Existiert
Tara?
Ich werde in diesem Aufsatz die fernöstliche Tara-Figur als Symbol des „höheren Selbst“ darstellen, das ich als die Möglichkeit [bzw. Fähigkeit] des Bewussteins der Goldenen Regel auffasse. Diese Regel legt es uns nahe, jeden unserer Mitmenschen als „Wesen wie ich selbst“ anzuerkennen. – Für die Goldene Regel wähle ich für’s erste folgende Formulierung: „Tu etwas andern nicht an, was du für dich selbst nicht wünschen würdest.“ Die begriffliche Bestimmbarkeit bzw. Beschreibbarkeit von dem, „was“ wir tun und uns [in einem damit] antun, wird bei einem solchen Ausspruch vorausgesetzt. Könnten wir nicht hin und wieder hinreichend präzise erkennen, was wir tun bzw. welche Verhaltensweisen wir tätigen, indem wir etwas tun, hätten wir keine feststellbaren „Tatbestände“, um eine Beurteilungsregel darauf anzuwenden. Wir wüssten nie, ob das, was wir beurteilen, etwas Wirkliches war oder ist.
Handlungen, als konkrete Geschehnisse in der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, sind unwiederholbar einmalig. Denk- und Verhaltensweisen, die sich in konkreten Handlungen darstellen, sind abstrakter Natur und wiederholbar, so dass „dieselbe“ Verhaltensweise, die ich jetzt tätige, mich zu anderer Zeit unter anderen Umständen, reziprok betreffen kann.
Die Philosophie der Goldenen Regel ist ein moralphilosophisches, bzw. ethisches Thema. Der normative Inhalt der Goldenen Regel betrifft einerseits meine inneren Vorsätze, Absichten, Denk- und Verhaltensweisen, andererseits auch Fragen des äußeren Miteinanders. Äußeres Miteinander wird ebenfalls, diesmal unter dem Titel „Gerechtigkeit“, am Anspruch der gleichen Freiheit aller gemessen. Aus diesem Grund werde ich auf zwei rechtsphilosophische Themen zu sprechen kommen: Das Phänomen der Herrschaft und das der menschlichen Ungleichheit z. B. wirtschaftlicher Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft. Der erste Punkt betrifft Rousseaus philosophische Grundlegung des Staatswesens, der zweite J. Rawls „Differenzprinzip“. „Prinzipiell“ sind demnach die Phänomene der Herrschaft und Ungleichheit mit dem Gehalt der Goldenen Regel vereinbar, obwohl sie dem Anspruch der gleichen Freiheit zunächst zuwider zu laufen scheinen und deshalb auch oft dagegen ausgespielt werden.
Ich möchte nicht behaupten, dass alle menschlichen Verhältnisse, so wie sie sind, aus dem Geist der Goldenen Regel gerechtfertigt werden können. Die menschliche Wirklichkeit ist sehr weitgehend ein Konfliktgeschehen aufgrund von schwer harmonisierbaren menschlichen Interessen und Verhaltensweisen. Wir erleben tagtäglich den unfairen Kampf um Geltung, Vorteil, Machterhaltung, Besitzstandswahrung und Vorherrschaft. Phänomene der tatsächlichen Disharmonie im menschlichen Miteinander sind allgegenwärtig und von fast erdrückender Vielfalt. Wer hier „Erfahrungswissenschaft“ betreiben will, steht oft am Rande eines Abgrunds deprimierender Schlussfolgerungen.
Dennoch hat die Goldene Regel ihre normative Gültigkeit. Sie weist uns, „trotz allem“, in Richtung auf die Harmonisierung unserer Freiheitsspielräume. – Im Einzelnen müssen natürlich Regeln gefunden werden, vermittelst derer die Freiheitsspielräume verschiedener Menschen harmonisiert werden können. Aus dem Anspruch der Goldenen Regel, für sich selbst genommen, lässt sich nichts „deduzieren“ oder „konstruieren“. Es handelt sich dabei „lediglich“ bzw. „immerhin“ um den Anspruch eines orientierenden Gesichtpunkts im Felde tatsächlich bestehender Handlungsoptionen, für die uns im Einzelnen der Blick sogar mehr oder weniger verstellt sein kann.
Als eine Regel von außerordentlicher Allgemeinheit, zudem aufgrund ihrer normativen Gültigkeit, widersetzt sich die Goldene Regel sowohl der Verifikation als auch der Falsifikation durch Mengen einzelner Beobachtungen. Weder aus Beispielen mitmenschlicher, gelingender Gemeinsamkeit noch aus Beispielen [der „Unheilsamkeit“] destruktiven Konfliktgeschehens vermögen wir die Gültigkeit einer solchen Regel herzuleiten. Es handelt sich m. E. um einen nicht-empirischen Gedankeninhalt „a priori“, der unseren moralischen „Intuitionen“ orientierend zugrunde liegt. Das „a priori“ steht für die nicht-empirische, über-konventionelle Art der Gültigkeit einer Voraussetzung, die wir in Anspruch nehmen und auch mit Recht in Anspruch nehmen dürfen. Eventuell sind wir uns dieser In-Anspruchnahme in vielen Fällen nicht bewusst.
Es handelt sich im Weiteren sogar um die nicht-empirische Gültigkeit der Voraussetzung, dass ich mein reales Verhalten durch einen solchen „Geistes- bzw. Gedankeninhalt“ modifizieren kann. Die Zuflucht zu einer solchen Art von Motivation steht mir sozusagen a priori offen. – Das ist die Voraussetzung eines Willens, der mein tatsächliches Verhalten durch einen nicht-empirischen-Geistesinhalt, nämlich den der prinzipiell gleichen Freiheit aller, [mehr oder weniger] modifizieren kann.
Dass man in fernöstlichen Traditionen, sozusagen am andern Ende der Welt, Symbole dieser normativen Regel findet, werte ich als einen Hinweis auf den allgemein menschlichen, ja sogar überhistorischen Charakter dieses Prinzips. – Literarisch zumindest ist es ja in allen Weltreligionen nachweisbar.
Tara
ist eine „Buddhine“, das ist ein weiblicher Buddha.
Im
Gegensatz zum historischen Buddha Siddharta Gautama, dem Sprössling der Shakyer, einem nordindischen Adelsgeschlecht in alter Zeit,
ist Tara keine historische Person. Siddharta Gautama Shakyamuni
lebte im 5. Jahrhundert v. Chr. und wird der Erwachte, d. i. der Buddha
genannt. Tara dagegen ist lediglich ein Geschöpf der Phantasie und des Denkens.
Verehrung und Kult der Tara finden wir z. B. im 8. Jahrhundert n. Chr. in
Nordindien. Geschichten von Tara sind lediglich Legenden, während die Legenden
um Buddha eine historische Person betreffen. Tara wird heute besonders in
Tibet und Nepal verehrt. Die grüne Tara ist Schutzpatronin Tibets.
Man
verehrt sogar eine ganze Gruppe von Tara-Varianten:
smaragdgrüne, weiße, blaue, rote, goldene und sogar schwarze, 21 oder sogar
noch mehr. Die Farben beziehen sich auf besondere Qualitäten der Farbwirkung.
Grün z. B. für Ruhe und Bewusstseinsausweitung, weiß wahrscheinlich für die
Reinheit des Betragens und der Tugend. Die Bedeutung der anderen
Farbzuordnungen ist mir unbekannt. – Man kann von farbmagischen bzw.
farbmystischen Auffassungen reden. „Magisch“ und „mystisch“ insofern, als wir
uns im Kontext von selbstsuggestiven „Praktiken“ befinden.
Die grüne Farbe könnte auch für die grünende Erde stehen, das Weiß für den Himmel des „Numinosen“, aus dem, nach einem beeindruckenden Wort von Dalai Lama Tenzin Gyatso, die Erleuchtungswesen [Bodhisattvas] „heraufdämmern“.
Stichwort „selbstsuggestive“ Praktik: Weniger missverständlich sollte man vielleicht von Selbstbeeinflussung und „mentaler“ Übung sprechen. Es ist eine bemerkenswerte, sogar höchst erstaunliche „Tatsache“, dass wir unser Verhalten durch Vorstellungen und Begriffe anzunehmender und zu verwerfender Verhaltensweisen zu modifizieren vermögen. In der Frage „was soll ich tun?“ wird uns diese Macht bewusst. Aus der empirisch objektivistischen Außenperspektive auf anderes menschliches Verhalten ist diese „Macht“ oder „Wirkkraft“ nicht beweisbar. Man findet in dieser Außenperspektive keine eindeutigen und sicheren Beispiele für den Fall, dass Gedanken- oder Bewusstseinsinhalte materielle Wirkungen hervorbringen
In der inneren Bewusstseinsperspektive wiederum kann man sich der Voraussetzung nicht überheben bzw. nicht erwehren, dass man die Fähigkeit besitzt, um einer erkannten normativen Wahrheit willen, aus einer „inneren Einstellung heraus“, etwas zu tun. Die normative Wahrheit fordert ja auch „lediglich“, „so viel als möglich“ um eines bestimmten Gesichtspunkt willen zu tun. Wenn es eindeutig „unmöglich“ ist für einen Menschen, etwas Gefordertes zu tun, dann kann er auch durch keine „normative“ Wahrheit dazu verpflichtet sein.
Insofern also in einer „Morallehre“ die Voraussetzung gilt, dass durch Einsicht und „innere Einstellung“ geleitetes Verhalten „etwas Mögliches“ darstellt, nimmt man an, dass Gedanken Realitäten hervorbringen können. Das ist der „rationale Kern“ in unseren Vorstellungen von „Selbstsuggestion“ und „Magie“. Die Grenze zu Aberglauben, Wunderglauben und unstatthafter Magie überschreiten wir erst dann, wenn wir beliebige Ziele unseres Wünschens wie z. B. Gesundheit, Reichtum, Macht über Mitmenschen usw. allein durch Gedankenkraft, Selbstbeeinflussung, Ritualwesen und magisches Brimborium erreichen zu können glauben. Gedankenmacht und Freiheitswesen dürfen allein für die schrittweise erfolgende Modifikationen unseres Denkens und Verhaltens in Richtung auf die gemeinsame Freiheit aller angesetzt werden.
Naturgesetze werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt. Die Natur hat uns als Wesen mit einer gewissen „Plastizität“ des Verhaltens hervorgebracht, eventuell sogar diese Plastizität „determiniert“. Innerhalb der Natur, im Einklang mit Naturgesetzen, entfalten wir mehr und mehr Aufmerksamkeit für diese „Plastizität“. So dämmern auch wir aus der Nacht der Selbstvergessenheit dem Tag des Bewusstseins entgegen.
Wenn aller unsere Denk- und Verhaltensweisen bis in minimale Einzelheiten hinein „naturgesetzlich“ determinierst bzw. „nezessitiert“ wären, dann wäre die genannte „Plastizität“ eine Illusion. Allerdings sollte man darüber nachdenken, ob nicht vielmehr der programmatische Anspruch auf Erklärbarkeit menschlichen Verhaltens bis in minimale Einzelheiten hinein „illusionär“ ist. Faktisch verfügen wir nämlich nicht über eine Wissenschaft, die solche Ansprüche einlöst.
Die Denkbarkeit einer Kausalität von „Gedankeninhalten“, bzw. einer „inneren“, „geistigen“ Einstellung ist zugegebener Maßen insofern ein Problem, als man dafür argumentieren muss, dass eine solche „Kausalität“ keine naturwissenschaftlich objektive Kausalität ist und nicht auf die Verletzung des Energieerhaltungssatzes hinausläuft. Man kann dazu feststellen, dass keines der bekannten Naturgesetze durch die Annahme einer solchen „Einstellungskausalität“ verletzt wird. – Jedenfalls so, wie wir alltagssprachlich eine innere Einstellung als „Ursache“ von etwas ansetzen, ist nicht gesagt, ob wir damit der Gültigkeit von Naturgesetzen widersprechen, auch wenn wir die Frage nach der Vereinbarkeit von „Natur“ und „Freiheit“ offen lassen. - Erst durch die Fiktion einer vollendeten Naturwissenschaft, die alle Einzelheiten des menschlichen Verhaltens naturwissenschaftlich exakt beschreiben kann, ergibt sich dieses Problem. Es ist also ein hypothetisches und kein „existentielles“ Problem.
Zurück
zur einzelnen Person namens Tara: Man kann mit Recht, wahrheits- und wirklichkeitsgemäß,
sagen: „Tara existiert nicht, sie existierte nie und nirgends.“ In
niveauvoller, „gehobener“ Sprechweise, etwas vorsichtiger: „Die Existenz Taras ist nicht historisch verbürgt.“ Verbürgt ist lediglich
die Tara-Verehrung in Nordindien im 8. Jahrhundert
n. Chr. „Es gibt Tara-Legenden. Diese handeln aber
nicht von einer historischen Person.“
Was
wurde da verehrt, worum ging es bei diesem „Kult“? Sicherlich um vielerlei, wie
meistens bei solcher „Praxis“, aber auch um einen ganz bestimmten Punkt: Tara
wird verehrt als Befreierin aus [vielerlei] menschlichen Nöten und Sorgen. Sie,
das angebliche Wesen mit der unverbürgten historischen Existenz, wirkt nach
der Auffassung ihrer Verehrer mildtätig zum Wohle aller in Bedrängnis
geratenen wirklichen Lebewesen. Sie ist eine Avatarin,
d. h. ein vom Himmel herabgekommenes Geistes- oder Lichtwesen. Tara ist Symbol
„der schützenden Aktivität des erleuchteten Mitleids“, des Mitleids mit den
in Bedrängnis geratenen Wesen dieser „Daseinsrunde“. Sie gewährt den Menschen
Zuflucht und Ermutigung. Dass es sich dabei in der Hauptsache um eine Zuflucht
und Ermutigung zu einer ganz bestimmten Lebensweise handelt, ist Thema dieses
Aufsatzes. Denn es ist ein wenig oberflächlich, sie als Schutzheilige oder
Nothelferin in allen Arten von Sorgen anzusehen.
Ich
möchte nicht behaupten, dass diese, „oberflächlich“ genannte Auffassung völlig
ausgeschlossen sei. Eine eindeutig festgelegte Bedeutung können wir bei einem
Symbol noch weniger erwarten wie bei einem unbestimmten Alltagsbegriff, z. B.
dem der Freiheit, den jeder etwas anders wenden wird, wenn es ihm darauf
ankommt. Mit Sicherheit wird es Tara-Verehrer geben, die in dem Symbol eine Schutzheilige,
eine Muttergottheit oder die Personifikation der blühenden Natur sehen, die
man bei jeder Art von Wunsch und bei jeder Art von Sorgen um Hilfe bitten
kann, um durch diese Bitte einen konkreten Erfolg in irgendeiner Angelegenheit
zu erzielen. Die Grenze zu kindlichem Wunscherfüllungs-Aberglauben steht uns
hier offen. Ich möchte aber auf einen besonderen philosophischen Aspekt
hinweisen, den man bei der Tara-Gestalt ebenfalls
findet. Wunsch und Zuflucht zu einer spezifisch menschlichen Lebensweise sind
uns sozusagen „a priori“ zugestanden bzw. gewährt. Eine Lebensweise ohne eine
bestimmte Art von selbst geschaffener Not steht von vornherein in unserer
Macht, sofern wir unsere Denk- und Verhaltensweisen „soviel als uns möglich“ in
Übereinstimmung bringen wollten mit der Anerkennung der gleichen Freiheit
anderer Menschen. – Es ist eine moralische Kraft der Selbstüberwindung, der
wir uns da bewusst werden können. Es eine Voraussetzung, die wir in ethisch
wertenden Betrachtungen von vornherein machen, ohne sie empirisch zu
begründen. Vielleicht sogar: „ohne sie empirisch begründen zu können“. Diese
Art von vorausgesetzter bzw. vorauszusetzender Gestaltungsmacht bezüglich
unserer Denk- und Verhaltensweisen ist es, der das Interesse dieser
Ausführungen gilt.
