Grenzen meiner Sprache“ und „die Grenzen meiner Welt“ fallen zusammen. Prinzipielle Aussagen über den Bereich des Denkba­ren [bzw. des Aussprechlichen] sind selbst unentrinnbar dem Denken und Sprechen verbun­den. – Sprechen über Sprache und Wirklichkeit bleiben gleichermaßen der Sprache verbun­den, und wir können niemals hinter den Rücken der Sprache gelangen. - Die Sprachform, welche die Grenze zum Un­aussprechlichen darstellt, wird derart zu etwas Absolutem. Die Art prinzipieller Aussprechbar­keit, dass man etwas von etwas aussagen muss, um etwas zur De­batte zu stellen, erweist sich als hyperempirischer, nicht nur hypothetisch, sondern „unbe­dingt“ anzunehmender „Sachver­halt“: ein Sachverhalt, der kein gewöhnlicher Sachver­halt ist. Ungewöhnlich ist nämlich der Aspekt des Umfassenden und Ganzen, der dabei auftritt.

 

Man sollte sich klar darüber sein, dass diese Lesart der Denk- und Aussageform auf prinzi­piell allgemeine und nicht lediglich historisch gesellschaftliche „Grenzen“ des Aussprechli­chen zielen. Eine Historisierung dieser Art von Apriori wird dem Thema nicht gerecht, weil dadurch der prinzipielle Aspekt verloren geht. In Parenthese: Was heute als undenkbar und unsagbar gilt, ist vielleicht schon morgen Realität. Das sind faktische, nicht prinzipielle Gren­zen [Arten] unseres Sprechens und Denkens. Aus demselben Grund scheiden auch psycholo­gische und soziologische Lesarten von „aussprechlich/ unaussprechlich“ aus. Die wahrhaften und wirklich prinzipiellen Erforder­nisse von Aus­sprechbarkeit sind folgender Art: dass man etwas von etwas, eines von einem aussagen muss, also das griechische „ti kata tinos“. Etwas von etwas, eines von einem, dann auch vieles von einem und vieles von vielem können und müssen wir sagen, um Wahrheit und Wirklichkeit zu erkennen, niemals aber nichts von nichts. Ein System von wahren und dabei logisch mitein­ander zu vereinba­renden Aussagen wäre die umfassende Darstellung der Wirklichkeit, beste­hend aus Dingen, Eigenschaften und Relationen. - Dabei werden wir auch Eigenschaften und Relationen höherer Ordnung zugelas­sen, so dass man z. B. sagen kann: „Rot ist eine Farbe“ oder „2 ist die Anzahl der Mars­monde“ oder „2 mal 2 ist dasselbe wie vier“.

 

Die scheinbare Trivialität der Struktur „eins von einem“, bzw. „etwas von etwas“ ist mit dem Wesen unseres Sprechens, Den­kens und Er­kennens grundsätzlich verbun­den. Das heißt: diese Aussagestruktur ist nicht nur gemäß der faktisch gepflegten Sprechweisen in bestimmten historischen Fristen und Epochen mit der Art des menschlichen Denkens verbunden, sondern prinzipiell. Deshalb ist diese Struktur auch nicht psychologi­scher oder sozialpsychologischer Art. Sie ist nicht aus psychologischen oder sozialpsychologischen Gegebenheiten abstrahiert.

 

Wittgensteins Anknüpfung an Formen sprachlichen Ausdrucks ist ein Kunstgriff, den er von Frege und Russell übernommen hat, der sogenannte linguistic turn in der Philoso­phie. Er ent­sprang dem Bedürfnis, von der psy­cholo­gischen Lesart von Denken und Bewusst­sein abzurü­cken. In unserem Denken und Sprechen kommen Ei­gengesetzlichkeiten zur Gel­tung [z. B. dieses „etwas von etwas“], die sich nicht auf physische oder psychische Sachver­halte zurück­führen lassen, sondern „a priori“ und „nicht-empirisch“ gelten. Physikalismus und Psycholo­gismus des Denkens sind allerdings nahe liegende Selbstauslegungsversuche des Menschen. Man versuchte, ihnen vermittelst des linguistic turn zu entkommen und beschäftigte sich mit prinzipiellen und strukturellen Spracheigenschaften.

