Nachtrag zur Anatta-Lehre

 

Die Anatta-Lehre ist die Ansicht [des Buddhas], dass es den Atman nicht gibt. Das Wort „at­man“ war in Sanskrit das Reflexiv-Pronomen „selbst“. Dessen Substantivierung, der „At­man“, war „das Selbst“ oder „das Ich“. Das Pali-Wort „Atta“ entspricht dem Sanskrit-Wort „Atman“. Die Silbe „a[n]“ in „anatta“ steht für die Verneinung, und so kann man bei der bud­dhistischen Anatta-Lehre gut von einer „Nicht-Selbst-Lehre“ oder „Nicht-Ich-Lehre“ spre­chen.

 

Einige der altindischen Leh­rer [in der Upanishaden-Tradition] hatten gelehrt: Der Mensch besitzt in seinem Denken ein geistiges Selbst, bzw. er selbst ist dieses sonderbare Wesen. Der Atman ist nach der Ansicht mancher dieser Lehren unkörperlich, nicht-räumlich und nicht-zeitlich, deshalb ist er der Hinfälligkeit räumlicher und zeitlicher Daseinsgebilde enthoben. Für ihn [den Atman] gilt nicht das in der Natur übliche Entstehen und Vergehen. Er ist nicht-materiell, metaphysisch-transzendent und inso­fern etwas Göttliches [ein Anteil?] im Men­schen. Der Atman wurde zum Teil als Individualseele, zum Teil als überindivi­duelle Allseele aufge­fasst. Im letzteren Fall hat man für die menschliche Individualseele ein weiteres Wort: „jiva“. „Jiva" wird dabei zur „Individuation“ des für sich selbst überindividuellen At­man. „Jiva“ ist individualisierter Allgeist. Auf je­den Fall ist der Gedanke des Atman mit dem Ge­danken eines höheren, ei­gentli­chen Selbst des Menschen verbunden. Er ist das wahre Selbst des menschlichen We­sens, das letzte Sub­jekt meines Denkens und Handelns. Das Ich ist das absolut Innere des menschlichen Geistes. Die empirisch-individuelle Person wird im Verhält­nis zum großen Selbst „Atman“ zum „kleinen Selbst“ mit partikularen Interessen.

 

Nach hinduistischer Auffassung ist das höhere Selbst an oder im Menschen dasjenige an oder in ihm, dem wir Anerkennung und moralische Achtung schulden. Verschiedene menschliche Individualitäten stehen durch die Teilhabe an einem [potentiell] allumfassenden Bewusstsein in einem [mo­ralisch geforderten] Verhältnis der [prinzipiell!] gleichen Freiheit. Der Buddha verweist mit seinem Anatta-Gedanken auf die Ungegenständlichkeit [Nicht-Etwas-sein] des inneren Ich-Selbst und achtet am Mitmenschen diese Ungegenständlichkeit. Jeder Mensch ist mehr, als wir von ihm wissen oder denkend erfassen können. Dies gilt insofern, dass er in seinem Denken und Verhalten sich selbst von jedem beliebigen Inhalt seines Bewusst­seins loszulösen vermag. Im Verhalten läuft das auf begrifflich und gedanklich modifizierbares Be­gehrungsvermögen hinaus. In Fragen von wahr und falsch läuft es darauf hinaus, dass Wahr­heit und Falschheit auch für ihn etwas Denkbares darstellen. Der Buddha bringt das hö­here Selbst aber vor allem als Loslösungs- und Erlö­sungspotential in’s Spiel. Er bringt so den Ge­danken der Leidensabkehr mit dem Gedanken der Daseinsabkehr zur Deckung: die Ver­söh­nung mit unserer uner­kennbaren höheren Natur führt zur Leidens- und Daseinsüberwin­dung in einem. Es geht ihm um die Abkehr nicht nur von der uns bekannten Wirklichkeit, sondern von jeglichem Dasein. Die Pointe ist, dass das höhere Selbst nichts ist, von dem wir etwas wis­sen können oder auch nur zu denken vermöchten. Paradox formuliert: Es ist etwas, das kein Etwas ist.