Stichwort
„Mitleid versus Achtung [des höheren Selbst]“. Es ist möglich, innerhalb der hinduistischen
und buddhistischen Traditionen eine Diskussion über die adäquate Auffassung
von Moral/Ethik zu führen, die der europäischen Diskussion zwischen
Gefühlsmoralismus und Vernunftmoralismus entspricht. Die „gefühlsmoralistische“
Position nimmt Mitleid, eventuell Empathie, als ethisches Fundamentalgefühl an,
die „vernunftmoralische“ Position sieht in der Anerkennung der vernunftbegabten
Natur bzw. des höheren Selbst [im Menschen] den Angelpunkt ethischer Wahrheiten
und Verbindlichkeiten.
Mitleid
und Empathie korrelieren mit einem Standpunkt, der die Schmerzempfindlichkeit
und Leiden der Lebewesen in der Welt betont, die Vernunftanlage des höheren
Selbst reflektiert von vornherein mehr auf die Begründungsart normativer Rationalität.
Der Mitleids- und Gefühlsstandpunkt wurde besonders von Rousseau, Shaftesbury und Schopenhauer vertreten, der Standpunkt
einer besonderen Vernunftanlage von den Stoikern, Kant und Fichte. In den hinduistischen
und buddhistischen Traditionen finden wir Hinweise auf die Leiden der Lebewesen
und das „Geistige“ im Menschen, den Atman,
nebeneinander. Also sind in diesen Traditionen Diskussionen über die
„Grundlage“ der Moral denkbar, die der europäischen Diskussion entsprechen.
Der
Gefühlsmoralist ist primär psychologisch orientiert und stellt faktische Kräfte
der menschlichen Motivation in den Vordergrund. Es gibt offenbar Gründe, der
motivierenden Kraft der Vernunft zu misstrauen. Das lehrt die Erfahrung. In
Begründungszusammenhängen hat der moralische Rationalist m. E. dennoch die
stärkere Position, weil wir im allgemeinen die erkennbare
Gültigkeit ethischer Normen fordern und die faktische Kraft tatsächlicher
menschlicher Motivation nicht gegen die Möglichkeit einer rationalen
Motivation ausspielen können. Das wäre sogar eine Spielart des „naturalistischen
Fehlschlusses“ vom Sein auf’s Sollen. Man darf
allerdings die Rationalität des Vernunftsmoralisten
nicht auf empirisch naturwissenschaftliche oder technische Rationalität
verkürzen. Der Rationalist in der Moralphilosophie hat also von vornherein
eine Art von „Erkenntnisförmigkeit“ ethischer Wahrheiten auf seiner Seite, weil
er erkennbare Gültigkeit ethischer Normen von vornherein als eines der
wesentlichen Merkmale solcher Normen ansetzt.
Es ist also überlegungswert, ob man das Tara-Symbaol anstatt mit „erleuchteter Aktivität des Mitleids“ nicht vielmehr mit „erleuchteter Aktivität aus Anerkennung des höheren Selbst in uns allen“ ersetzen sollte. Da aber z. B. eine Haltung prinzipieller Hilfsbereitschaft aus dem Gedanken des höheren Selbst in uns allen gefolgert werden kann, haben wir keinen ausschließenden Gegensatz zwischen einer Moral aus Vernunft und einer Moral aus Empathie. Eine Ablehnung ergibt sich nur gegenüber einer Moral allein aufgrund von Stimmungsmache und emotionalem Druck.
Taras Aktivität erwächst aus einer bewundernswürdigen inneren Ruhe und der
Erkenntnis, dass Menschen in sehr vielen Fällen in Bedrängnis geraten sind,
weil ihnen nicht klar war, dass sie diejenigen Dinge, die sie anderen antun,
sich „im Grunde genommen“ selbst antun. Es klingt geheimnisvoll: „Im Grunde genommen“
tun wir alles, was wir andern antun, uns selbst an. Es gibt eine Rückbeziehung
unserer Handlungen auf uns selbst, die wir leicht zu übersehen geneigt sind.
Dies ist m. E. ein „ethisierter“ All-Einheitsgedanke
bezüglich aller menschlichen Lebewesen. Ich sage vorsichtshalber: „zumindest
aller menschlichen Lebewesen". Denn die Begrenzung des Bereichs
ethischer Verbindlichkeiten auf Menschen ist ein eigenes weitläufiges Thema.
Manche möchten auch das Tier- und Pflanzenreich mit einbezogen sehen.
Die
Rückbeziehung meiner Verhaltensweisen auf mich selbst kommt auch in einem
alltäglichen Sprichwort zum Ausdruck: „Wer andern eine Grube gräbt, fällt
selbst hinein.“ Natürlich ist hier ein Missverständnis nahe liegend: Wir
denken, man müsse eben aufpassen, in die Grube hinein zu fallen, die man für
andere gräbt. Oder man zieht den zusätzlichen Schluss, dass man andern eben
zuvorkommen müsse mit dem Antun dessen, was man an sich selbst nicht erfahren
möchte. Es ist eine interessante Frage, ob es besondere Situationen gibt, in
welchen eine solche Betrachtung gerechtfertigt werden kann, sozusagen als eine
Art Notwehr. Im Alltag spielt dieser Bereich „projektiver“
Erwartungen eine große Rolle. Wir erwarten z. B. den [verbalen] Angriff eines
andern und kommen diesem Angriff durch einen Angriff unsererseits zuvor.
Menschen
leben unter Bedingungen der Natur und [mehr und mehr] unter Bedingungen von selbst
geschaffenen gesellschaftlich, kulturell und historischen Verhältnissen, die,
innerhalb der Natur, als Ergebnis menschlicher Verhaltensweisen zustande
gekommen sind. Wir leben deshalb auch, mehr oder weniger weitgehend, in einer
Wirklichkeit von „im Grunde genommen“ selbst geschaffenen Übeln, an denen alle
„ein wenig und irgendwie“ mitgewirkt haben und mitwirken. – In allem, was wir
tun, bleiben wir Menschen mit all unseren Schwächen. - Dies steht uns
allerdings nicht immer klar vor Augen. Wir erkennen nicht unseren Eigenanteil
an der allgemeinen Misère, denn wir sind in diesem
Punkt oft verblendet, unbefreit und unerlöst. Wir leben in einer Welt „nach“
dem Sündenfall, weil wir alle, vielleicht mehr oder weniger, das Bewusstsein
„unseres höheren Selbst“ verraten haben. Das „höhere Selbst“ hätte uns zu einem
Leben der gleichen Freiheit aller geraten, wir aber haben es vorgezogen, andere
Prioritäten zu setzen. Wir [alle] haben [bisweilen] unseren Vorteil auf
Kosten von andern gesucht und insofern die gleiche Freiheit aller sabotiert.
Das
„höhere Selbst“ ist also identisch mit der moralischen Anlage oder Disposition.
Es entspricht einem potentiellen Bewusstsein, dieses Bewusstsein bezieht sich
auf eine Potentialität des menschlichen Handelns bzw. auf die Potentialität
menschlicher Gestaltungsmacht. Ich kann mir [unter geeigneten Umständen]
darüber „klar“ [„bewusst“] werden, dass es mir darauf ankommen sollte, die
Freiheit anderer der eigenen gleich zu achten und dadurch eine bestimmte
Sorte von selbst verursachten Leiden zu vermeiden. – Diese Art von Aufmerksamkeit
ist m. E. das „erleuchtete“ oder „erwachte“ Bewusstsein.
Es ist übrigens nicht klar, inwiefern auch die Tiere an selbst geschaffenen Leiden laborieren könnten. Vielleicht insofern, als sie die verwandelten Seelen derjenigen Menschen darstellen, die sich in verblendeter Weise dafür entschieden hatten, nicht zu bemerken, was sie andern und sich selbst mit ihrem Betragen in blinder Zumutung angetan haben. Daraufhin hat sich ihr unheilvoller innerer Drang [ihre temperamentvolle „Innenhitze“] erneut zu einem Lebewesen dieser „Daseinsrunde“ verkörpert, um der vergeltenden Gerechtigkeit letztendlich Genüge tun zu können. Solange sozusagen noch eine Rechnung mit dem Schicksal offen steht, leben sie unbefreit, unerlöst und „unerwacht“. – Ich gebe zu, dass es sich bei einer solchen Betrachtung um eine gewagte Spekulation handelt, die durch nüchterne Empirie weder bestätigt noch widerlegt werden kann. Falls auch Tiere „unerleuchtet“ und erlösungsbedürftig sein sollten in Bezug auf selbst geschaffene Leiden, sind sie es nicht nur „unbewusst“ in der Art, wie wir Menschen unbewusst denken und handeln können, sondern auch ganz ohne die Chance, sich dieser Tatsache in irgendeiner glücklichen Stunde einmal bewusst inne zu werden. – Wir selbst handeln ebenfalls oft unbewusst, aber im Unterschied zu den Tieren mit einer gewissen Chance, uns dessen in einer günstigen Stunde irgendwann einmal bewusst zu werden.
Eine Überlegung der eben vollzogenen Art überfliegt die Grenzen nüchterner Beobachtung dadurch, dass sie den Begriff der sich manifestierenden Seele bzw. eines sich verkörpernden geistigen Wesens verwendet. Durch den Ausdruck „gewagte Spekulation“ weise ich darauf hin, dass [zumindest] ein empirisch nicht entscheidbarer Begriff im Spiel ist.
Das Motiv der Verwandlung von Menschen in Tiere ist auch in der europäischen Märchenwelt bekannt. Das Motiv der letztendlichen Beseitigung von Gerechtigkeitslücken ist im europäischen Kulturkreis ebenfalls bekannt: aus der Religionslehre, vermutlich sogar seit altägyptischer Zeit. Es heißt hier: „Letztlich wird es ein Gericht [ohne Gerechtigkeitsdefizit] geben.“- [Allmacht und Allwissenheit Gottes, wenn es ihn nur gibt, werden dieser „Aufgabe“ gerecht.]
Als
Symbolfigur der Mildtätigkeit dürfte vielen Armen dieser Welt St. Martin, der
seinen Mantel mit einem Bettler auf der Straße teilt, besser gefallen als Tara.
Es wäre vielen dieser Armen mit Handlungen verteilender Mildtätigkeit zunächst
mehr gedient als mit dem Hinweis auf den erleuchteten Geist einer
meditierenden Frau.
St.
Martin war Soldat in römischem Militärdienst in der gallischen oder
germanischen Provinz. Er war ungern Soldat. Dann verstand er es irgendwie,
sich dem Militärdienst zu entziehen und ein christlicher Heiliger zu werden.
Man könnte ihn also auch als Symbolfigur der Kriegs- oder Wehrdienstverweigerer
auffassen. Das aber war nie besonders aktuell. Die Geste mit dem Mantel war
zwar auch nie besonders aktuell, aber sie ist auf ihre Art so beeindruckend
gewesen, dass man sich an ihrer Verunglimpfung nicht versucht hat. Sie erschien
bereits vielen löblich und nachahmenswert. Auch wenn sie sie nicht
nachahmten.
Das
Symbolbild der Tara unterscheidet sich von dem des St. Martin [scheinbar?]
dadurch, dass Tara die Mildtätigkeit um des Erleuchtungsgeistes willen und
nicht um des Armen willen propagiert. Ihr Erleuchtungsgeist entspricht
allerdings dem Bewusstsein des „höheren Selbst“ in unserem Denken. Des „höheren
Selbst“ in uns allen, das sich in verschiedenen Menschen in nichts unterscheidet.
Warum
unterscheidet es sich in nichts voneinander, warum hat nicht jeder von uns sein
eigenes höheres Selbst? – Weil wir von allem Inhalt unseres Bewusstseins
abstrahieren und lediglich auf die prinzipielle Fähigkeit reflektieren, um
eines bestimmten Gedanken willens unser individuelles Verhalten zu
modifizieren. – Erkenntnisse bzw. Wahrheiten gelten „auch für mich“, unabhängig
von meiner Subjektivität und meiner Willkür, sie eventuell nicht gelten lassen
zu wollen. Das „Ich“ in diesem „auch für mich“ ist nicht-empirisch, weder
empirisch subjektiv noch empirisch objektiv. Es ist das innere Ich des
Bewusstseins. – Ethische Wahrheit, wenn wir annehmen, dass es so etwas gibt,
ist ebenfalls gültig unabhängig von meiner Willkür, Lust und Laune und vermag
dabei dennoch mein individuelles, u. U. auch sichtbares Verhalten auf eine
bestimmte Art zu modifizieren. Ich bin sozusagen befähigt, eine ethische Norm
in ihrer Gültigkeit zu erkennen und um dieser Norm willen mein individuelles
Verhalten zu modifizieren.
Insofern
ist Taras Bewusstsein nicht „egoistisch“. Es zielt
auf eine Harmonie [Zusammenfügung] der Handlungen aller in grundsätzlich
gleicher Freiheit. Handlungsgeist dieser Verhaltensweise wäre der Respekt vor
der grundsätzlich gleichen Freiheit aller. Freiheit und Gleichheit sind in
dem Gedanken dieser wechselseitigen Anerkennung „gleichursprünglich“ enthalten,
weil es von vornherein um die grundsätzlich gleiche Freiheit aller geht. – Dies
ist ein in’s Ethische gewendeter
Intersubjektivitätsgedanke.
Tara
steht für der Erneuerung bzw. die Berichtigung [Modifikation] des menschlichen
Lebens aus einer inneren Beruhigung ganz besonderer Art. In Ruhe und bei
ausgeglichener Gemütslage vermögen wir es bisweilen, den Gedanken einer
normativen Wechselseitigkeit zu erfassen: „Leben inmitten von Leben!“ war das
Motto der Ethik Albert Schweitzers. Ich schlage vor: „Leben in Gemeinschaft mit
anderen Lebewesen, die ebenfalls leben möchten.“
„Leben
und Leben lassen!“ ist ebenfalls eine gängige Redensart. Aber hier schleicht
sich der Hintergedanke ein: „Eine Krähe hackt der anderen Krähe kein Auge aus.“
Das ist das Motto eines Gruppenegoismus und nicht die allgemeine Anerkennung
vernunftbegabter Naturen. „Aufmerksamkeit für das, was wir andern und uns
selbst antun!“ Das ist der ethisch normative Gedankeninhalt, welcher bloßen
Gruppenegoismus, schlechte Komplizenschaft oder Gemeinsamkeit des
Pferde-Stehlens von der „eigentlich“ zu fordernden allgemeinen Wechselseitigkeit
unterscheidet. Dabei ist der ethisch-normative Handlungsgeist als ein
Gestaltungsvermögen bezüglich einer menschlichen, potentiell
bewusstseinsorientierten Lebensweise anzusehen.