 

Auch für Husserl war die Wendung gegen den um 1900 herrschenden Psychologismus des Denkens wesentlich, obwohl er sich Freges linguistic turn nicht anschloss. Psychologismus und Naturalismus werden der Eigenge­setzlichkeit unseres Denkens nicht gerecht, das war auch für Husserl klar. Das hängt mit gewissen „formalen“, nicht-empirischen, z. B. den „logi­schen“ Kriterien für Erkenntnisgültigkeit zusammen, die a priori „bestehen“. Sie sind zwar nur notwendige Minimalkriterien für die Wahrheit einer Aussage, aber mit dieser „Notwen­digkeit“ besteht das Problem einer nicht-empirischen Geltung. Über deren Begründung bzw. Begründetsein gibt es ver­schiedene Ansichten, die von reinem Konventionalismus bis zu ei­ner im Wesen des Denkens gründenden logi­schen Wahrheit reichen. - Der frühe Wittgenstein sprach sich also für eine allgemeine und prinzipielle Aussage­form aus und optierte damit ein­deutig für die im Wesen des Denkens gründende Wahrheit. Für diese reklamierte er den Charakter des Sich-Zeigens.

 

Es ist im zwanzigsten Jahrhundert zum Teil eine Mode geworden, von der Geschichtlichkeit des Denkens [besonders im Hinblick auf seine begrifflichen Inhalte] zu sprechen. Auch die „logischen Voraussetzungen“ hat man darin [leichter Hand] einbezogen. – Dies zeigt, dass wir von der allgemeinen Anerkennung einer Apriori-Geltung weit entfernt sind. Das hängt m. E. damit zusammen, dass in der Geschichte des Apriorismus von Aristoteles bis Kant immer wieder irgendwelche Grundannahmen mit der besonderen „Dignität“ des „Apriori“ ausge­zeichnet wurden, die sich dann doch als falsch oder nur eingeschränkt gültig erwiesen haben. Bei Aristoteles betrifft dies z. B. die Kreisbahnen der Planeten: Bei Kant betrifft dies z. B. die Axiome der euklidischen Geometrie. – Noch schlimmer ist es in der „Sittenlehre“ gewesen, der es nur selten gelang, normativ unumschränkt Gültiges von historisch bestehenden Vorga­ben zu sondern. – Auch bei Kant finden wir unter der Flagge einer „Metaphysik“ der Sitten nicht nur erhellende Hinweise auf das Gebot der prinzipiell gleichen Freiheit aller, sondern auch Konstruktionen bezüglich Vorherrschaft des Mannes in der Ehegemeinschaft und Über­gewicht des bürgerlich Selbstständigen in der politischen Stimmgebung. [Inwiefern das Gebot der prinzipiell gleichen Freiheit aller über die historische Parole der liberté und egalité hi­nausgeht und mehr als eine historisch aufgetretene Forderung darstellt, übergehe ich hier.] [Man kann schwer umhin, ironisch zu bemerken, dass das klare Urteil uns dann verlässt, wenn es um Fragen des Sex und der Vorherrschaft geht. In beiden Bereichen ist die „eigentli­che Moral“ nur ansatzweise gefunden und verwirklicht, obwohl sie gerade hier „wichtig“ wäre, weil es hier besonders intensiv um das Zusammenleben der Menschen geht, von denen keiner völlig auf sich selbst gestellt leben kann.]