 

Das Ich ist auch dem Buddha das Innere des Geistes. Es ist etwas Nicht-Physisches, das sich einen Körper zurechnet und sagt: „Ich bin ein körperliches Wesen, indem ich einen Körper habe.“ Es ist etwas Nicht-Psychisches, das sich eine Psyche zurechnet und sagt: „Ich bin psy­chischer Natur, indem ich eine Psyche habe.“ Es ist etwas Nicht-Gedachtes, sondern das tä­tige Denken selbst, das sich Gedankeninhalte zurechnet und sagt: „Alles Gedachte ist nicht das Ich-Selbst.“ Im Geist vermag sogar der Geist vom Ich-Selbst getrennt zu werden. Körper, Ge­fühl, Empfindung, Wahrnehmung, unterscheidendes Denken und alles Bewusstsein davon sind nicht dem innersten Ich-Selbst gleichzusetzen.

 

Das Wort „atman“ durchlief im Zuge der Herausbildung gedanklicher Spekulationen [bezüglich des Ich-Selbst] [in der altindischen Tradition] eine bemerkenswerte Be­deutungsentwicklung. Zunächst bedeutete „Atman" „Kör­per/Rumpf“, dann mehr und mehr die geistige Kompo­nente des Menschen. Wahrscheinlich hat man darüber nachgedacht, wer der einzelne Mensch „selbst“ ist und kam dann auf die Fragen „wer und was bin ich?“ und „wer oder was ist der Denker mei­nes Denkens?“ Nach und nach hat sich dann der Gedanke eines rein mentalen Ich entwickelt, das eigentlich nichts Körperlich-Materielles mehr sein kann. Es kam gleichsam zu der Frage: „Wer ist das Ich meines Kör­pers?“ Ist der Körper „mein“ Körper und somit dann auch der Körper eines Ich, sind wir bei der gedanklichen Loslösung des Geistes vom Kör­per angelangt.

 

„Atman“ ist, nebenbei bemerkt, mit dem deutschen Wort „Atem“ verwandt und erinnert da­durch an den Sachverhalt, dass in den alten Denk-Traditionen „Selbst“ und „Seele“ auch für die Fähigkeit des Atmens standen. Auch das griechische Wort „psyche“ hat diese Konnota­tion. Eine-Psyche-haben ist für die Lebewesen ihr Belebtsein und At­men-Können in einem. Was Odem hat, lebt und steht in einem Austauschprozess mit seiner Umgebung. Daran, dass etwas atmet, erkenne ich, dass es lebt. Im menschlichen Fall gehört zum spezi­fisch menschli­chen Lebendig-sein auch das Bewusstsein dazu, geistiges Subjekt der Gedan­ken und der Sub­jektivität zu sein. So kann man sagen: Der Besitz einer menschlichen Psyche, besser: die Existenz als bewusst­seinsfähiges Wesen, macht einen Teil der Natur, ein natürli­ches Wesen bzw. ein Na­turpro­dukt, zu einem menschlichen Lebewesen mit der Fähigkeit, sich im Denken von der Natur loszulösen, sich von ihr abzuspalten, sich aber auch wieder mit ihr in angemes­sener Weise zu versöhnen.

 

 

Der Buddha wendet sich mit zwei bemerkenswerten Ansichten gegen die Atman-Lehre: „Für alles, was es gibt, gilt, das bin ich nicht selbst.“ Und: „alle Ansichten über das Ich-Selbst sind falsch.“ Auch die Ansichten über Existenz und [!] Nicht-Existenz des Atman. Der Buddha fordert uns dazu auf, alles an uns und in uns Bestehende und Vorhandene, alle Bestandteile, Organe und Fähigkeiten unserer selbst, all unsere physischen, psychischen und geistigen Da­seinsfaktoren als Nicht-Selbst zu durch­schauen. Alles was ist, so sagt er, sei leer an Selbst­heit, leer an Unbedingtheit, leer an Unver­gänglichkeit. Das bedeutet, dass unser empiri­sches Wesen leer ist an metaphysisch-transzendentem Seins-Gehalt [Etwas-sein]. Es er­mangelt unserem empiri­schen Wesen selbstverständlich auch an metaphysisch-transzenden­ter Exis­tenz. Die kör­perli­chen, psychischen und geistigen Daseinsfaktoren unserer selbst sind leer an Selbstheit, sie sind eben nicht das Ich-Selbst. Mein Körper, meine Psyche und meine Gedan­ken sind et­was, mit dem sich ein ungegenständliches, geistig inneres Ich-Selbst verbunden hat.