Eine
weitere Zerrform und „Abart“ der Goldenen Regel ist das Motto: „Wie du mir, so
ich dir.“ Hier ist ein Unterton von Vergeltung vorhanden. – Man sollte aber
daran denken, dass niemand Richter in eigener Sache sein kann. Der Grundsatz
„kompetenter Jurisdiktion“ erfordert für den Streitfall genau genommen die
Unterwerfung unter eine Schiedsgerichtsbarkeit, also die Einbeziehung dritter.
– Meistens schießt jeder zweier oder noch mehrerer Konfliktpartner mit
„selbstschützenden“ und „vergeltenden“, vorgeblich „rein reaktiver“ Verhaltensweisen
ein wenig über’s Ziel hinaus. So führt die Anwendung
des Mottos „wie du mir, …“, das man fast für eine Spielart der Goldenen Regel
halten könnte, zur Eskalation von Konflikten.
Eine
weitere Ausdrucksweise der Goldenen Regel: „Was dem einen recht ist, ist dem
andern billig.“ Auch hier geht es um die prinzipielle Gleichheit und
Allgemeingültigkeit der Befugnis bezüglich anzunehmender Denk- und
Verhaltensweisen. Wir hören ebenfalls den Unterton des Vergeltungsdenkens.
Beginne ich die Betrachtung mit der Frage, was andere mir angetan haben, gerate
ich besonders leicht in den Sog einer Konflikteskalation. – Es gibt eine allgemeine
Neigung, sich „zu kurz gekommen“ zu fühlen. Diese Neigung kann zu falschen
Schlussfolgerungen weiterführen. - Die Berufung auf Gehalt und Anwendung der
Goldenen Regel verbürgen allein noch keine Tendenz auf den „Frieden“ der
„allgemeinen Freiheit“. Es stellt sich nämlich auch die Frage, wie umfassend
Wahrnehmungsfähigkeit und Wahrnehmungsbereitschaft bezüglich der angenommenen
Denk- und Verhaltensweisen [„Daseinsmuster“] sind. – Mit
„Realitätsverleugnung“ bezüglich dessen, was geschehen ist und geschieht, muss
man aber immer rechnen. Auch das gehört zur „Natur“ der menschlichen Bewusstseinsweisen.
Ähnlich das Sprichwort: „Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es zurück.“ – Man kann ergänzen: „Oft schallt es etwas lauter zurück.“ Auch hier treffen wir auf das Phänomen der Konflikteskalation mit Berufung auf die Goldene Regel. Es ist hier übrigens naheliegend, eine Anmerkung zu Kants Ableitungsversuchen einzelner inhaltlich bestimmter Pflichten zu machen. Er verwendete die Formulierung: „Handle so, dass du wollen kannst, dass jeder die Befugnis dazu habe.“ Dies führt natürlich zu spitzfindigen Betrachtungen, warum man nicht „wollen kann“, dass ein rauer Ton herrscht, dass Versprechen gebrochen werden usw.. Hier wirkt m. E. die Erinnerung daran, dass wir beachten sollten, was wir uns selbst und andern antun, „instruktiver“ und verständlicher als die Kantische Darstellung. Wenn ich mir verschiedene Szenen meines Lebens vergegenwärtige und ehrlich zu mir bin, bemerke ich, dass ich nicht will, dass man mir gegenüber grundlos einen allzu groben Ton anschlägt, oder dass man Versprechen mir gegenüber leichtfertig bricht. Die Formulierung „ich kann nicht wollen, dass mir X angetan wird“ wirkt weniger verständlich als die Formulierung „ich möchte selbst auch nicht, dass mir X angetan wird.“ Aber auch hier gibt es eine Missverständigungsmöglichkeit, weil man sprachlich korrekt antworten könnte: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füge präventiv dem andern zu!“ – Kant hat also durchaus ganz richtig gesehen, dass die ethisch-moralische Seite des Problems in der Verallgemeinerungsfähigkeit der Befugnis zu Handlungen eben der gleichen Art besteht.
Auch in der Frage „warum soll es andern besser gehen als mir selbst?“ ist mir eine Anspielung auf den Denkinhalt der Goldenen Regel aufgefallen. Hier haben wir einen Anklang von Missgunst und Ressentiment. Trotzdem ist nicht abzustreiten, dass die Frage damit auftaucht, was wir für uns selbst und andere möchten. Ressentiment und Rancune lehnen wir als „schlechte Energie“ ab, weil sie die „Atmosphäre“ des menschlichen Handelns verdirbt.
Weitgehend im Gegensatz zum „Ich und Du“ der Goldenen Regel steht das „Ich oder Du“ der Notwehr oder des Krieges. Es gibt viele Situationen, in welchem nach diesem Motto entschieden wird. Aber man sollte die Unerfreulichkeit dieser Situationen erkennen und darüber nachdenken, ob sie nicht vermieden werden können. Man kann immerhin versuchen, solche Situationen zu vermeiden. Wir befinden uns in einer Welt, in der das Wohl des einen viel zu sehr vom Unglück anderer abhängt. Dieses Faktum sollte uns aber nicht dahingehend faszinieren, dass wir es zu einer pessimistischen Zwangsläufigkeit überhöhen, weil solche Konzeptionen leicht den Charakter von self fullfilling prophecies annehmen. Niemand kann a priori beweisen, dass das Glück des einen zwangsläufig zu Lasten anderer gehen muss. Man hat zwar viele Beispiele dafür, aber möglicherweise gibt es Gegenbeispiele. Der Negativismus der Schwarzseherei mag sich für einen Realismus der harten Tatsachen halten, man sollte sich aber der Gefahr der tendenziösen Pauschalisierung bewusst sein. Es geschieht sehr leicht, dass man sich bestätigende Beispiele so wählt und „zurechtmacht“, dass sie eine vorgefertigte Sichtweise stützen.
Allen
kann [fast?] alles geschehen, ist ebenfalls eine Version dieses All-Verbundenheits-Gedankens.
Wer heute stark ist, kann morgen schwach und hilfsbedürftig sein, er mag Sicherheitsvorkehrungen
und Vorsorge treffen, so viel er will. Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht,
wir sind vernunftbegabte und eventuell „bedürftige“ Wesen zugleich, die
allerlei Zufällen und eventuell auch Missgeschicken unterworfen sind. Die
Natur hat uns „auf einem Wohnplatz“ „zur wechselseitigen Beihilfe“
„vereinigt“. [Die Natur wird in dieser Formulierung zweckgerichtet
(teleologisch) aufgefasst als natürliche Voraussetzung menschlicher
Zwecktätigkeit. Man kann darüber nachdenken, ob das Argument auch ohne diese
„metaphysische“ und „teleologische“ Prämisse formuliert werden kann. Derart
begründete Kant in „Metaphysik der Sitten“, 2. Teil, § 30 das ethische Gebot
der „Mitmenschlichkeit“.]
„Was
du nicht willst, das man dir tu, usw..“ Das ist der
Geist einer Handlungsweise aus dem Bewusstsein der Goldenen Regel. Wir
befinden uns also auf moralphilosophischem Gebiet. Handlungsweisen,
moralphilosophisch gesehen, sind sozusagen Geister und Dämonen, da Verhaltensweisen
hier als erkenntnis- und willensmäßig modifizierbar
gelten. Im Falle einer Denk- und Verhaltensweise, bei welcher der eine sich
selbst im anderen wiedererkennt, hätten wir einen „guten“ Geist, bei ethisch
verwerflichen Verhaltensweisen einen Dämon, welcher die Harmonie der
Freiheitsspielräume stört.
Der
Erleuchtungsgeist Taras kann ohne weiteres aufgefasst
werden als die innere Anlage des Menschen, mit sich selbst und andern in einer
besonderen Art von Übereinstimmung zu leben gemäß dem Gebot einer
„eigentlichen“ Moral. Der Moral der wechselseitig anerkannten Freiheit aller
„Beteiligten“ und „Betroffenen“. Das ist die [leise] „Stimme“ der ethisch-moralischen
Vernunft, sozusagen der [verhaltene] Aufruf des höheren „Selbst“, das sich in
unserem Denken [auch] irgendwie bemerkbar macht.
Am
bedeutendsten ist m. E. also die ethische Variante des All-Einheits-Gedankens:
Durch die Verhaltensweisen, die ich für mich selbst annehme, setze ich
Standards für die Verhaltensweisen anderer, die dann auch mich betreffen
können [könnten]. Was ich andern antue, betrifft derart mich selbst [in
potentieller Rückwirkung], dass andere es auch mir irgendwann einmal antun
könnten. Und auch irgendwann einmal antun werden, wenn man davon ausgeht, dass
es uns nicht gelingen kann, uns durch einen rechtzeitigen Tod der
ausgleichenden Gerechtigkeit zu entziehen. Dieser Gesichtspunkt beinhaltet
die ethische Forderung nach der gleichen Freiheit aller [mit einer bestimmten
Art von Bewusstseinsfähigkeit begabten Wesen]. Wir werden uns darüber klar,
dass wir handeln könnten und sollten im Sinne einer universellen Reziprozität
unserer Verhaltensweisen. Es geht dabei um die Handlungsweisen einer
bestimmten Art von Lebewesen. Derjenigen Lebewesen, die derart handeln [könnten],
dass sie sich Verhaltensweisen irgendwie verantwortlich zueigen machen. Wir
treffen hier auf das Gebot der wechselseitigen Anerkennung geistiger Handlungssubjekte.
Der
Gedanke der Goldenen Regel beschränkt sich nicht nur auf den Kreis der tatsächlich
lebenden Menschen, mit denen ich de facto Konsens oder Dissens haben kann,
sondern er umfasst auch zukünftig eventuell existierende Menschen. Ich möchte
in den Hinterlassenschaften meiner Vorfahren nicht nur eine Last und Zumutung
erkennen können, sondern auch [noch] spezifische Lebenschancen. Umgekehrt,
obwohl die Möglichkeit einer Retorsion [von retorqueo: drehe zurück] faktisch wegen Asymmetrie der
Nachfolge-Beziehung nicht besteht, sollte ich auch zukünftigen Menschen den Anspruch
auf eine Situation, die Chancen bietet, zugestehen. Daher schließt sich der
Standpunkt aus, die Nachgeborenen müssten völlig allein für sich selbst sorgen
und sehen, was für sie an Chancen und Ressourcen übrig geblieben sei. – Es ist
schwierig, aus diesem Gedanken ganz konkrete Verpflichtungen [z. B. für die Umweltpolitik]
abzuleiten, aber als prinzipiellen Gesichtspunkt halte ich ihn für unabweisbar.
Natürlich muss jeder möglichst für sich selbst sorgen und aus seinen biographisch
spezifischen Chancen das „Beste“ machen, aber völlig gleichgültig kann es uns
nicht sein, welche Situation wir zukünftigen Menschen hinterlassen. „Nach uns
die Sintflut!“ ist also ein Motto, zu dem man nicht guten Gewissens raten kann.
Man sieht an dieser Stelle deutlich, dass das Motto „was du nicht willst“ über das „do ut des“ oder das „wohlverstandene Eigeninteresse“ hinausweist auf eine sehr prinzipielle Allgemeingültigkeit der Befugnis zu Handlungen einer bestimmten Art. Aus diesem Grund ist die Gültigkeit des „was du nicht willst“ nicht auf faktische Konsensbildungen zurückzuführen. – Faktische Konsensbildungen erfolgen sehr oft aufgrund von ausdrücklichem und unausdrücklichen Einvernehmens und gehen sehr oft zu Lasten unbeteiligter, aber betroffener Dritter. Der letztgenannte Punkt macht diese faktischen Konsensbildungen in ihrer moralischen Gültigkeit fragwürdig.
Die Krähe, die der andern Krähe kein Auge aushackt, glaubt sich durch die komplizenhafte Verhaltensweise vor schädigenden Angriffen anderer Krähen geschützt. Wenn nun der Meinung dieser Krähe zufolge die reale Möglichkeit der Retorsion des Übels vonseiten von Nicht-Krähen nicht besteht, glaubt sie, auch von Nicht-Krähen, denen sie eventuell Schaden zufügt, nichts zu befürchten zu haben. Erst durch die Annahme einer Wiedergeburt unter ganz anderen Umständen käme dergleichen in’s Spiel. – Aus diesem Grund halte ich den Wiedergeburts- plus Karmagedanken für eine geniale Veranschaulichung des ethischen Reziprozitätsgedankens. Dieser Wiedergeburtsgedanke zieht weitere Kraft aus der Tatsache, dass wir nicht wissen können, was das innere Ich unseres Bewussteins „eigentlich“ ist.
Eine verhaltene Form der Anerkennung des Reziprozitätsgedankens ist das Motto: „Erst du, dann ich.“ Hier geht man davon aus, dass der andere im Konfliktfall mit einer vertrauensbildenden Maßnahme einen Anfang zu machen habe. In Konfliktfällen erweist sich dieses Motto oft als Blockade wechselseitiger Anerkennung und unverkrampfter Gemeinsamkeit, weil niemand den Anfang mit einer Änderung bei sich selbst machen möchte, was aber allein in seiner Macht stünde. Wie weit man allerdings mit vorleistendem Vertrauen zu gehen hat, und inwieweit vorsichtiges Schutzverhalten anzuraten ist, ist eine oft schwierige kasuistische Frage. Man sollte wohl dazu tendieren, Anfänge bei sich selbst zu machen, weil das am zuverlässigsten in der eigenen Macht steht und oft die eleganteste Lösung irgendwelcher Probleme darstellt. Aber es gibt in Einzelfällen Menschen, denen man anraten muss, die Schuld nicht zu sehr bei sich selbst zu suchen.
Niemandem soll angeraten werden zu übersehen, wie es in der Welt tatsächlich zugeht. Auch wenn hier die Gefahr von projektiver Sichtweise, Verdächtigung und Unterstellungen in erheblichem Maß besteht. Es wird hier wichtig, mit Sichtweisen ein wenig experimentieren zu lernen, um nicht völlig unkritisch die eigene Interpretation der Dinge für ausgemachte Wahrheit und Wirklichkeit anzusehen. Sturheit in Sicht- und Verhaltensweisen scheint jedenfalls ein Hindernis mitmenschlicher Reziprozität darzustellen und ist deshalb nicht zu empfehlen. Wir haben hier das Problem eines richtigen, „a priori“ nicht festzulegenden Maßes.