 

Zurück zum Tractatus:

 

Im Falle des Tractatus handelt es sich um eine Theorie vom Standpunkt einer „idealen“ Sprache her. „Ideal“ insofern, als die verzwickten Mehrdeutigkeiten und Vagheiten der Umgangssprache durch ein präzises Regel­werk  für Syntax und Semantik als überwindbar fingiert werden. Im Falle der Spätphilosophie Wittgensteins wird die zentrale Rolle der Alltagssprache mit ihrem zum Teil unüberwindlich vagen Regelwerk herausgestellt. Die Verwendung einer Alltagssprache mit zum Teil vagen Bedeutungen und fließenden Anwendungsregeln hat nach Wittgensteins Spätphilosophie einen unhintergehbar medialen Charakter für all unser Sprechen, Denken und Handeln. Dies gilt auch für den Fall, dass wir für bestimmte Zwecke eine präzise Wissenschaftssprache konstruieren wollen. - Nur der Gedanke der „Unhintergehbarkeit von Sprache“ ist beiden Ansätzen Wittgen­steins gemeinsam. Mit der Anerkennung der fundamentalen Rolle der Alltagssprache wird u. a. das Präzisions­ideal des Tractatus suspekt.

 

Weil also „Sprachform“ und „Logik“ für sich selbst genommen von „nichts“ handeln und „nichts“ bezeichnen, kann man über die prinzipielle Form unseres Sprechens im Grunde ge­nommen nicht sprechen: Hier „zeigt sich“ „etwas“, das kein sachhaltiges Etwas ist.

 

Es ergibt sich nun ein zusätzlicher Gesichtspunkt: Das Dasein der Welt als Ganzes, die Exis­tenz einer zu erfahrenden Wirklichkeit [das „Dass“ einer „Welt überhaupt“] wird ebenfalls zu einer unaussprechlichen Wahrheit. Nicht deshalb, weil ein formaler Wahrheitsge­sichtspunkt [nämlich die inhaltsleere, allgemeine Satzform] die Existenz einer Welt [als Ge­samtheit der wahrheitsgemäß zu behauptenden Wirklichkeit] folgerungsmäßig nach sich zie­hen würde, sondern weil die Aussage [von der Existenz der Welt] sich nicht damit begnügt, eine einzelne Wirklichkeitsaussage aufgrund einer konkreten Einzelwahrnehmung zu be­haupten. Sie zielt vielmehr, wenn auch fast inhaltslos, auf Umfas­sendes, auf die Gesamtheit dessen, „was der Fall ist“. – Diese Interpretation ist nicht zwin­gend. Alternativ wäre: „es gibt etwas und nicht nichts“ im Sinne von: „es gibt mindestens eine empirische Wahrheit“, min­destens einen empi­rischen Begriff mit einem Fall seines Zutref­fens. Das wäre eine Wirklich­keit [„Welt“] mit einem einzigen gegebenen Sachverhalt. – Aber im Grunde genommen lässt die Sprachform „Spielraum“ für eine ganze Welt oder sogar, wenn man Leibniz folgt, für eine Serie „mögli­cher Welten“. Also haben wir mit einer allgemeinen Satzform den Aspekt eines Ganzen [an Aussagbarkeit]. Eines Ganzen an möglicher Vielfalt, welches durch Sätze und Satzverknüp­fungen dargestellt bzw. festgestellt werden kann.

 

„Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist.“ [6.44] – Die Beschaffenheit des Wirklichen im Einzelnen ist Sache empirisch bestätigter Einzelaussagen. Dass es aber überhaupt etwas gibt und nicht nichts, ist ein Sachverhalt besonderer Art: Jeder empirisch wahre [objektiv empirisch wahre] Satz konstatiert implizit die Tatsache, dass etwas existiert und nicht nichts. Das Dasein von etwas Wirklichem, das Dasein einer [der?] Wirklichkeit, wird somit mit jeglicher Konstatierung eines Einzelbefun­des implizit konstatiert und verifi­ziert. Der erkenntnistheoreti­sche Philosoph stellt den erstaunlichen Inhalt dieser Implikation heraus. Man kann aber nicht sagen, dieser oder jener Befund spreche dafür oder dagegen, dass eine Wirklichkeit existiert. Jeglicher Befund setzt vielmehr diese sonderbare „Tatsache“ vor­aus. – Man könnte sagen: Das Dasein einer Wirklichkeit gehört neben der all­gemeinen Aus­sageform ebenfalls „zum Umfassenden“. – Mit der Behauptung des Daseins der Welt geht man m. E. aber über die Be­hauptung einer allgemeinen Aussageform hinaus. Man propagiert damit die Wahrheit zu­mindest einer einzigen empirischen Behauptung, wenn auch gleichgül­tig, welcher.