 

Der gegenwärtige Dalai Lame, Tenzin Gyatso, erklärt in einem mir vorliegenden Text die Leerheit [sunnata] als Mangel an „inhärenter“ Exi­stenz. Das bedeutet: Keiner der Daseinsfaktoren trägt den Grund seiner Exi­stenz  in sich selbst, nichts unter den bekannten [und unbekannten] Daseinsfaktoren ist unbe­dingt, nichts ist unvergäng­lich, nichts ist seiner selbst mächtig. Auch dies läuft auf die Ermangelung einer metaphysisch-transzendenten Existenz in der Wirk­lichkeit des bedingten Werdens hinaus. Diese Erklärung kann für westlich geschulte Ohren natürlich auch be­deu­ten, dass nur der Inbegriff an denkbarer Realität, also der Gott der metaphysisch-transzen­denten Philosophie, als causa sui, als seiner selbst mächtiges Seinendes, aufgefasst werden kann. Da aber auch das nicht-empirische Ich etwas Unbe­dingtes ist, nämlich eine unbedingte Bedingung des ansonsten gegenständ­lich bedingten Be­wusstseins [von et­was], überschneiden sich die Erklärungen der Leerheit, wenn sie einerseits als Leerheit an Selbstsein, anderer­seits als Leerheit an inhärenter Existenz, oder auch Leerheit an Unvergänglich­keitsgehalt, Unbedingtheits­gehalt usw. vorgenommen werden. Für den Buddha erscheint mir der Hinweis auf die Leer­heit an Selbstsein besonders nahe liegend: Nichts von alle dem, dessen wir uns bewusst sind, ist unser ei­gentli­ches inneres Wesen selbst. Das ist der entscheidende Grund für die Anatta-Lehre, die sich mit den übrigen Leer­heitslehren überlagert.

 

Der indische, buddhistische Philosoph Nagarjuna, Begründer der Madhyamika-Schule [eines „Mittleren We­ges“], entwi­ckelte im Anschluss an Budd­has Lehre des bedingten Entstehens ein Konzept der Leerheit [sanskrit: shunyata], das mir auf Anti-Ato­mismus hinauszulaufen scheint. Alle Dinge und Wesen dieser Welt des Werdens sind lediglich Produkte ihrer Ursachen, und es gibt auch keine unveränderlichen Einzelbestandteile, aus denen sie bestehen wür­den. – Sie bestehen aus Aggregationen von „Faktoren“, die wiederum nichts weiter als Produkte fernerer „Da­seinsfakto­ren“ sind. Das entspricht in etwa der Posi­tion der als vollendet gedachten unendlichen Teilung [eines gegebenen Stücks der Wirklichkeit], bei der nichts übrig bleibt, also der Antithesis in Kants zweiter Antinomie. [Kant führt uns nicht anhand des Kausalitätsgedan­kens auf diesen Standpunkt, aber die Paral­lele des Arguments ist auffällig. Es ist ein endloser Regress des „Bestehens aus“, wo­bei es keine letzten Bestand­teile gibt.] Diese „Leere“ der Wirklichkeit soll nun nach Na­gurjuna der entscheidende Gesichtpunkt der erlösenden Buddha-Lehre gewesen sein, vermittelst derer der Erlö­sungssucher den Strom des Samsar überque­ren kann. Im Herz-Sutra des Mahayana [Prajna Maramita Sutra] wird der Satz: „Form ist Leere, Leere ist Form“ als Kondensat der Buddha-Lehre dargestellt. – Man ersetze zum bes­seren Verständnis „Form“ durch „physische und/oder psychische Form“, „Wirklich­keitsgebilde“ oder „Daseins­formation“.  [Eventuell sind auch Geistes­faktoren zu berücksichtigen, die infolge ihres abstrakten, „wiederverkörperungsfähigen“ Wesens keine körperli­che oder psychische Formation darstellen.] - Die Beständig­keits-Illusion ist demnach der Haupt­punkt unserer Verblendung. Der Unbestand aller Dinge ist das beständige Wesen der Wirklichkeit.