Das
Tara-Bewusstseins besteht
also genau genommen in einer Aufmerksamkeit auf einen überhistorisch und
überkonventionell gültigen Kerninhalt ethischen Normbewusstseins. Die Ausdrücke
„überhistorisch“ und „überkonventionell“ verwende ich, um anzuzeigen, dass es
sich bei unserem moralisch-ethischen Normbewusstsein nicht [nur] um das
Bewusstsein lediglich konventionell gültiger Regeln handelt. In rein historischer
und konventionalistischer Lesart könnten wir nicht sagen, warum man irgendwelche
Verhaltensnormen als moralisch verpflichtend [von „eigentlicher“ Verbindlichkeit]
ansehen sollte, wenn man überzeugt davon wäre, es könne einem durchaus
gelingen, sie unerkannt und ohne nachteilige Konsequenzen zu missachten. In
lediglich historischer und konventionalistischer Lesart haben wir nur dann
etwas als Konsequenz unserer Verantwortung zu befürchten, wenn man uns
tatsächlich zur Verantwortung zieht. – Das aber muss „den anderen“ erst einmal
gelingen. - Ein Spruch lautet: „Die Nürnberger bestrafen keinen, sie hätten
ihn denn.“ Mancher zieht daraus den Schluss, es käme vor allem darauf an, von
den Nürnbergern nicht erwischt zu werden. So redet der Spötter vom so genannten
11. Gebot: „Lass dich nicht erwischen!“ Aber auch im Falle der Straflosigkeit
[wegen Nicht-Entdeckung oder entsprechender Machtposition] „darf“ man sich
keinen Vorteil verschaffen, der zu Lasten der grundsätzlich gleichen Freiheit
anderer „Handlungssubjekte“ geht. Also übersteigt unsere
Denken an Sollen und Dürfen in bestimmten Fällen das rein konventionalistische
Schema von Sanktion und Verstoß.
Ein
nicht-empirisches Subjekt von Freiheit und Verantwortung kann es nach rein
historischer und konventionalistischer Lesart nicht geben. Die freie
Vorsätzlichkeit unseres Verhaltens [unter dem Aspekt „eigentlicher“ Moral] ist
kein erweisbares empirisches Faktum, sondern eine
Voraussetzung, die wir in einer bestimmten Art von Betrachtungen ganz einfach
in Anspruch nehmen. – Ich selbst als bewusstseinsmäßig
normorientiert handelndes Wesen, in einem zu gestaltenden Wechselspiel mit
anderen, ebensolchen Wesen. - Wir setzen diese Voraussetzung erst einmal
generell voraus, um dann im Nachhinein irgendwelche Ausnahmen in Zurechenbarkeitsfragen
empirisch zu begründen. In bestimmten Fällen ist man nicht schuld- und zurechnungsfähig,
prinzipiell aber ist man es schon. Wenn man betrunken ist, kann man sich nicht
mehr [völlig] zurechnungsfähig verhalten. Dass man aber betrunken ist, muss man
sich [möglicherweise] selbst zurechnen. – Das ist sozusagen eine Vorentscheidung
durch die Annahme einer Begründungslastregel.
Im
Falle des ethisch-moralischen Handlungsgeistes geht es zum einen um das
Bewusstsein einer Erkenntnisfähigkeit. Der Fähigkeit zu erkennen, welchen
Gesichtspunkt man in der Annahme von Verhaltensweisen unbedingt beachten
sollte. Zum andern geht es um die Fähigkeit, um dieses Gesichtspunkts willen
tatsächlich etwas zu tun. Wir müssen atmen, essen und trinken, aber wir können
unsere Lebensweise eventuell dennoch hinsichtlich der Ziel- bzw.
Verfahrensvorstellung einer Harmonisierung mit den Bedürfnissen anderen
modifizieren. Aus dieser Art von normativem Bewusstsein würden ideale
Verhaltensweisen „erwachter“ bzw. „erleuchteter“ Menschen erfolgen. In diesem
Geist wäre der Mensch von selbst geschaffenen Nöten erlöst. Betroffenen würde
nur dasjenige angetan, was der normativen Forderung einer zumindest prinzipiellen
Reziprozität entspricht. Insofern ist Tara ein Symbol für eine spezifische Art
von Sinnverheißung, derer sich Menschen bewusst werden können. Es handelt sich
um eine spezifische Qualität menschlicher Lebensführung in Harmonie mit dem
Gedanken der Anerkennung des höheren Selbst in anderen und mir selbst.
Man
tut also [auf „lange Sicht“ und „im Grunde genommen“] sich selbst an, was man
andern antut. Die Wirklichkeit der derart selbst geschaffenen Übel kann durch
zuversichtliche Mildtätigkeit aus dem Geist kontemplativen Denkens gemildert
bzw. gebessert werden. Tara ist das Symbol für eine Erlösungszuversicht
bezüglich dieser Art von Leiden. Es ist aktive Selbst-Erlösung und
Erlösungs-Zuversicht aus dem Geist universeller Wechselseitigkeit.
Die
Natur hat trotz aller mörderischen Exzesse der Evolution Lebewesen
hervorgebracht, die den Gedanken einer prinzipiellen Wechselseitigkeit der
anzunehmenden Verhaltensweisen [unter Menschen] zu denken vermögen. Also auch
den Gedanken eines Lebens, das von einer spezifischen Art des Leidens befreit
ist. Von den Leiden, die der Mensch dem Menschen schafft.
Tara
ist der Handlungsgeist erleuchteten menschlichen Wirkens, aber keine aufgeregte
Aktionistin oder Alarmistin
der Mildtätigkeit. Ihre Kraft und Energie wirkt aus einem beruhigten Geist.
Tara
lässt sich nicht durch Stimmungen hinreißen, sie wird nicht durch
Stimmungsmache bewegt, sondern sie besitzt die Fähigkeit, von selbst etwas
anzufangen. Sie besitzt die Freiheit, ihrer Wirkungsweise eine spezifisch
menschliche Gestalt zu geben. Sie sieht im menschlichen Leben die Chance, dem
Kreislauf der selbst verschuldeten Not zu entrinnen.
Tara
ist ein symbolisiertes Persönlichkeitsideal. Dieses Ideal propagiert höheres
Selbstsein als Mitsein nach dem Prinzip wechselseitig zugestandener Freiheit.
Selbstsein als eine Art von Miteinander, Miteinandersein als eine Art von
Selbstsein. Für die gegensätzlichen Optionen von „liberalistischem
Individualismus“ und „kommunitaristischen“ Egalitarismus wird eine Balance angeraten. Eine Balance
gemäß dem Respekt vor dem höheren Selbst in uns allen.
Die Eigenschaft, Subjekt der Rechtsfähigkeit zu sein, „ermäßigt“ das „höhere Selbst“ auf ein alltagstaugliches, äußeres Maß. Ich muss hier lediglich in der Lage sein, Regeln des äußeren Miteinanders einzuhalten, die überprüft und sanktioniert werden können. Welche Motivation mich zur Einhaltung dieser Regeln antreibt oder „inspiriert“, ist in dieser „äußeren“ Hinsicht gleichgültig. – Diese „Gesinnung“ „darf“ in Fragen der Regeln zwecks Möglichkeit einer Harmonie des äußeren Miteinanders keine Rolle spielen. Der Gerechtigkeitsgedanke schließt deshalb inquisitorische Motivations- und Gesinnungserforschungen aus, obwohl sie einem Denken, das auf „wahre“ und „eigentliche“ Ursachen [vorzüglich bei den Handlungen anderer] zielt, sehr nahe liegen.
Die „Vernünftigkeit“ der Rechtsordnung entspricht nicht dem, was alle faktisch wollen, oder dem, worin ein allgemeiner Konsens faktisch besteht. Sie entspricht einem lediglich unterstellten, hypothetischen Einvernehmen in Bezug darauf, dass eine Ordnung des äußeren menschlichen Mit- und Gegeneinander sein soll, welche die grundsätzlich gleiche Freiheit aller respektiert. Im potentiellen Streitfall wird durch die von Menschen geschaffene Rechtsordnung Rechtszuerkennung und Rechtsdurchsetzung [nach einer geregelten Verfahrensweise] „rechtlich möglich“. – Das ist die „volonté generale“ Rousseaus: ein hypothetisch unterstelltes Apriori-Einvernehmen („alle könnten damit einverstanden sein“) im Unterschied zur faktisch „pluralistischen“ „volontè de tous“.
Welche Spielregeln und Satzungen nun nötig sind, um eine solche Ordnung zu errichten und zu erhalten, unterliegt zum Teil faktisch vereinbarten Verfahrensregeln [tonangebender Kreise], zum Teil auch Traditionen und Üblichkeiten, die von verschiedenen Personen verschieden bewertet werden. Es unterliegt auch faktisch gegebenen Machtverhältnissen. Wir finden uns in einem „Spiel“ nach geschriebenen und ungeschriebenen Spielregeln, in dem u. U. bestimmte Spielregeln nach Regeln höherer Ordnung geändert werden können.
Richtlinien, Durchführungsverordnungen, Änderungsverordnungen und Begleitregelungen werden nach ebenfalls vorgeschriebenen „formalen“ Verfahrensweisen „in Gültigkeit gesetzt“. - Die allgemeine und grundsätzliche Voraussetzung in Fragen der äußeren menschen-gemachten Ordnung des Miteinander ist dabei die, dass man einen allgemeinen Willen zur Rechtsbestimmung und Rechtsdurchsetzung in strittigen Fragen voraussetzen „darf“, „kann“ und „soll“. Weil es nicht „gerecht“ wäre, Rechtsstreitigkeiten „einseitig“ nach eigener Auffassung und persönlich verfügbaren Machtmitteln zu entscheiden. - Ein einseitiger Wille erzeugt keine Verbindlichkeiten für andere, das kann nur die präsupponierte „volonté generale“. - Dabei muss nicht einmal ein allgemeiner Konsens bezüglich einer anzunehmenden „Theorie der Gerechtigkeit“ faktisch existieren.
Das sind Anspielungen auf den weitläufigen Themenkomplex um Recht und Gerechtigkeit. Die Philosophie hat in diesen Fragen lediglich die Zuständigkeit für die „überhistorische“ und „überkonventionelle“ Komponente „unserer“ normativen Auffassungen in Fragen der äußeren menschlichen Wechselwirkungen. Der philosophische Part besteht z. B. in Reflexionsübungen bezüglich des [eventuellen] Unterschieds von Recht und Gerechtigkeit. Ob es überhaupt einen „überhistorischen“ Kerninhalt unserer Gerechtigkeitsvorstellungen gibt, gehört z. B. hierher. Worin er bestehen könnte, ebenfalls.
Durch Einverständnis, sei es ausdrücklich oder stillschweigend, kommen Verträge und Vereinbarungen mehr oder weniger bestimmten Inhalts zustande. Der allgemeine und relativ abstrakte Imperativ [Wille], dass eine äußerlich geregelte Ordnung des Miteinander [mit „positivem“ Recht] sein soll, legitimiert sich nicht durch ein faktisch nachweisbares Einvernehmen irgendwelcher Beteiligter. Die Gültigkeit dieses Imperativs wird vielmehr vorausgesetzt und nicht durch ein weiteres, höheres Prinzip begründet. Der contract social stellt ein denkbares Einvernehmen dar, das man [normativ] voraussetzen kann [darf]. Als solches unterstelltes Einvernehmen ist er die Lösung der gerechtigkeits-theoretischen Denkaufgabe, wie eine äußere Ordnung des Miteinander beschaffen sein müsste, in der die Unterordnung des einzelnen unter menschen-gemachte Regelungen nicht einem Verzicht auf Recht und Freiheit gleichkommen würde. – Aufhebung von Rechten und Freiheiten würde auch Verpflichtungen und damit die Gerechtigkeit herrschaftlicher Regelungen aufheben. - Die volonté générale ist derart ein normativer Auftrag an tatsächlich bestehende Staatsgewalten.
J. J. Rousseau hat sich das beträchtliche Verdienst in der Geschichte der Philosophie erworben, der philosophischen Öffentlichkeit zu zeigen, wie das Phänomen der Herrschaft von Menschen über Menschen mit dem Gedanken der gleichen Freiheit aller vereinbart werden könnte. Wenn man nämlich unterstellt, der Zweck der Herrschaft sei die Rechtssicherheit aller. Unter dieser Bedingung wäre eine Harmonie der droits de l’homme mit den droits du citoyen denkbar. Kant setzte zu diesem Gedanken hinzu, dass man bestehende Herrschaftsverhältnisse im Hinblick auf den sie legitimierenden und allgemein zu unterstellenden Rechtssicherungswillen nur reformieren und nicht revolutionieren dürfe. Hier werden tatsächlich bestehende Machtverhältnisse, sogar wenn sie dem Anspruch auf allgemeine Rechtssicherheit weitgehend Hohn sprechen, zur Voraussetzung öffentlich-statuarischen Rechts. Er lehnte ein Widerstands- und Revolutionsrecht explizit ab, obwohl er die Motive der französischen Revolution anerkannte. – Ist eine Revolution erst einmal gelungen, so Kant, so gilt wiederum, dass es kein moralisches oder sonstiges Recht auf Wiederherstellung der alten Ordnung geben kann. Man darf die bestehende Ordnung immer nur im Hinblick auf die anzustrebende Rechtssicherheit aller reformatorisch modifizieren.
Ich führe diese Dinge hier an, weil sie die Verknüpfung einer Moral- und Rechtphilosophie mit dem Gehalt der Goldenen Regel selbst mit dem Herrschaftsproblem belegen. „Tu andern nicht an, was du selbst nicht wünschst“, ist ein lapidarer, unscheinbarer Ausdruck dieser Regel. Weil zwischen Menschen dennoch jederzeit Konflikte entstehen können und erfahrungsgemäß auch entstehen, müssen sie sich einer Schiedsgerichtsbarkeit und öffentlichen Rechtsdurchsetzung unterwerfen, um ihr Recht nicht einfach von der persönlichen Gewalt abhängig zu machen. Auch dies ist eine Sollensnorm aus dem Geist der Goldenen Regel, bzw. der Existenz des höheren Selbst in uns allen.
Nach diesem
[gerechtigkeits-theoretischen] Exkurs zurück zu Tara, einem innerlich moralischem
Wesen:
Taras Aktivität erwächst aus der [ihrer selbst bewussten] Haltung innerer
All-Gemeinsamkeit. Im Geist der Stille reflektiert sie auf das höhere Selbst,
auf das dem Menschen innewohnende Streben nach einem Leben in Harmonie mit
dieser Anlage. Es ist ein Bewusstsein [Geist] der Stille und Ruhe, aus der die
wahrhaft menschliche Wirksamkeit entspringt.
Ruhe
und Stille Taras bedeuten, dass uns in einer
subjektiv beruhigten, ausgeglichenen Gemütsverfassung die unverfälschte
„Erkenntnis“ der anzuratenden allgemeinen Reziprozität am besten gelingt.
Dieser Bewusstseinszustand entspricht dem von Stoikern und Epikuräern propagierten
Ideal der ataraxia, der inneren Ruhe des Geistes, ein
[innerer] Zustand bzw. eine [innere] Tätigkeit, welche uns zur „Erkenntnis“ „geneigt
macht“. Es handelt sich um eine Ablösungs- und Distanzierungsfähigkeit
bezüglich subjektiv getrübter Werturteile und alltäglicher Interessen. Es
handelt sich um die Fähigkeit der Erneuerung unseres Lebens aus dem Gedanken
einer „eigentlichen“ Moral. Der Tara-Geist ist ein
Bewusstsein, das unser menschlich-unmenschliches Wirken in die richtigen Bahnen
lenken soll und dies auch vermag. Es ist die Instanz des „eigentlichen“
Bewusstseins einer „eigentlichen“ Moral, die hier bemüht wird. Den Ausdruck
„eigentlich“ verwende ich wegen dem idealischen, überkonventionellen
und überhistorischen Charakter des Anspruchs.