 

„Pourquoi il y a plutôt quelque chose que rien?“ lautet die berühmte Leibniz-Frage aus „Principe de la nature et de la grâce“. Ich vermute, Wittgenstein wollte darauf hinaus, dass wir nicht zu „erklären“ vermögen, warum etwas existiert und nicht nichts. „Erklärung“ jedenfalls in dem Sinne, dass ein empirischer Zusammenhang veri­fiziert wurde und nun in der Darstellung eines Phänomens herangezogen wird, kann man bezüglich des Daseins von überhaupt etwas Wirklichem nicht erwarten. Das Dass einer Wirklichkeit ist insofern auch eine „Grenze“, über die wir nicht hinauskommen, bzw. der wir uns nicht von außen nähern können. In der jüdisch-christlichen Religion führt man das Dasein der Wirklichkeit auf das Dasein Gottes zurück, aber der Zusammenhang der hier das Dasein Gottes mit dem Dasein der Welt verbindet, ist kein empirischer Zusammenhang, sondern ebenso geheimnisvoll wie das Dasein der Welt selbst.

 

Man kann das auch so ausdrücken: Den Ursprung der Welt kann man nicht ergründen, sondern nur ihrem Rhythmus folgen. [Rem. an einen Essay über Eigenarten chinesischer Malerei und chinesischen Denkens.]

 

Laotse bleibt ebenfalls beim Dasein der Welt als „Grenze“, bzw. als „umfassend“ und „unvordenklich“, stehen. Diese Wirklichkeit bringt aus ihrer Mitte, wie eine Mutter, Wesen hervor, welche zu einer spezifischen Lebens­weise befähigt sind. Laotse setzt also den Teleologiegedanken zur Konstatierung des Daseins der Welt hinzu. Das teleologische Gepräge der Wirklichkeit ist derart inneres Wesen der Wirklichkeit und kein der Materie äu­ßerlich aufgeprägter Zug. Daraus ergibt sich eine religiöse Haltung des Zutrauens zur Wirklichkeit [wegen deren inneren Gepräges]. Die Frage, warum etwas ist und nicht nichts, beantwortet man nicht, weil es wahrscheinlich keinen richtigen Sinn macht, sie zu stellen. Es genügt zu erkennen, dass die Wirklichkeit, deren Dasein mit jeder wahren Einzelaussage implizit sich bestätigt sieht, insgesamt derart beschaffen ist, dass Menschen mit der Fä­higkeit zu spezifisch menschlichen Möglichkeiten des Denkens und Handelns entstehen konnten.

 

Auch die Verifikati­onstheorie der Satzbedeutung, wonach der Sinn einer Aussage in einer empirischen Verifika­tionsmethode besteht, fällt in die Rubrik der eigentlich unaussprechli­chen Wahrheit. Bei völ­lig entfalteter Aufmerksamkeit spricht man nur noch über Dinge, wor­über man [inhaltlich] reden kann, d. i. über bestimmte empirische Einzelheiten: [Man wird nicht mehr allzu viel zu besprechen haben, wenn man die Anforderungen so hoch setzt, möchte ich ironisch anmerken.]

 

„Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts zu tun hat -, und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Be­deutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige.“ [Tractatus, 6.53]

 

Das Sprechen über die Grenzen der Sprache, die Unterscheidung von Aussprechbarkeit und Unaussprechlichkeit, verfällt ebenfalls dem Verdikt der [empirisch-sachhaltigen] „Sinnlosig­keit“. Deshalb vergleicht Wittgenstein seine Tractatus-Philosophie mit einer Leiter, die man wegwerfen muss, nachdem man sie erklommen hat. Das ist die sich selbst überwindende Raf­finesse der theoretischen Philosophie. Sie verschlingt sich selbst, wie schon Lichtenberg ahnte.