 

Diese Leerheits-Darstellung hat mir niemals völlig eingeleuchtet. Der Projektions-Charakter unserer Wünsche und [fixierten] Erwartungshaltungen scheint mir viel geeigneter, die problematische Art und Tendenz unseres Begehrens darzu­stellen. Der Vorspiegelungscharakter unserer Wünsche ist viel naheliegender eine durch Be­dürfnis, Erwar­tung und Projek­tion be­dingte Illusion [z. B. „Zuträglich­keitsillusion“] als eine Beständigkeits- Subsistenz- oder Inhärenzil­lusion. Denn warum sollte man als selbst ver­gängliches Wesen an anderen vergäng­lichen Wesen keine Freude finden, um letztlich in dem Bewusstsein zu ster­ben, alle Freuden der Welt gekostet zu haben? So entstand ja auch der Spruch: „Freut euch des Lebens, solange das Lämplein glüht!“ Oder: „Edite, bibite, post mortem nulla volup­tas!“– Die Vergänglichkeit der Wesen ist m. E. nicht der Hauptgrund unseres „Leidens“, sondern eine spezifi­sche Art von menschen-geschaffener Not. Weil nämlich unser Vergnügen oft nicht-harmloser Art ist, zu Lasten der Freiheit anderer geht und letztlich dann auch noch eigene Not produziert. Selbst geschaffene Leiden, von denen wir befreit und erlöst sein könnten, drücken uns nieder.

 

Ein gutes Essen, wenn man es mit gutem Appetit genießt, vermag ein Gefühl des Wohlbefindens und eine glückli­che Stimmung auszulösen. Dabei würde das Essen, wenn wir es unberührt stehen ließen, verderben. Das erzeugte Glücksgefühl ist sicherlich nicht sehr lange andauernd oder gar unvergänglich. Eine gute Erinnerung an den Fest­schmaus kann uns aber noch lange begleiten. – Man sieht an diesem Beispiel, dass die rein zeitliche Vergänglichkeit der Geschehnisse, oder ihr Bedingt-entstanden-sein, nicht der Hauptpunkt des „dukkha“ ist. Die Verderblichkeit der Speise motiviert uns dazu, die Chance des Festschmauses nicht verstreichen zu lassen, son­dern wahrzunehmen. Es wäre töricht, hier den Kostverächter spielen zu wollen. Dies muss nicht zwangsläufig in einen Magenüberdehnungsversuch ausarten. Allerdings ist es wahr, dass wir uns nicht dau­erhaft in einem Zu­stand erhöhten Wohlbefindens halten können, auch wenn wir eine ganze Folge von Vergnügun­gen vorgeplant haben. Das „Glücksgefühl“ bleibt gewissermaßen „unverfügbar“. – Tatsache ist also die psycholo­gische Un­möglichkeit, einen Zustand gesteigerten Wohlbe­findens [Euphorie] dauerhaft zu erhalten. Der Versuch, dieses „Gesetz“ außer Kraft zu setzen, ist der Hintergrund eines sich ausbildenden Suchtverhaltens. Wir treffen hier auf das Bestreben, euphorische Zustände technisch-ma­nipulativ verfügbar zu machen. Die Nebenwirkungen unserer schlechten Angewohnheiten geraten allerdings außer Kontrolle und verursachen ganz reales Leid.

 

Die Erfüllung unserer Wünsche bringt uns nur selten die lang andauernde Zufriedenheit, die wir vielleicht davon erwarten. In diesem Sinne mag ein Beständigkeitsgedanke eine Komponente unserer Zuträglichkeitsillusionen sein. Die Erfüllung unserer Wünsche macht uns erfahrungsgemäß nicht wunschlos glück­lich, wie wir es  illusi­onsbedingt manchmal vielleicht erwarten. Das Leben geht weiter, es ergeben sich Folgeprob­leme und neue Wün­sche entstehen.

 

Lukrez, ein römischer Schüler des Epikur, war Atomist und schrieb dennoch sehr treffend in seinem Lehrge­dicht „de rerum natura“: „Sed dum abest, quod avemus, id exsuperare videtur aliud. Post aliud, cum contingit ille, ave­mus et sitis aequa tenet semper vitae hiantes.“ [III, 1082 f.] „Solange wir etwas nicht haben, was wir begeh­ren, übertrifft es für uns alles andere an Glanz und Bedeutung. Wenn wir es dann haben, sind wir dann wieder auf etwas anderes aus, in Durst und Gier sind wir gefangen.“ Das ist eine schöne Beschreibung der tendenziösen Art unse­rer Aufmerk­samkeit. Interessierte Begehrlichkeit macht uns weitgehend blind für das, was nicht in unser Kon­zept passt bzw. mit unseren Interessen harmoniert. Das ist die „Kollateralproblematik“ unseres Den­kens und Tuns.