Diese
Anlage [des erwachten Handlungsgeistes gemäß den Ansprüchen des höheren Selbst]
ist uns „gewährt“, zu dieser Art von Selbstbewusstsein soll[t]en und könn[t]en wir unsere „Zuflucht“ suchen. – Damit spiele ich
auf die stilisierten Handhaltungen [Mudras] der Tara-Bildnisse an. Rechts die Handgebärde der
Gunstgewährung, links die der Zufluchts- und Schutzgewährung.
Die drei aufgerichteten Finger der linken Hand symbolisieren die „Zufluchtsobjekte“ „Buddha“, „Lehre“ [„dharma“] und „Gemeinde“ [„sangha“], der Ring, den Daumen und Ringfinger bilden, ist ein weiteres Symbol der Rückverweisung auf das „Rad der Lehre“. – Die sieben Augen der weißen Tara stehen für die hohe Wahrnehmungsbereitschaft bezüglich der Leiden der Welt. Wohl auch für die Wahrnehmungsfähigkeit bezüglich der Hintergründe des menschlichen Lebens, die der vorlauten Aufmerksamkeit so leicht entgehen.
Das Rankenwerk um den Körper Taras würde ich gerne als Symbol der religiösen Legendenbildung deuten. Das widerspricht vermutlich der offiziellen Deutung, würde aber dem hermeneutisch projizierenden Charakter entsprechen, den wir im Zusammenhang mit wohl allen Religionsideen finden. Im Mittelpunkt der Religionsidee stehen vermutlich einige wenige, sehr einfache und grundlegende Dinge, die sich aus der Natur des Menschen und seines Bewusstseins herleiten, aber man bringt diese Dinge in poetisch aufbauender Weise mit verschiedenen Ausdrucksmitteln der Anschauung nahe. Eine Religionspraxis mit Ritus, Lehre und Gemeinschaftserlebnis kommt der Idee Wagners vom mythisch-mystischen Gesamtkunstwerk ziemlich nahe.
Tara
also existierte nie und nirgends, wenn man nach einer historischen Person
fragt. Andererseits aber vermag Tara immer und überall zu existieren. Tara ist
ein Abstraktum einer menschenmöglichen Verhaltensweise, welches man zu einem
Symbol versinnlicht hat. Hierbei sind zwei Versionen der Auffassung möglich.
Die
erste Variante ist die: Das „Abstraktum“ betrifft eine von Menschen tatsächlich
getätigte Verhaltensweise bestimmter Art. Solche Verhaltensweisen sind
praktiziert worden, es hat sie gegeben, es gibt sie, es wird sie geben.
Jedenfalls können dieselben oder sehr ähnliche Verhaltensweisen wiederholt
vollzogen werden, an verschiedenen Orten, zu verschieden Zeiten. Das ist die
deskriptiv-tatsächliche Variante, das Abstraktum einer Verhaltensweise aufzufassen.
Natürlich haben verschiedene Menschen dabei verschieden strenge Kriterien für
die in Frage stehende Dieselbigkeit. Das gilt ganz
besonders für den Inhalt und die Dieselbigkeit der zu
einer Handlung führenden Motivation.
Für
manche von uns gelten nur Verhaltensweisen zum eigenen Wohl und Wehe als menschenmöglich,
so dass sie Verhaltensweisen aus dem Motiv allseitiger Wechselseitigkeit für
„unrealistisch“ halten. Sie haben insofern Recht, als es nicht nachweisbar ist,
ob jemals eine Handlung allein aus Gründen der „eigentlich“ gebotenen
Wechselseitigkeit ausgeführt wurde. In aller Regel mischen sich in unseren
Handlungen ganz verschiedene Motive, und insgeheim sucht jeder seinen
kurzfristigen Vorteil hinter irgendeiner Maske. Das wollen wir im Zuge unserer
hoch gesinnten Reflexion nicht vergessen.
Tara
steht für den Versuch und die Übung, unser verwirrtes Innenleben durch den
erwachten Geist einer wechselseitigen Harmonie frei handelnder Wesen mehr und
mehr zur Ruhe zu bringen.
Tara-Geist kann also in deskriptiver Weise für die allgemeine Eigenschaft
wohltätiger Verhaltensweisen angesehen werden. Eine geistige Disposition zu
beobachtbarem Verhalten. Die „Realisten“ unter uns werden so etwas für ein
„bloßes“ Ideal halten. Man kann ihnen dabei sogar Recht geben. Es gibt nämlich
eine zweite ausschlaggebende Deutung des Abstraktums einer bestimmten
Verhaltensweise. Das ist die Deutung auf ein normatives Abstraktum hin. Im
Unterschied zum deskriptiven Abstraktum, das man als „ontisch“ bezeichnen kann,
ist diese zweite Deutung deontisch. Wir reden im
Falle moralphilosophischer Reflexion nicht [nur] von dem, was ist, sondern
[weitgehend] von dem, was sein soll. Die Perspektive ist wertend, und zwar
moralisch wertend. Sie nimmt einen Gesichtspunkt in Anspruch, unter dem
[eventuell] gegebene Verhaltensweisen geboten, verboten oder moralisch erlaubt
sein könnten.
Der
ethisch-normative Gesichtspunkt des Lebens unter dem Gebot der Reziprozität der
Freiheitshandlungen aller Beteiligten führt uns zu einer besonderen Art von
anschließenden Reflexionen. Es geht um die Wirklichkeit des Menschen in der
Welt, wie sie wirklich ist, aber unter der Perspektive einer moralisch-ethischen
Beurteilung. Hierbei geht es darum, begriffliche Kennzeichnungen von
Verhaltensweisen, die tatsächlich vollzogen werden könnten und auch wirklich
vollzogen werden, anhand dieses normativen Aspektes zu bewerten. Der normative
Aspekt erscheint in der Frage nach der Allgemeinheit der Befugnis zu Handlungen
gleicher Art unter gleichen Umständen. – Das ganze Feld möglichen Konsenses und
Dissenses in moralischen Reflexionen eröffnet sich anhand dieser Formulierung
der Goldenen Regel: „Was ist eine Handlung gleicher Art?“, „was sind Umstände
gleicher Art?“ Solche Schwierigkeiten sind unvermeidlich. Es haben sich
allerdings Gepflogenheiten und Üblichkeiten ihrer Handhabung historisch
herausgebildet, die ihrerseits wertend beurteilt werden können.
Betrachte
ich das Gebot ethischer Wechselseitigkeit allein für sich selbst, ergibt sich
keine „Deduktion“ oder „Konstruktion“ inhaltlich bestimmter Verbindlichkeiten.
Nehme ich aber z. B. die begrifflich erfasste Handlungsweise des Tötens eines
anderen Freiheitswesens, dann fällt mir auf, dass eine Verhaltensweise, die ein
Töten von anderen beinhaltet, nicht im Einklang steht mit dem Gebot
wechselseitiger Anerkennung handelnder Freiheitswesen. Derart begründe ich,
trotz eventueller Ausnahmen in besonders zu charakterisierenden Situationen,
ein Unterlassungsgebot bezüglich der bestimmten Handlungsweise des Tötens von
anderen. Anhand der begrifflich erfassten Verhaltensweisen, die mit dem Reziprozitätsgebot nicht in Einklang zu bringen sind, entsteht
uns ein Regelwerk inhaltlich bestimmter Pflichten, die man als „materiale“
Werte bezeichnen kann.
Inhaltlich bestimmte Werte [Verpflichtungen, Gebote] der „eigentlichen“ Moral stellen „Konkretisierungen“ des allgemeinen, normativen Reziprozitätsgedankens dar. Z. B. „du sollst nicht töten!“ als grundsätzliches Erfordernis einer Harmonisierung von Freiheitspielräumen handelnder Wesen. Wenn sie sich nicht einmal das Leben gönnen wollten, dann käme es nicht weit mit einer Möglichkeit der Harmonie in prinzipiell gleicher Freiheit aller. Dennoch ist der Gehalt eines solchen Gebots noch relativ abstrakt. Fragen der Grenzen und Ausnahmen stehen in Einzelfällen tatsächlicher Verhaltensweisen offen, wenn man Sollens- und Verbotsnormen darauf anwenden will. „Gibt es Ausnahmen?“ „Ab wann ist der Mensch ein Mensch?“ „Wie ist es bei angenommenem Verlust der bewusstseinsmäßigen Verhaltenssteuerung?“
Man kann die inhaltlich bestimmten Werte der „eigentlichen“ Moral als „Gestaltungsrichtlinien“ einer „konkreten“ Durchführungspraxis ansehen, deren „Inhalte“ und „Ansprüche“ historisch variieren. Die Anerkennung von Verpflichtungen ist nur ein Anfang. Dann kommen die Fragen der inhaltlichen Deutung und der Konsequenzen im einzelnen dazu.
Im Falle der äußeren Gerechtigkeit in einer politischen Ordnung entstehen „positives“ Recht und „Satzungen“ unter dem Anspruch, Erfordernisse des allgemeinen „Besten“ bzw. der allgemeinen Rechtssicherheit zu sein. Die Verbindlichkeit, solche „positiven“ Regeln [im Unterschied zu „eigentlichen“ Geboten] zu beachten und tatsächlich einzuhalten, führt letztlich auf den Anspruch der rechtlich gleichen Freiheit aller zurück. Trotzdem kommt es vor diesem Hintergrund zur Rechtfertigung faktischer [z. B. wirtschaftlicher] Ungleichheit in den realen Lebenschancen. Die besondere Denkfigur dieser Rechtfertigung beruht darauf, dass man mit der Durchführung eines tatsächlichen Ausgleichs mehr Probleme erzeugen als lösen würde. So wird dem Benachteiligten ein Einverständnis mit der Situation seines Benachteiligtseins zugemutet, weil die Änderung mit rechtlichen Mitteln nicht ohne weiteres möglich ist. Der Konsens ist nicht faktisch, sondern ein Grundkonsens lediglich in der Idee, wonach wir alle an „Rechtssicherheit“ interessiert sind.
Überdurchschnittliche Macht und überdurchschnittlicher Reichtum erscheinen in dieser Perspektive nur gerechtfertigt, wenn man zeigen kann, dass bei einem anderen Arrangement der Spielregeln, welche diese „Ungleichheiten“ verhindern wollten, alles für alle „nur noch schlimmer“ werden würde. Indem man z. B. die Durchsetzung von Rechtsentscheidungen oder eine effektive Güterproduktion beeinträchtigen oder gar verhindern würde. – Dies entspricht dem Gedanken von J. Rawls „Differenzprinzip“ [„Theorie der Gerechtigkeit“, „Gerechtigkeit als Fairness“]. Der Gedanke der grundsätzlich gleichen Freiheit führt also vermittelst einer Art von „dialektischer“ Denkfigur zur Rechtfertigung tatsächlicher „Ungleichheiten“, welche dann allerdings „sozialpflichtig“ sind. In einer Ordnung „gerechtfertigter Ungleichheit“ verdient also der Manager ein Vielfaches der Hilfsarbeiterin auch zu deren „Besten“, weil es ihr bei einem Arrangement erzwungener Gleichheit schlechter ginge. Z.B. weil eine Ordnung erzwungener wirtschaftlicher Gleichheit infolge mangelnden Anreizes für die unternehmerische Tätigkeit wesentlich weniger materiellen Wohlstand erzeugen würde. Die Frage bleibt natürlich offen, wie wir erkennen können, ob wir in einer Ordnung der „gerechtfertigten“ oder der „ungerechtfertigten“ Ungleichheit zu leben. Ideologisch geprägte Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft bestimmter Standpunkte in der öffentlichen Meinung sind hier wohl unvermeidlich. Reine interessenfreie Wahrheit ist auf diesem Gebiet nicht zu erwarten.
Zurück
zu Tara, dem Wesen „erwachter“ menschlicher Wirksamkeit: In diesem Falle wurden
[eine bestimmte Art von] Zuversicht und Hilfsbereitschaft propagiert. Das
heißt also, wenn man Ethisierungsvariante in der Deutung bevorzugt, dass
gegenteilige Verhaltensweisen mit dem Gesichtspunkt der harmonisierten
Wechselseitigkeit nicht in Einklang zu bringen wären. Ein Mangel an Zuversicht
in Bezug auf die zu realisierende Wechselseitigkeit wäre natürlich eine
Blockade dieser Wechselseitigkeit, eine Verweigerung der Berücksichtigung
anderer [Beteiligter und Betroffener] in unseren Verhaltensweisen ebenso bzw.
erst recht. Es geht hier nicht um Verausgabung durch Hilfsbereitschaft,
„Helfersyndrom“ u. dgl., sondern nur darum, dass wir in Konflikt mit dem Reziprozitätsgedanken geraten würden, wenn wir bestimmte
Dinge prinzipiell verweigern wollten. Im Falle der Tara-Werte
geht es um die Ablehnung prinzipieller Blockaden [der prinzipiell gleichen
Freiheit aller] und um die Öffnung für ein „soviel als möglich“ in bestimmten
Dingen. Derart kommt es zu dem Gebot einer „weiten“ Verbindlichkeit: „Tu so
viel in diesen Dingen, wie du kannst!“ Über das Können hinaus aber kann
niemand zu etwas verpflichtet sein. [Ultra posse nemo obligatur.]
Tara-Geist bestünde nach moralphilosophischer Deutung in dem Bewusstsein der
Fähigkeit zu einer Verhaltensweise unter der Norm moralischer
Wechselseitigkeit. Und in der Folge in dem Bewusstsein der Erlösbarkeit
von einer bestimmten Art selbst geschaffenen Unheils.
Existiert
Tara? – Man kann sagen: hier existiert etwas in der Seinsweise einer
hypothetischen Potentialität. Wenn wir so und so denken und handeln würden,
würden wir eine bestimmte Art von Problemen vermeiden. Über diesen Zusammenhang
denken wir nach und sprechen davon. Da wir nun, der Wahrheit gemäß, von etwas
sprechen, und nicht von nichts sprechen, können wir die Existenzaussage
bejahen. Also: Tara existiert. Obwohl uns die Erfahrung lehrt, dass wir die „eigentliche“
Moral mehr oder weniger schon immer sabotiert haben mit unserem dezidierten Willen
zu moralischer Unvollkommenheit, vermögen wir auf das utopische Potential des
allgemeinen Reziprozitätsgedankens zu reflektieren.
Davon kann man reden, damit kann man zu handeln versuchen. Dieser oft nur
konjunktivisch und kontrafaktisch sich zeigende
Gedankeninhalt ist Bewusstsein „von etwas“. Von einem Gestaltungspotential
bezüglich der Wirklichkeit und damit selbst einer Wirklichkeit. Derart
existiert Tara.