 

Der späte Wittgenstein der „Sprachspiele“ hat den Gedanken der Unhintergehbarkeit der Sprache stark abgewandelt. Alltägliche Sprache mit einem unvermeidlich vagen Regelwerk wird hier ausschlaggebend für unser Denken und Handeln. Der Gedanke der fundamentalen Aus­sageform geht für Wittgenstein dabei verloren, bzw. er gerät sehr in den Hintergrund. Eine weitgehende Bedeutungsskepsis, die bemerkt hat, wie schwierig es ist, über Vagheiten generalisierend und dabei noch eini­germaßen hieb- und stichfest zu reden, tritt hinzu. Man kann sagen, dieser Wittgenstein sei postmodern, der Wittgenstein des Tractatus „klassisch“.

 

Der Ausdruck „postmodern“ assoziiert sich demnach mit dem Hinweis auf eine schwer über­seh­bare Bedeutungsvielfalt und Vagheit unserer allgemeinen Gedanken und Redweisen: Un­ser Denken, „postmodern“ aufgefasst, ist „wohlfeiles Ungefähr“. Den Ausdruck „klas­sisch“ verbinde ich dagegen mit dem Versuch, unseren allgemeinen Gedanken eine fest be­stimmte Bedeutung und fest be­stimmte Wahr­heitsgehalte zuzuordnen. So möchte ich das probeweise annehmen. – Nietzsche mit seiner Konzeption der Wahrheit als einer Sammlung von „beweg­lichen Metaphern“ [„Über Lüge und Wahrheit im außermoralischen Sinne“] wäre also Ahne des Postmodernismus. Er hatte als erster diesen Aspekt unseres Denkens sehr um­fassend re­flektiert.

 

Es sind weitgehend verschiedene Konzeptionen, die Wittgenstein uns mit seinem Früh- und Spätwerk geliefert hat. Man kann darüber in’s Grübeln verfallen, inwiefern die Sprachlichkeit unseres Denkens nach der Ordinary- Language-Version des späten Wittgenstein zu einem Kulturrela­tivismus [der Wahrheit] An­lass gibt. Die Art und Weise unseres Sprechens und Denkens wird hier ja sehr weitgehend nur noch situations- und kontextgebunden fassbar. [Die Situation und die Einbettung in eine Umgebung anderer Wörter generieren „Kontext“ in mehrfacher Hinsicht.] Diese Art und Weise ist die Art des „Sprachspiels“, wie sie in ei­ner gegebenen historischen Situation vorliegt. Es gibt keine luzide, allgemeingültige Form dieses Spiels, sondern nur eine schwer übersichtli­che Vielfalt unscharf schwankender Regelwerke unseres sprachlich ver­mischten Handelns. Der umfassende Blick auf das Ganze des Aussag­baren wird dabei fraglich.

 

Was hat das alles nun mit Laotses Tao zu tun? - Mit der Unaussprechlichkeit des Tao, - man kann es sich aus schwerwiegendem Grund nicht sprachlich verfügbar machen, - bringt Laotse einen reflexiven Gesichtpunkt bezüglich der Möglichkeiten sinnvoller Rede zur Geltung. Normalerweise reden wir über dieses oder jenes von „zehntausend Geschehnissen“, die es innerhalb der Wirklichkeit gibt. Im Falle des Tao aber reden wir ganz außergewöhnlich über etwas Umfassendes. So etwas ist eigentlich nur vom Standpunkt einer Rede über das Reden-kön­nen schlechthin möglich. In diesem Sinn hat sich Laotse [irgendwie] zu dem um­fassenden Gedanken be­züglich des Denkens überhaupt erhoben. Die Kennzeichnung dieses umfassen­den Denkens führt er dann inhaltlich von der Bezugsseite her vor: eine Welt stetigen und un­aufhörlichen Wandels lässt Lebewesen entstehen und vergehen, unter denen auch der Mensch ist. Dessen Denken reicht, indem es das alltäglich Übliche bisweilen überschreitet, heran an den Ge­sichtspunkt eines [des] allumfassenden Ganzen. Das ist der Gesichtpunkt der Totalität, des totum. Es ist die Natur als Umfassendes und Ganzes.