 

Wahre Lust will Ewigkeit, dichtete F. Nietzsche. Als Vollblut strebt man sozusagen nach einem Zustand, der keinen Wunsch mehr offen lässt. Aber es macht durchaus Sinn, auch Flüchtiges zu begehren. „Musik ist ange­nehm zu hören, doch ewig braucht sie nicht zu währen“, sagte W. Busch. Das muss man nicht als Zynismus auf­fassen, „varietas delectat“, sagten auch die alten Römer. An einer Folge abwechslungsreicher Vorgänge kann man durch­aus Freude finden. Die Erfahrung lehrt lediglich, dass es nicht möglich ist, sich dauerhaft in einem Zustand außer­gewöhnlichen Wohlbefindens zu halten. Das Problem ist nicht der Wechsel aller Dinge, sondern die Tatsache, dass dieser Wechsel nicht in Harmonie mit unseren Wünschen und unseren ständig wechselnden Bedürfnissen ge­schieht.

 

Es ist zweckmäßig, sich darüber klar zu werden, dass wir mit dem Begriff unserer selbst in Abgrenzung zu alle dem,. was wir uns an Eigenschaften zurechnen, den Begriff eines meta­physisch-transzendenten Etwas gebildet haben. Wegen der prinzipiellen Sonderung "von al­lem". Mit der Existenzaussage bezüglich eines nicht-empirischen Etwas vollziehen wir dann die Behauptung eines metaphysisch-transzendenten Sachverhalts. Wenn wir sagen: "Das nicht-empirische Ich ist etwas Nicht-Empirisches, das existiert", haben wir eine metaphysich-transzendente Behauptung aufgestellt.

 

Das reine Ich, dieses nicht-empirische Selbst-sein, ist das Bewusstsein für sich selbst genom­men. „Für sich selbst genommen“ heißt hier: gesondert von allem, dessen es sich bewusst ist bzw. sogar: dessen es sich bewusst sein kann. Das heißt aber auch: gesondert von jedem ge­genstandsbezogenen Begriff, gesondert von jeder sachhaltigen Aussage, gesondert von jedem Bewusstseinsinhalt. Genau deshalb ist der Ich-Selbst-Gedanke eigentlich nicht einmal Begriff oder Bewusstsein von etwas Abgesondertem oder Abzusonderndem, sondern lediglich unum­gängliche Bedingung jeglichen Bewusstseins von etwas und für sich selbst abgesondert nicht zu haben. Dennoch eröffnet sich durch die [mehr und mehr] begrenzende Absonderung von allem, was da bewusst ist, ein Bereich nicht-empirischer, völlig negativ bestimmter Denkbar­keiten: „nicht dies, ganz anders, nicht so usw..“ Es sind leere Denkbarkeiten, reine Denkbar­kei­ten, aber immerhin. Leer an empirischem Sachgehalt, von dem ja ausdrücklich abstrahiert wurde. – Man kann auch so reden: Das Bewusstsein des reinen Ich ist ein nicht-identifizie­rendes und ein nichts-identifizierendes Bewusstsein, weil es der Denkvorschrift folgt, sich probeweise [also lediglich denkend] von allem anzusondern. – Wenn wir dann zu einem spä­teren Zeitpunkt doch wieder ein abgesondertes Etwas ganz besonderer Art daraus machen, vergessen wir im Grunde genommen wieder die Herkunft aus dieser Konstruktionsvorschrift. Folgendes ist der Paralogismus: die reine Denkbarkeit [von etwas] wird zu einem reinen Et­was der Denkbar­keit. Anders ausgedrückt: die Fähigkeit der Modifizierung und Loslösung von jedem beliebigen Inhalt des Denkens wird zu einem Etwas, das losgelöst von allem exis­tiert.