Selbstverständlich
kann man auch umgekehrt behaupten: Tara existiert nicht. Eine physikalische
Nachweisbarkeit wird man nicht beanspruchen wollen. Tara ist keine
naturwissenschaftlich nachweisbare oder messbare Größe. Eventuell nicht einmal
eine psychologische. Auch keine soziologische. „Die Verhältnisse, sie sind
nicht so“, dichtete Brecht. Das alles kann man zugeben. Der Tara-Gesichtspunkt
ist normativ im Sinne einer zu entwickelnden „eigentlichen“ Moral, welche
sich in der Ablegung „unheilsamer“ Denkungs- und Verhaltensprägungen üben
möchte. Insofern muss man die Existenz von Tara-Geist
im tatsächlichen Kräftespiel der Realitäten nicht nachweisen können. Die
Annahme dieses Geistes wird zur self fullfilling prophecy. Sie gehört
in den Umkreis des selbstsuggestiven Umgangs mit sich selbst. Die Existenzannahme
bezüglich des Tara-Geistes liegt vielmehr in den
Voraussetzungen, die man für eine bestimmte Art von Reflexionen in Anspruch
nimmt.
Noch
ein Wort zur weiblichen Gestalt des Tara-Symbols. Die
weibliche Gestalt liegt für ein Symbol mitmenschlicher Förderung deshalb nahe,
weil Frauen ihren Kindern gegenüber oft besonders eindringliche Beispiele
intensiver und beständiger Zuneigung bieten. Die Mutterliebe ist, einem
Gedanken E. Fromms zufolge, die zuverlässigste Form menschlich fördernder
Liebe, im Gegensatz zur erotischen, welche oft unstet und trügerisch ist. Es
soll hier nicht behauptet werden, dass die Natur im weiblichen Organismus nicht
selbst erhebliche Beiträge leisten würde, die Frauen zu besonderer Motivation
für den Nachwuchs zu disponieren. Sie bringt mit Sicherheit Stimmungen und
Gefühle gegenüber dem zunächst so hilflosen Nachwuchs hervor, welche wir nicht
ganz ohne weiteres einer Motivation aus reiner Moral zurechnen können.
Trotzdem ist der Hinweis auf die weibliche Fürsorge für den noch nicht zu Bewusstsein
erwachten Nachwuchs ein geeignetes Mittel, den Tara-Geist
mitmenschlich fördernder Fürsorge symbolisch-sinnlich darzustellen.
Es
ist zu bemerken, dass die Lichtwesen des Mahayana-Buddhismus
oft auch männliche Wesen sind, z. B. Avalokiteshvara,
„Herr des erleuchteten Mitleids“, der mit Tara eng verwandt ist. Die oft
androgynen Züge dieser Wesen, auch wenn sie männlich sind, erklären sich m. E.
durch die Auffassung, dass „vollständig verwirklichte“ Menschen, wenn es sie
gäbe, trotz ausgeprägter biologischer Geschlechtsmerkmale, männliche und
weibliche Züge in ihrem psychologisch-geistigen Wesen integriert haben. Das ist
vielleicht der Gesichtspunkt, unter dem die androgyne Darstellung als geeignet
erscheinen kann. – Tara selbst allerdings ist eindeutig weiblich und kein
Mischwesen. – Für den tibetischen Buddhismus resultiert die Bevorzugung des
androgynen Gestaltungsmittels möglicherweise aus Relikten der Naturreligion „Bön“. In Naturreligionen finden wir oft die Vorstellung
einer Einheit der Gegensätze und Unterschiede, speziell einer Einheit des
Männlichen und Weiblichen. Einseitiges Männlich- oder Weiblichsein gilt hier
als Zustand eingeschränkter oder blockierter Energie.
Von hier aus ergeben sich Assoziationen von Sexualmystik und Sexualmagie, die ich nicht vertiefen, aber doch erwähnen möchte. Es gibt den tantrischen Aspekt der Transformation „lebendiger Energien“ in „Erleuchtungsgeist“. – Ob das Bön oder Buddha ist, wage ich nicht zu entscheiden, jedenfalls übertrifft es europäisches Mittelmaß. Die sexuelle Liebesvereinigung von Frau und Mann wird hier als sakraler Akt der Vereinigung und Harmonisierung von Gegensätzen angesehen. – Hier bleibt natürlich die Frage offen, ob es uns möglich ist, unsere Sexualbetätigung derart zu zelebrieren, dass Ungeduld und würdelose Hast vermieden werden.
Um zu keinem Missverständnis Anlass zu geben: nicht nur europäisches, sondern auch asiatisches Mittelmaß wird hier überboten. Es ist mir bewusst, dass alle „Weltreligionen“, auch Buddhismus und Hinduismus, in ihren Traditionen erhebliche Phasen von Sexual- und Körperfeindschaft hervorgebracht haben. Die Motive dafür sind mir verständlich. Man sollte sie nicht allzu leichtfertig disqualifizieren. Erstmals in unserer Zeit verfügt man über alltagstaugliche empfängnisverhütende Mittel, welche eine willentliche Geburtenplanung möglich machen, bzw. stark erleichtern. Für unzählige Generationen aber vor unserer Zeit bedeutete die Bejahung der Sexualität fast zwangsläufig die ungeplant wachsende Verantwortung für eine rasch wachsende Kinderschar. – „Duxi uxorem, nati filii, aliae curae“, dichtete man treffend in Rom [Terenz] - Verantwortung und unabsehbare Folgeverpflichtungen machen das Thema so schwierig. Da es keine Verantwortung gibt, sich mit Verantwortung zu beladen und sich dabei eventuell zu übernehmen, verwundert es mich nicht, dass man auf den Gedanken verfiel, die Sexualität als ein Hindernis auf dem Weg zu „Freiheit“ und „innerer Unabhängigkeit“ anzusehen.
Andererseits ist im Zuge erdrückender psychologischer Betrachtungen klar geworden, dass fast niemand von uns dem Sex abschwören kann, ohne psychisch Schaden dabei zu nehmen. Wenn uns die Integration dieses Teils unserer Natur [in eine alltagstaugliche Lebensform] nicht gelingt, dann werden wir weder „frei“ und „innerlich unabhängig“ sein. Der Kampf gegen die Versuchung wird „Gegenstand unseres ernstlichen Bemühens“, wie es bei Hegel heißt, der offenbar ebenfalls über dieses Thema intensiv nachgedacht hat. Dieser Kampf bringt keine freien und unabhängigen Menschen hervor, sondern verkrampfte Menschen mit Versuchungsängsten und Schuldkomplexen. Deshalb sehe ich in dem Thema „erotisches Bedürfnis und Sex“ m. E. ein tiefgründiges ambivalentes Phänomen des menschlichen Lebens, für das es nicht leicht ein stimmiges Rezept geben kann. Klar ist, dass wir nach einer Integration und Harmonisierung von Natur und Freiheit streben müssen. Was das aber im Einzelnen [für eine akzeptable Sexualmoral] heißt und heißen kann, fällt uns nicht leicht zu sagen. Wir verstricken uns fast zwangsläufig in Widersprüche, wenn wir hier einen allgemeingültigen Standpunkt einnehmen und propagieren wollten. Endgültige Antworten für alle Zeiten kann es hier nicht geben, bzw. etwas genauer: Wenn es solche Antworten gibt, dann gibt es sie nur auf einer abstrakten Ebene von hoher Allgemeingültigkeit.
Ich halte es für leicht nachvollziehbar, dass der Sex den Menschen in vielen Kulturepochen gleichermaßen fasziniert und beängstigt hat. Als Quelle der Lust und des Lebens fasziniert er uns, als Quelle unabsehbarer Entwicklungen und Folgeverpflichtungen beunruhigt und beängstigt er uns. Ein heiterer, zur Milde gereifter Geist wird sich vor deftigen Zoten und hohen idealistischen Wertvorstellungen gleichermaßen hüten, weil er der Schwierigkeit der Sache bewusst bleibt.
Ich
betone, dass nach meiner Auffassung der normative Inhalt des moralischen Kernbewusstseins
in keinem Sonderverhältnis zu einem bestimmten biologischen Geschlecht steht.
Die Annahme geschlechtsspezifischer Grade an Erleuchtungsfähigkeit und
Moralität halte ich für ein abwegiges Erzeugnis des „unheilsamen“
Geschlechterkampfes. Auch in Fragen des Geschlechterverhältnisses stehen wir
unter der Forderung moralischer Reziprozität. Es gibt also durchaus der
Perspektive einer Harmonie der Geschlechter, obwohl besonders auf diesem Gebiet
die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit groß ist. Anders ausgedrückt, um
den Gedanken nicht weitläufig zu verfolgen: Jeder von uns kann in der Reihe der
Wiedergeburten in die Lage kommen, in der Relation zu jedem anderen Vater,
Mutter, Sohn oder Tochter zu sein. Also gilt auch hier: „Was du nicht willst,
das man dir tu!“
An
dieser Stelle noch eine Bemerkung zur Erleuchtungsmetapher. Im Sonnenlicht des
Tages werden Dinge sichtbar, die man in der Dunkelheit nicht sehen kann. Im
Lichte des erwachten Bewusstseins, also durch Bewusstsein selbst, werden wir
auf Dinge aufmerksam, die wir ohne Bewusstsein nicht bemerken würden.
„Bewusstsein“ ersetze ich nun durch „Aufmerksamkeit“. Was steht im Licht des
[erwachten] Tara-Bewusstseins, welcher Sache gilt die
Tara-Aufmerksamkeit? - Der Befähigung zu einer Denk-
und Handlungsweise bestimmter Art. Einer Denk- und Handlungsweise aus dem
Bewusstsein normativer Reziprozität, d.i. aus dem erwachten Wissen um die
normative Gültigkeit der Goldenen Regel. Dieser schlummernden Fähigkeit gilt
unsere Aufmerksamkeit, bzw. sie ist der Aufmerksamkeit würdig und fähig. Sie
vermag sich durch Übung und Aufmerksamkeit selbst zu verstärken. Das kann man
eine „Kultur“ des höheren Selbst nennen. Sie betrifft „Tara in uns selbst“. Es
ist „geistige Energie“, die sich in der tatsächlichen Daseinsrunde zu
„manifestieren“ vermag, selbst geschaffene Not mehr und mehr überwindend. Das
ist buddhistische „Soteriologie“ [Erlösungslehre, von
griech. soter, Retter, Heiland].
Wir
haben die Metapher der Erleuchtung in der aktivischen und in der passivischen Form: erleuchtend und erleuchtet. Das
erleuchtete Bewusstsein wird erleuchtet durch ein [erleuchtendes] Bewusstsein.
Die Aufmerksamkeit gilt dem menschlichen Potential einer spezifisch
menschlichen, an Bewusstsein gebundenen Wirkungsweise. Das ist Richtung und
Ziel der „Energie“entfaltung Taras.
Tara ist ein heiliges und „frommes“ Wesen, das potentialiter
in unserem Bewusstsein wohnt. Es handelt sich um den [verhaltenen] „Aufruf“
zur „Verwirklichung“ des höheren Selbst, mit dem wir umgehen lernen müssen,
weil es ein Teil der menschlichen „Natur“ ist. - Ähnlich wie die
Erleuchtungsmetapher kann man eine „Erweckungs“-
bzw. „Erwachungs“-Metaphorik verwenden. Das
erwachende Bewusstsein erwacht mehr und mehr zum erwachten Bewusstsein
[normativer Reziprozität]. Unser tatsächliches Tun kann mehr und mehr unter
dem normativen Aspekt modifiziert werden
Im
Grunde genommen ist die Rede vom erwachten Bewusstsein ein Pleonasmus. Man
könnte höchstens sagen, noch nicht erwacht, aber trotzdem bewusst, sei das
Bewusstsein der ethischen Norm, indem es „verdeckt“, „implizit“, mit
Bewusstsein von anderem „verwickelt“ bewusst sei. Dies kann auch geschehen,
indem ich „bewusst“ und „nicht abgelenkt“ bin, aber in Bezug auf andere,
weniger „wichtige“ Inhalte.
Im Christentum finden wir ein „kompliziertes“ Lehrstück namens Christologie. Es betrifft die Auffassung der Person Christi. War er ein „normaler“ Mensch, oder war er Gott selbst in Menschengestalt? Das ist das Thema „subtiler“ Diskussionen und Entscheidungen gewesen. Im Buddhismus finden wir [sonderbarer Weise] analog eine „Buddhologie“, welche das „reine Buddhawesen“ bzw. die „Buddhanatur“ des historischen Buddhas betrifft, obwohl dieser Buddha kein Gott, sondern „nur“ eine überdurchschnittliche Person war. Setzen wir Tara in’s Zentrum unserer Betrachtung, so wird uns eine Tarologie entstehen, welche am Wesen des Tara-Geistes [im Unterschied zur symbolischen Darstellung] ihren Ansatz findet. Der „Sache“ nach ist der Tara-Geist mit dem Buddha-Geist, eventuell auch mit dem Christus-Geist identisch. Ich überlasse es dem Leser, auf „wesentliche Unterschiede“ zu sinnen.
Darf
man zu Tara beten? - Das ist eine der Abschlussfragen dieses Essays. Hier
möchte ich „diplomatisch“ und hypothetisch antworten, weil wir wieder dabei
sind, in’s Weitläufige zu geraten. Wenn man z. B.
kein Anhänger eines strikten Bilderverbots ist und auch z. B. ein Gebet an St.
Maria oder St. Martin für „fromm“ hält, dann kann man auch Gebete an den Erleuchtungsgeist
Tara richten. Es muss ja nicht so sein, wie es in manchen Polemiken gegen
angeblichen Götzenkult unterstellt wird, dass man eine Statue oder ein Symbol
für „die Sache selbst“ hält. Die Reflexion auf Tara als Erleuchtungsgeist zielt
auf ein unsichtbares geistiges Wesen, von dem her wir eine mitmenschliche
„Praxis“ üben können [könnten]. Wer darum betet, dass ihm der Denk- und
Handlungsgeist Taras zuteil werde, der ja darin
besteht, dem normativen Reziprozitätsgedanken
zuversichtlich nachzugehen, der kann dadurch nichts Verwerfliches tun. Es ist
ein genauso „frommes“ [bzw. „unfrommes“] Tun wie die Anbetung von z. B. St.
Maria oder St. Martin. Auch zu ihnen kann man mit unlauterem Motiv beten. Wenn
es uns also gelingt, die Gefahren der allzu frommen Scheinheiligkeit zu
vermeiden, kann es keinen Einwand geben. Ob dieses Kriterium erfüllt wurde,
können wir in keinem gegebenen Fall wissen. Von vornherein ausschließen kann
man es aber auch nicht. Das wäre ein übertriebener Mangel an „Zuversicht“.
Das
Beten wird in der vorgetragenen Version zu einer erlaubten, bzw. sogar
„frommen“ Form der Selbstbeeinflussung. Man kann darüber spotten: „Besser als
der gute Wille, hilft oft eine gute Pille“, dichtete W. Busch. Obwohl ich W.
Busch sehr schätze, betone ich an dieser Stelle, dass es „Probleme“ gibt, wo
das „selbstsuggestive“ Verfahren das Mittel der Wahl darstellt.
Man
könnte nun meinen, das Beten sei nur als Beten zu Gott legitim. Und Gott habe
man bei der Anrufung Marias oder Martins notwendiger Weise mit im Sinne. Ich
gebe zu, dass es einen Unterschied machen könnte, zu Gott selbst anstatt
„lediglich“ zu Maria, Martin, Tara oder einem höheren Selbst zu beten. Dabei
aber sollten wir uns darauf besinnen, dass vermutlich niemand von uns weiß,
wer Gott ist und ob er existiert. Ich denke, dass wir das nicht wissen können.