 

Dieses allumfassende Ganze hat einen mütterlich gewährenden, hegenden und pflegenden Aspekt. Es disponiert die Lebeweisen zu ihrer artgemä­ßen Lebensweise: es hat sie freigesetzt zu einer ihrer Natur entsprechenden Lebeweise, was bei dem Menschen ausläuft in den allum­fassenden gro­ßen Gedanken, der ebenfalls vieles gewähren lässt. In der Rückwendung auf den Gedanken der umfassenden Einheit baut sich der Mensch aus den vielen Wirrnissen seines Lebens mental erneut auf. Der Gedanke an das allumfassende Tao nährt ihn mental. Er sucht und findet von Zeit zu Zeit im­mer wieder etwas Abstand zu seinen alltäglichen Sorgen und modifiziert seine Denkweise von innen heraus im Hinblick auf das verborgene Ganze.

 

Die Rückwendung zum Gedanken der umfassenden Einheit [der zehntausend wechselwirken­den Geschehnisse] gilt ihm als Wendung zum Ursprung von Denken und Handeln auf der spezifischen Höhe menschlicher Möglichkeiten. – Insofern ist es eine Religion, die den Ge­danken einer menschenmöglichen Idylle trotz Wirrwarr und „streitender Reiche“ subtil kulti­viert.

 

„Himmel und Erde würden sich vereinen, um süßen Tau zu träufeln.“ [32] [M 76]

 

Noch einmal zurück zu W.: Der junge Wittgenstein hat die Konzeption des „Sich-Zeigens“ von „Unsagbarem“ auch für die Ethik beansprucht. „Es ist klar, dass sich die Ethik nicht aus­sprechen lässt.“ [6.421] Ethische Grundsätze sind Sätze der Form „Handle so, dass …“, „du sollst …“, „du darfst nicht …“. Z. B. „Du darfst keinen Menschen töten!“ Wichtig ist hier die unbedingte Verbindlichkeit, bzw. der Anspruch der Verbindlichkeit als Empfehlungsgrund einer Handlungsweise. Im Deutschen spricht man von „sittlichen“ Regeln oder „sittlichen Ge­boten“. - „Sittlich“ ist die treffende Übersetzung von „ethisch“, mit derselben Vieldeutigkeit im Sinne von „üblich“ und „wahrhaft geboten“. – Dem gegenüber ist die Empfehlung „wenn du Klavier spielen lernen willst, übe!“ bedingte Regel. Kant sprach in den Vorüberlegungen zu seinem „kategorischen Imperativ“ von „technischen“ im Unterschied zu „sittlichen“ Im­perativen. – Es ist im Grunde genommen eine erschreckende, bzw. schrecklich ernste Frage, ob es sittliche Gebote in diesem Sinne überhaupt gibt. Nicht einmal ein unumstrittenes Bei­spiel für die strenge Ausnahmslosigkeit einer gebotenen Verhaltensweise ist zu finden. Jeden­falls nicht leicht zu finden.– Der junge Wittgenstein geht von einem strengen „du sollst …“ in der Ethik aus [6.422]. Er steht damit in der Nähe zu Kant. Es ist ihm klar, dass es keine empi­rische Verifikation der Gültigkeit solcher Im­perative geben kann. Er nennt sie deshalb wie die Sätze der Logik „transcendental“ [6..421] – Dir „Logik“ bezeichnete er in 6.13 als „transcen­dental“. – In beiden Fällen, sowohl der „Logik“, als auch der Ethik „wahrhafter“ und „wirkli­cher“ Verbindlichkeiten, haben wir es mit nicht-empirischer Gültigkeit [von Aussa­geinhalten] zu tun. Für Inhalt und Gültigkeit solcher Aussagen gibt es keine Methode der em­pirischen Verifikation oder Falsifikation. Ihre „Wahrheit“, wenn man davon überhaupt spre­chen möchte, beruht nicht auf Beobachtungen, nicht auf Experimenten und auch nicht, wie bei dem Wissen aus zweiter Hand, auf Hörensagen. – Insofern kann man wieder sagen: In unserem Denken und Sprechen „zeigt sich“ etwas, was sich nicht durch empirische Einzelbe­funde darstellen lässt.