Für dieses Nicht-Wissen-können möchte ich [an anderer
Stelle] ebenfalls „Evidenz“ beanspruchen, wenn auch nicht die Evidenz des
ethischen Normbewusstseins, sondern eine „theoretische“ Evidenz. Dazu setze ich
nun die [ethisch-moralische] Evidenz für den allgemeinen Reziprozitäts-Gedanken.
Die Frage ist nun, ob es bei dieser „Sachlage“ [der Evidenzen] noch einen Sinn
macht, ein „selbstsuggestives Beten“ von einem Beten zu einem unbekannten
hypothetischen Du zu unterscheiden. – Wenn wir zu Gott selbst beten, dann jedenfalls
zum unbekannten und unerweislichen Gott, an den wir glauben können, ohne von
ihm etwas zu wissen.
Wer
ist das Subjekt dieses Bewusstseins? Das geistig Innere des menschlichen
Bewusstseins, die Bewusstseinsfähigkeit selbst bezüglich dieser gebotenen
Denkungs- und Handlungsweise. Was oder wer aber ist mein geistiges Inneres,
unabhängig von meiner Willkür, meiner Lust und meiner Laune, die das
Bewusstsein meiner selbst und meiner Befähigung zu bestimmten Denk- und
Handlungsweisen trüben und einschränken könnten? Es ist offenbar der reine Tara-Geist selbst, der sich derart inne
wird. Tara ist ein zu Bewusstsein seiner selbst befähigtes Bewusstsein,
ein potentiell selbstbewusster Handlungsgeist. Eine Substanz [vorausgesetzte
Grundlage] als Subjekt [tätiges Bewusstsein]. – Dies als Anspielung auf Hegels
Lehre von Substanz und Subjekt.
Aus
der Nacht der Selbstvergessenheit dämmern wir sozusagen dem Tag des Bewussteins
entgegen.
Zum
Schluss noch einige Worte zu „universeller Dependenz“ und „allgemeiner normativer
Reziprozität“. Wir „übersehen“ [im Sinne eines Mangels an Aufmerksamkeit] nicht
nur den ethisch-moralischen Imperativ allgemeiner Reziprozität [in diesem oder
jenem Falle, wo etwas „eigentlich“ geboten wäre], sondern auch die faktische
Interdependenz der Lebewesen und sogar des arbeitsteiligen
Gesellschaftsprozesses, der unsere wirtschaftliche Existenzgrundlage bildet. –
Man könnte auch sagen: wirtschaftliche „Substanz“. - Fortlaufend ereignen sich
unsere Versuche, uns persönliche Verdienste und Leistungen anzueignen, die nur
aufgrund allgemeinerer Abhängigkeiten zustande kommen konnten. Umgekehrt
erkennen wir bei Misserfolgen und verursachtem Schaden äußere Gründe, die uns
entschuldigen. Persönliche Leistung soll sich also lohnen, den Schaden, den
wir anrichten, suchen wir zur anonymen Allgemeinheit hin zu externalisieren.
Dass dies moralisch gesehen nicht einwandfrei ist, wird hier vorausgesetzt,
zumindest besteht eine Schieflage bzw. ein Missverhältnis.
Buddhisten,
jenseits aller Schulunterschiede, meditieren nun auf die „gegenseitig abhängige
Natur aller Phänomene.“ Die fehlerhafte Wahrnehmung dieser Abhängigkeiten sei
ein Merkmal des „verblendeten“ Lebens. Ich möchte dem nicht widersprechen,
aber etwas ergänzen. Erst die ethische Dimension des All-Eins-Bewusstseins
setzt uns in ein Verhältnis prinzipieller und universeller Reziprozität.
Ersetzt man den Gedanken normativer Reziprozität einfach das Motiv sehr
weitgehender Abhängigkeit [z. B. in der globalisierten Wirtschaftswelt] könnte
man immer noch auf den Gedanken kommen, dass man sich bestimmte reziproke
Notlagen durch Vorsorge und Sicherheitsvorkehrungen ersparen könnte. Z. B.
durch Aufbau entsprechender Machtmittel. [Das Macbeth-Thema.] Erfahrung, dass
man sich dabei meistens überschätzt, beweisen nicht, dass es nicht doch
„funktionieren“ könnte. Ähnlich ist das Motiv des perfekten Verbrechens. –
Gerade deshalb ja die Gedanken vielfacher Verkörperungen zu allen möglichen
Zeiten an allen möglichen Orten.
Der
Grundgedanke ist also nicht die Tatsache universeller Interdependenz, dass also
alles mit allem zusammen hängt, sondern der normative Gedanke universeller
Reziprozität, dass ich also mit meinem Handeln Standards setze für das, was
auch andern mir gegenüber gerechtfertigt erscheinen könnte. In diesem Sinne
haben wir ein berechtigtes Motiv zu einer Mystik des Ein und Alles.
Man
kann reflektieren auf das Verhältnis von empirischem, subjektiven Ich und
höherem Ich-Selbst. Wer bin ich, unabhängig von meiner Willkür. Lust und Laune?
Nicht-empirisches, denkendes Subjekt, zu einer Handlungsweise bestimmt, welche
die Freiheit anderer im Blick behält wie die eigene auch. Man kann nun sagen:
Mein subjektives Bewusstsein ist der Erhebung zum Selbstbewusstsein zu dieser
Handlungsweise fähig. Das wäre „mein“ Innewerden des Tara-Geistes,
also „innerhalb“ meines persönlichen, subjektiven Denkens. Umgekehrt kann man
aber auch sagen: In der Fähigkeit, meine Willkür, Lust und Laune auf den Prüfstand
zu stellen, bin ich der Tara-Geist selbst. Also wird
dieser Geist „in“ meinem subjektiven Bewusstsein sich seiner selbst inne.
Das,
dem ich in anderen Personen Achtung und Rücksicht zolle, ist wiederum der
potentielle Handlungsgeist Taras. – Die Annahme des
höheren Selbst gleichermaßen in andern wie mir selbst, mit der damit
verbundenen inneren Qualität der Freiheit, ist es, was mich wahrhaft „verpflichtet“
im Sinne einer „eigentlichen“ Moral.
Der
Tarageist wird sich selbst „in“ meinem subjektiven
Bewusstsein inne. In anderen erkennt er sich dann wieder.
Das
Tara-Symbol verkörpert das „spirituelle“ Geheimnis
des menschlichen Daseins. Ein Geheimnis besteht hier insofern, als das reine
Ich kein empirisch Gegebenes darstellt, weder ein empirisch subjektives noch
ein empirisch objektives. Es ist „geistiger Kern“. Es handelt sich um ein
nicht-empirisches Bewusstseinszentrum [bezüglich von Bewusstseinsinhalten
aller Art], das wir voraussetzen, nicht aber auf „Gegebenes“ zurückzuführen
vermögen. – Im Falle der „moralischen Anlage“ handelt es sich sogar um eine
Disposition zur eine spezifischen Ausformung unserer
tatsächlichen Verhaltensweisen, mit denen wir wechselseitig wirken, uns etwas
zumuten und uns „etwas antun“. – Das Geheimnis „ist“ auf die Weise der
nicht-empirischen Voraussetzung eines „Vermögens“ oder einer „Befähigung“.
Dieser „Geist“ kommt „aus der Höhe“ und zeigt sich doch als Voraussetzung von
mancherlei Reflexion. Warum „aus der Höhe“? – Ein Gedanke von so
außerordentlicher Allgemeingültigkeit kann in seiner Gültigkeit nicht aus
Einzelbeobachtungen hergeleitet werden. Noch dazu ein Gedanke von normativer
und nicht natürlich faktischer Gültigkeit. Es geht hier um eine Regel des
Sollens, nicht des faktischen Seins. Denkbarkeiten sind beides, Sein und
Sollen, aber verschiedener Art.
Es
ist eine bemerkenswerte sprachliche und begriffliche „Tatsache“ [des Redens und
Denkens], dass die „normative Gültigkeit“ einer Regel mit der empirischen
Feststellung ihrer faktischen Nicht-Beachtung zusammen bestehen kann. – Obwohl
ein solches Zusammenbestehen impliziert, dass „etwas nicht in Ordnung ist“. Es
ist dann „etwas der Fall“, was nicht der Fall sein „sollte“. Es wäre „besser“,
wenn „es“ anders wäre. - Wenn wir zu Recht annehmen, dass „es“ so und so sein
sollte, dann führt kein gültiger Schluss zu der Tatsache, dass „es“ wirklich so
ist. Und umgekehrt: Wenn wir annehmen, dass diese oder jene Verhaltensweisen
feststellbar üblich sind, dann führt kein Schluss zu der Behauptung, dass all
dies so sein sollte, wie es ist. Das ist eine Diskrepanz zwischen zweierlei
Arten des Denkens. Einer normativen, „wert“bezogenen
Art, die sich ausrichtet auf normative Verhaltensbestimmung [durch den
„Willen“], und einer betrachtend, empirisch [eventuell auch a priori]
feststellenden Art. Das ist Kants Unterscheidung von „praktischem“ und
„theoretischem“ „Vernunftgebrauch“.
Im
alltäglichen Sprachgebrauch vermischen wir Werturteile und faktische Feststellungen.
Unsere Äußerungen beinhalten in oft unzureichender Unterscheidung gleichermaßen
faktische Feststellungen und wertende Stellungsnahmen. Faktenbehauptungen
aufgrund von dem, was wir sehend und hörend wahrnehmen, einerseits und wertende
Beurteilungen andererseits vermischen sich zu einer schwer analysierbaren
Mixtur. Dabei erfolgen wertende Stellungsnahmen nur in seltenen Fällen „rein
moralisch“ aufgrund der normativen Gültigkeit der Goldenen Regel [und ihrer
Anwendung auf den „gegebenen“ Fall einer zu tätigenden Verhaltensweise.]. Es
gibt nämlich eine Menge anderer wertender Stellungsnahmen im Hinblick auf ganz
verschiedene Arten von Zweckmäßigkeit, Üblichkeit, Priorität und auch
ästhetischem Anspruch. Wertende Stellungsnahmen können sogar rein konventionell
sein, völlig losgelöst von der normativen Gültigkeit der Goldenen Regel. Es ist
allerdings fast unmöglich, ein unverfängliches Beispiel für eine Gepflogenheit
zu finden, die niemand mit „höheren“ Ansprüchen verbindet. Essensgewohnheiten,
Schlafzeiten, der Wechsel von Arbeits- und Erholungszeiten, Kleidungsfragen,
Ausdrucksweisen usw., all dies wurde mehr oder weniger mit normierenden
Moralansprüchen verbunden. Was für den einen gleichgültig ist, ist für andere
vielleicht eine Frage von höchster Wichtigkeit. Was für den einen eine Sache
des freien Beliebens ist, kann für den andern eine Sache von hoher moralischer
Brisanz sein.
Über
den Unterschied der Sprachausdrücke „feststellen“ und „beurteilen“ allein lässt
sich der Unterschied zwischen tatsachenbezogener Aussage und wertender
Stellungsnahme allein nicht „dingfest“ bzw. „begriffsfest“ machen. Wir können
von der „Feststellung“ reden, dass Menschen „Rechte“ und „Pflichten“ haben,
„moralisch-rechtliche“ Handlungsträger „sind“, und dennoch bedeutet dass
vielleicht dasselbe, wie den „Sachverhalt“, dass wir alle unter einem Anspruch
der normativen Gültigkeit der gleichen Freiheit aller stehen. Umgekehrt ist
eine „Beurteilung“ in vielen Fällen nicht moralisch wertend, weil die
vergleichende Feststellung verschiedener Sachverhalte auch „Beurteilung“
genannt werden kann. Hauptquelle möglicher Missverständnisse in solchen
Betrachtungen [Reflexionen] dürfte aber die Tatsache sein, dass wir anhand von konventionellen
Maßstäben etwas bewerten können, wobei man die Berufung auf die Existenz der
Konvention als „Fakt“ tatsächlich üblicher Verhaltensweisen interpretieren
kann. Damit verlieren wir die Art der „Normativität“ unserer „Moralregel“ bzw.
„Sittenregel“ aus dem Blick.
Menschliches
Verhalten ist auf vielfältige Weise reguliert und überreguliert. Jeder einzelne
von uns sieht sich einer Vielfalt von Ansprüchen an sein Denk- und
Verhaltensweisen unterworfen. Das moralische Normbewusstsein eines bestimmten
Menschen kann weitgehend konventionell geformt sein. Der Mensch hat sich in
diesem Falle Denk- und Verhaltensweisen, die er an andern vorgefunden oder
interpretierend erschlossen hat, mehr oder weniger bewusst zueigen gemacht. Mit
erwachendem Bewusstsein erhebt sich nun mehr und mehr die Frage, welche Denk-
und Verhaltensweisen, Gewichtungen und Präferenzen man sich zueigen machen
sollte. Welche dieser „Modi“ können der Rückfrage nach Rechtfertigung und Verantwortung
standhalten? Dies ist die Frage nach der „eigentlichen“ Moral und dem „wahrhaften“
Sollen.
Ein
Schraubengewinde wird „normiert“ durch Länge, Dicke, Anzahl der Windungen pro
Maßeinheit, Rechts- oder Linksdrehung. Eine Schraube, die einer solchen Norm
nicht genügt, wird in vielen Fällen nicht passen. Das Interesse an „Passformen“
hat diese Art von Normierungen hervorgebracht. Der Fall der „Normierung“
unseres Verhaltens durch die „Norm“ einer „eigentlichen“ Moral ist anders.
Die
„Norm“ der „eigentlichen“ Moral gründet nicht in faktischen Gepflogenheiten.
Ich nehme zwar an, dass sich in jeglichem alltäglichen Mit- und Gegeneinander
von Menschen Regeln, Gepflogenheiten und Üblichkeiten des jeweiligen Lebens
herausbilden werden. Auch Ungleichheiten, Machtpositionen, Phänomene der
sozialen Kontrolle, Überzeugungen über gut und böse, anständig und unanständig
usw. werden sich „naturwüchsig“, bzw. zwangsläufig und wie von selbst
herausbilden. – In den tatsächlichen Gepflogenheiten einer Gesellschaft kommen
auch Überzeugungen bezüglich „gut“, „böse“, „erlaubt“, „unerlaubt“,
„anständig“, „unanständig“ usw. „zum Ausdruck“. Die Art aber der Entstehung im
allgemeinen [sozial-psychologischen] Wechselspiel der Menschen überhebt alle
diese Regeln und Verhaltensphänomene aber nicht der Frage, ob sie die
gemeinsame Freiheit aller gestatten, behindern oder verhindern. Das entstandene
Regelwerk selbst wird daran gemessen, ob es der faktisch eventuell
[erfahrungsgemäß wahrscheinlich] niemals realisierten Regel der gemeinsamen
Freiheit aller dient. Ein Gedanke wird hier zum Richtmaß der Wirklichkeit,
nicht umgekehrt, wie wir es sonst in der Erfahrungswissenschaft gewohnt sind,
die Wirklichkeit zum Richtmaß des Gedankens.
Kant
nennt sein „Sittengesetz“ „objektiv“, „allgemeingültig“ und auch „a priori gültig“.