 

Laotse hat den nicht-empirischen Gültigkeitsmodus der „sittlichen“ Grundsätze m. E. nicht explizit herausgestellt. Besonders die strenge Unterscheidung von Sein und Sollen darf man in seinem Falle nicht erwarten. Tao und Te sind ihm beide „unsagbar“, in beiden Fällen hält er es für besser, die Stille zu wahren. Man kann das so deuten, als habe er erkannt, dass in allen Fällen von menschlichem Denken und Sprechen etwas in seiner Gültigkeit vorausgesetzt wird, das wir nicht im Streit der Meinungen durch nüchterne Empirie zweifelsfrei objektivie­ren können. Dieses Etwas, das kein gewöhnliches Etwas ist, und in der Art alltäglichen Spre­chens über dieses oder jenes Einzelne nicht erreichbar, war ihm besonders wichtig. In einem bestimmten Sinn aufgefasst ist es „tatsächlich“ „nichts“ und „unsagbar“. Das kann man z. B. mit dem Blick auf den jungen Wittgenstein präzisieren.

 

Laotse verbindet auch andere Aspekte mit dem von ihm betonten Aspekt der „Unsagbarkeit“. Z.B. das pädagogische Phänomen, dass eine bestimmte Werthaltung durch ein Beispiel glaubwürdiger dargestellt und vermittelt wird als durch Reden, Streitschriften und eventuell ausufernde Diskussionen. Besser ist es die Stille zu wahren, sagt er in seiner raffinierten Rheto­rik. Ganz und konsequent zu schweigen, ist seine Sache aber nicht.

 

„Die vor alters tüchtig waren als Meister,

waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften.

Tief waren sie, so dass man sie nicht kennen kann,

zögernd, wie wer im Winter einen Fluss durchschreitet.

Wer kann [wie sie] das Trübe durch Stille allmählich klären?

Wer kann [wie sie] die Ruhe durch Dauer allmählich erzeugen?“ [15]

 

Ich interpretiere zum Abschluss dieses Aufsatzes die Wendung „waren im Verborgenen eins mit den unsichtbaren Kräften“. „Eins sein mit …“ heißt hier „bedenken, dass …“, „sich ver­gegenwärtigen, dass …“. Die „ge­heimen Kräfte der Natur“ sind nicht einfach irgendwelche magischen und okkulten „Kräfte“ oder „Energien“. Es handelt sich vielmehr um die Tatsache, dass die Natur die Fähigkeit be­sitzt, Menschen [in wechselseitiger Abhängigkeit] hervorzu­bringen, die wiederum die Fähigkeit kultivieren [aufbauen] können, in Einklang mit sich selbst und andern zu leben. So freuten sich diese „Alten“ ihrer Befähi­gung zu einer Kultur der Gelassenheit innerhalb des beständigen Formenwandels der Natur, wo alles mit allem wech­selseitig wirkt. Sie sind sich dabei auch der „Tatsache“ bewusst, dass es dem Menschen nichts nützt zu den­ken, wenn er übereifrige Schlussfolgerungen zieht und vergisst, dass er etwas voraussetzen muss, was alltäglichen Redensarten immer auch irgendwie verborgen bleiben muss, weil es sich „lediglich“ [bzw. „immerhin“] zu zeigen vermag. In dieser Hinsicht ist es besser, „Stille zu wahren“, denn im Streit obsiegen, mit harter Empirie, kann man in solchen Angelegenheiten nicht.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2006