Es ist ein Gedankeninhalt rein normativer Art, „lediglich“ bzw. „immerhin“ ein
„reines Sollen“. Es begründet sich nicht naturalistisch, sondern auf eine ganz
eigene Art. Man wird sich seiner Gültigkeit als eines Vorausgesetztseins
in der Reflexion bewusst. – Die Reflexion erkennt eine Voraussetzung ihrer
selbst sozusagen als „präreflexiv“.
Denke
ich darüber nach, was wohl der Inhalt einer „eigentlichen“ Verpflichtung sein
könnte, dann fällt mir auf, dass von vornherein nicht mehr oder weniger zu fordern
ist, als die Harmonisierung der Freiheitsspielräume aller Beteiligten in
allen entstehenden Situationen. Es soll ein bestimmter Gesichtspunkt
berücksichtigt werden für alle Beteiligten bezüglich aller Situationen. Zwei
Arten von Allgemeinheit haben wir also anzusetzen.
Besondere
Rechte und besondere Pflichten bedürfen der besonderen Begründung, ohne Begründung
vorausgesetzt wird aber der Anspruch einer allgemeingültigen und unbedingten
Normativität. – Es wird vorausgesetzt, dass es überhaupt etwas im Modus des
unbedingten Gebotenseins Gebotenes gibt. - Das „für alle“, sowie die
nicht-hypothetische [und insofern „unbedingt“] Art des Geltungsanspruchs zieht
den Anspruch der prinzipiell gleichen Freiheit aller nach sich, denn wie
sollten sich von vornherein besondere Verpflichtungen und besondere Berechtigungen
für einzelne begründen lassen? Besondere Rechte und Pflichten, wenn sie als gerechtfertigt
hingestellt werden sollen, erfordern die Begründung von Ausnahmen der allgemeinen
Gleichheit. Indem wir dies annehmen, haben wir den Gesichtpunkt der allgemeinen
Freiheit in seiner Normativität bereits anerkannt. Nachher können wir aus
irgendwelchen Gründen sagen: „Eines schickt sich nicht für alle.“ Aber wenn wir
es schon von vornherein sagen, geben wir mit der prinzipiellen Anerkennung des
anderen auch den Gültigkeitsanspruch eines wahrhaft verbindlichen Sollens auf.
Warum
kann eine Erörterung der Frage, ob und inwiefern inhaltlich bestimmte, anzunehmende
Verhaltensweisen aus dem Geist der Goldenen Regel folgen, „Metaphysik der
Sitten“ heißen?
Der
Gesichtpunkt der prinzipiell gleichen Freiheit aller ist normativ und
nicht-empirisch zugleich. – Nicht-hypothetische Normativität, wenn wir so
etwas annehmen wollen, erfordert eine Rechtfertigung durch Erkenntnis a priori,
weil „lediglich“ empirische Erkenntnis kein Argument liefert, dass es nicht
auch anders sein könnte. Auf „lediglich“ empirische Gültigkeiten kann also
kein kategorisches Sollen gegründet werden. - Die nicht-empirische Art der Gültigkeit
wird hier nun den Gebrauch des Ausdrucks „metaphysisch“ in Anspruch genommen.
In diesem Fall haben wir ein normatives Apriori.
Man
kann dieses Apriori auch als „transzendental“
ansehen. Das widerspricht nicht seiner metaphysischen, nicht-empirischen
Gültigkeit, sondern bringt nur einen ergänzenden Aspekt zur Geltung.
„Transzendental“ heißt eine Erkenntnis, welche die „Erkenntnisart a priori“ betrifft.
Inwiefern haben wir bei der Frage nach der wahrhaft verbindlichen Pflicht eine Frage nach „der Möglichkeit von Erkenntnissen a priori“
im Spiel?
Die
Frage nach der ethisch-normativen Wahrheit gliedert sich hauptsächlich in zwei
Punkte. Der erste betrifft die Denkbarkeit bzw. den Denkinhalt einer
allgemeinverbindlichen Wertvorstellung ethischer Art, der zweite betrifft die
Gültigkeit bzw. Wahrheit eines solchen Denk- oder Aussageinhalts.
Ein
Denkinhalt, für sich selbst genommen, ist ein Aussageprädikat, erst mit seiner
Anwendung auf einen zu klassifizierenden Gegenstand erhebt sich eine Wahrheitsfrage.
– Im ethischen Fall ist der zu klassifizierende „Gegenstand“ eine ethisch zu
bewertende und [verhaltensmäßig] „anzunehmende“
Verhaltensweise. Nur für Verhaltensweisen, welche natürlicher Weise nicht
determiniert bzw. nicht „nezessitiert“ sind, besteht
die Möglichkeit einer Modifikation durch den „angenommenen“, bzw. vielleicht
sogar selbst erzeugten Gedankeninhalt des rationalen Gebotenseins. Es geht aber
nicht um die Frage, wer einen Gedankeninhalt erzeugt bzw. „erfunden“ hat,
sondern um die Art [Modus] seiner Gültigkeit.
Ein
Denkinhalt kann festgesetzt oder einfach propagiert werden, seine „Existenz“
betrifft keine Wahrheitsfrage. Bei Denkinhalten [Begriffen] ist lediglich die
Frage, welchen Inhalt sie haben, bzw. oft auch, ob sie einen Inhalt haben. Oft
werden Begriffe aus der beobachtenden Erfahrung abstrahiert und haben insofern
einen empirischen Inhalt. Eventuell sind begriffliche Denkinhalte tatsächlich „gegebene“
Denkinhalte und entsprechen gängigen Denk- und Vorstellungsweisen. In Fall
des „gegebenen“ Denkinhalts gibt es einen allgemein verbreiteten
Sprachgebrauch, welcher den entsprechenden Denkinhalt zur Darstellung bringt. Sprachliche
Wendungen enthalten also u. U. Materialien des Denkens, also [mehr oder weniger
präzise] begriffliche Inhalte verbreiteter Denkweisen. Im Falle eines ethisch
wertenden Prädikats besteht der Anwendungsbereich aus von Menschen angenommenen
bzw. anzunehmenden Verhaltensweisen. – Das Feld der ethisch-normativen
Wahrheiten ist die rationale Normierung unserer Freiheitsspielräume. Sofern
unser Verhalten durch normative Gesichtspunkte modifizierbar bzw. „bestimmbar“
ist, können wir es eben auch durch den Denkinhalt einer Sollensnorm
modifizieren bzw. „bestimmen“.
Für
den in Frage stehenden ethischen Begriff habe ich die Redeweise von
„eigentlicher Pflicht“ oder „wahrhafter Verbindlichkeit“ gewählt. Kant berief
sich auf die allgemein gangbare Vorstellung von „Pflicht“, „Verpflichtung“
und „Verbindlichkeit“. Es besteht hier allerdings das Problem eines nicht
völlig eindeutigen allgemeinen Sprachgebrauchs. Wir müssen uns damit begnügen,
dass es eine Redeweise von „eigentlicher Verpflichtung“ gibt, welche den
Begriff einer wahrhaft verbindlichen Wertvorstellung ethischer Art
„manifestiert“. Eine eindeutige Redeweise ohne die Möglichkeit von
Missverständnissen gibt es hier nicht.
In
der Hauptsache macht uns die Mehrdeutigkeit von „konventionell verbindlich“,
bzw. „gilt als verbindlich“ und „wahrhaft verbindlich“ zu schaffen. Hier gibt
es eine fast unerschöpfliche Quelle von Missverständnissen. Wer nämlich
Pflicht und Verbindlichkeit von vornherein ausschließlich konventionell
versteht, für den ist die Frage nach der „eigentlichen“ oder „wahrhaften“ Moral
gar nicht zu stellen. Umgekehrt gilt. Eigentliche Moral steht nicht
zwangsläufig im Gegensatz zu konventioneller Moral. Wo es wechselseitig
wirkendes menschliches Verhalten gibt, werden wir auch Üblichkeiten und
Konventionen finden, zum Teil bewehrt mit Sanktionen im Falle abweichenden
Verhaltens. Dies gilt unabhängig davon, ob wir einem reinen Konventionalismus
der Moral huldigen oder auch überkonventionelle ethische Gesichtspunkte für gegeben
halten. Für den überkonventionellen Gesichtspunkt ist entscheidend, ob wir
einen ethisch wertenden Gesichtspunkt in Anspruch nehmen, der sich nicht allein
auf faktisch bestehende Verhaltenskonventionen gründet. Wer in Bezug auf Konventionen
des menschlichen Verhaltens letztlich die Frage für entscheidend hält, ob sie
der gemeinsamen Freiheit im Sinne der Goldenen Regel dienen, nimmt einen
überkonventionell wertenden Gesichtpunkt in Anspruch. Faktisch aber werden wir
fast immer auf historisch konventionelle Mischformen der wertenden
Gesichtspunkte treffen.
Selbst
in einer Verbrecherbande oder in einer Zuhälterclique werden wir auf
konventionelle Verhaltensmuster treffen, vielleicht sogar auf sehr starre. –
Die Frage der geschriebenen oder ungeschriebenen „Gesetze“ ist hier zunächst
unerheblich. - Der Gedanke „eigentlicher Verbindlichkeiten“ betont die
Möglichkeit einer wertenden Stellungsnahme zu tatsächlich gepflegten
Üblichkeiten. Dabei darf sich diese Wertung nicht in Hinweisen auf wieder
andere Konventionen, z. B. in einem größeren Rahmen, erschöpfen, anhand derer
die Cliquenmoral als „Binnenmoral“ erscheint. Es gibt hier den Gesichtpunkt
einer normativen Rationalität, derer man sich in entsprechenden Überlegungen erkenntnismäßig, d. h. mit dem Anspruch einer spezifischen
Einsicht, vergewissern kann.
Die
Frage nach möglichen Inhalten eines nicht-hypothetisch verbindlichen Imperativs
ist die Frage nach der Möglichkeit normativer Wahrheit, welche durch eine
nicht-hypothetisch gültige Aussage normativer Art beinhaltet ist. Wie ein
solcher Denkinhalt beschaffen sein müsste, wenn es ihn gäbe, ist also eine
Reflexion auf die Möglichkeit einer Erkenntnis a priori normativer Art. Wir
bilden den Begriff eines möglichen Verpflichtetseins
verbindlicher Art. Es wird uns dabei bewusst, dass es sich bei diesem Begriff
nur um die Verbindlichkeit eines Gebots der Freiheit aller handeln kann. Aus
Reflexionen über den möglichen Inhalt ergibt sich ein solcher Inhalt selbst.
Das Kriterium einer bestimmten Art von Inhalten wird zum einzig möglichen
Inhalt einer bestimmten Art von Wahrheit. Methode und Gegenstand, Weg und Ziel
koinzidieren im Falle der Wahrheit a priori. Wahrheit a priori betrifft die
Möglichkeit der Wahrheit a priori. – Dies erhellt auch aus der Überlegung, dass
eine Wahrheit mit Notwendigkeitscharakter aufgrund der Möglichkeit von
Wahrheit überhaupt wahr sein muss.
Der
Begriff eines wahrhaft verpflichtenden Imperativs ist derart, dass er eine
allgemeingültige Erkenntnis möglichen Verpflichtetseins
erfordert. Kant hat uns darauf hingewiesen, dass die ethisch-normative
Wahrheit, sofern sie erkennbar sein soll, eine Erkenntnis von der Art einer
Erkenntnis a priori sein muss. Je nach Gesichtspunkt unserer Betrachtung ist es
ein metaphysischer bzw. ein transzendentaler Erkenntnisinhalt, welcher allein
eine rationale Norm des Sollens abzugeben vermag. „Metaphysisch“ insofern, als
„nicht-empirisch“ bzw. „a priori“ gültig, „transzendental“ insofern, als eine
Erkenntnis a priori nur „möglich ist“ [nur gültig sein kann] als Erkenntnis der
spezifischen Anforderungen an etwaige a priori-Erkenntnisse.
Man wirft die Frage auf nach der etwaigen Möglichkeit nicht-empirischer
Theorien und erkennt in der darauf folgenden Überlegung, dass genau nur eine
Theorie der a priori-Erkenntnis den Anforderungen
etwaiger a priori-Erkenntnisse genügt. D.h. als
„kritische Philosophie“ ist a priori-Erkenntnis
möglich, ansonsten nicht. Für den Fall der ethischen Theorie heißt das, dass
eine normative Erkenntnis von verbindlichen Geboten nur gültig sein kann als Theorie
eines normativen Apriori. Ein Gedanke von
außerordentlicher Allgemeingültigkeit muss hier gefasst und in der Art seiner
Gültigkeit geprüft werden.
Man
könnte versucht sein, folgendes Argument zu schmieden:
Transzendental-Philosophie als Theorie der Erkenntnis a priori ist aus
folgendem Grund nicht möglich: Eine Erkenntnis der Erkenntnisart a priori ist
nur dann eine Theorie von entscheidbarer Wahrheit, wenn sie selbst eine Theorie
a priori [von nicht-hypothetischer Gültigkeit] darstellt. Von daher gesehen,
setzt diese Transzendental-Philosophie in Gültigkeit etwas voraus, dessen Möglichkeit
allererst untersucht werden soll. – Das Argument verschlägt insofern nicht, als
diese Art von Philosophie keine Gültigkeit ihrer Reflexionen vor aller
Philosophie beansprucht, sondern genau der Voraussetzung erkenntnismäßiger
Gültigkeiten ganz im Allgemeinen inne wird. Auf die
Weise der Vergegenwärtigung solcher Voraussetzungen ist eine spezifische Art
von Erkenntnis möglich, welche ihre Art von Gültigkeit aufgrund von
vorausgesetzten Erkennbarkeiten behauptet. Die Theorie a priori setzt also eine
Möglichkeit von Theorien a priori mit Recht voraus. Ansonsten bestünde auch
eine Legitimation zu einer allgemeingültigen Aussage über Erkenntnisse
irgendwelcher Art.
Kant macht an einer Stelle [in der K. d. p. V.] einen Unterschied von Goldener Regel und kategorischem Imperativ. Das übergehe ich hier aber als minder wichtig und hebe die [neben dem Unterschied] ebenfalls bestehende [große] Gemeinsamkeit hervor. – Interessant der Hinweis in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“, dass es verschiedene Arten gibt, den „Imperativ“ „der Anschauung nahe zu bringen“. In Ausweitung dieses Gesichtspunkt könnte man m. E. auch behaupten, die Vorstellung, man tue sich „auf lange Sicht“ und „im Grunde genommen“ selbst an, was man andern antut, sei eine Art, den sehr allgemeinen, aber grundsätzlichen Inhalt menschlichen Normbewusstseins zu versinnbildlichen. [Hier kämen wir in die Nähe des Karma+Wiedergeburts-Gedankens.] „Tue einem andern nicht an, was du selbst nicht wünschen würdest, wenn du in dessen Haut stecken würdest.“ Der Karma+Widergeburts-Gedanke, verbunden mit dem Gesichtspunkt, dass wir über das innere Ich unseres Bewusstseins nichts wissen können, ist die Umwandlung der beiden Konjunktive in Indikative - In anderer Hinsicht machen uns dann diese eindrucksvollen Sinnbilder wieder als „Mythologie“ und „Mystik“ zu schaffen und fordern zu einer alltagstauglichen „Entmythologisierung“ heraus. Das ist ein endloses Wechselspiel, vermute ich.
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