 

Die Anatta-Lehre, welche sich gegen die Existenz des metaphysischen Atman wendet, besitzt eine Vielfalt von Bedeutungen und assoziierten Themen. Es kann sich z. B. um die ethi­sche Ablehnung von Egoismus und Selbstbezogenheit handeln. Um die Verwerfung von allzu ein­seitigem, eigennützigem Inter­esse. Wenn man in diesem Sinne sagt, deine Interessen, dein Bauch, dein Wohlergehen, deine gesellschaftliche Stellung, deine so glänzenden Eigenschaf­ten und Be­ziehungen, das alles bist du gar nicht wirklich selbst, dann kann man damit mei­nen: die Art deines Interesses und dei­ner Selbsterhaltung, dein egozentri­sches Begehren, die Art deiner Daseinsmehrung und dei­nes Lustgewinns wider­spricht deiner eigentlichen Natur, in­dem du deine Fähigkeit ver­nach­lässigt hast, mit anderen und dir selbst in einer Harmonie der gleichen Freiheit aller zu leben. Hier ist das eigentliche Ich die Fähig­keit zum guten Le­ben im Sinne einer wahrhaften Moral. Diese Fähigkeit zum Guten beinhal­tet z. B. die Fähig­keit der [zunächst inneren] Los­lö­sung vom nicht so Guten oder gar eindeu­tig Schlech­tem. W. Busch dazu ironisch, aber treffend: „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt.“ – Hier stellt sich die Fol­gefrage, ob und inwieweit das Prinzip der gleichen Frei­heit aller [bezüglich anzuneh­mender Verhal­tens­weisen] ein zu­reichendes Krite­rium für die Unter­scheidung von „gut“ und „böse“ [in ethisch-moralischem Sinn] dar­stellt.

 

In der ethischen Dimension des Menschseins, philosophisch gesprochen: „im Praktischen, wo es auf die Willensbestimmung ankommt,“ ist das wahre Ich ebenfalls mit einem Loslö­sungs- und Distanzierungsvermögen gleichzusetzen. In diesem Falle sind wir Lebewe­sen, die Hand­lungsimpulse innezuhalten vermögen und sie nicht unvermittelt ausagieren müssen. Wir ha­ben eine Fähigkeit in Ansatz zu bringen, bereits angenommene Denkmuster und Ver­hal­tens­weisen zu überdenken und unter dem Einfluss von Denkinhalten zu modifizieren. Der menschliche Wille ist unter diesem Gesichtspunkt ein gedanklich modifizierbares Verhaltens- und Begehrungsvermögen. Zielführender Gedanke [bzw. gebotener Verfahrensmodus] soll dabei, nach dem Ansatz der Goldenen Regel, eine Harmonisierung der Freiheitsspielräume aller sein. Bestimmte Verhaltensweisen werden verworfen, weil sie mit diesem Gedanken völlig unvereinbar sind. Die gegenteiligen Verhaltensweisen sind in der Folge geboten. Wel­che das jeweils sind, ist im Einzelfall und unter verschiedenen Umständen allerdings häufig umstritten. So hielten manche z. B. das Lü­gen für den paradigmatischen Verstoß wider den menschlichen Geist.

 

Apropos sittenstrenges Lügenverbot: Man kann ein striktes Lügenverbot propagieren und dann im Einzelfall darüber streiten, was Lüge ist und was nicht. Oder man kann sagen, es gebe auch erlaubte Lügen und im Einzelfall dann darüber streiten, ob die Kriterien des Er­laubtseins zutreffen oder nicht. Gängige Lügenbegriffe reichen von vorsätzlicher Äußerung der [be­wussten] Un­wahrheit bis zu in Kauf genommener Irreführung und gewohnheitsmäßi­ger Rea­litätsverleug­nung. Bei Kant, der Lüge und Unaufrichtigkeit für den größten Schand­fleck der menschlichen Natur hielt, gibt es [in der Anthropologie] ein Lehrstück über den er­laubten moralischen Schein [§ 14]. Da nützt es uns nicht viel, wenn wir uns bei dem frei­mü­tig-ent­waffnenden Be­kenntnis zu Heuchelei und einem ausschweifenden Lebensstil auf eine Auf­richtigkeit höherer Stufe berufen.

 

Eine andere Bedeutung des Anatta-Themas geht in die Richtung einer theoretischen Philoso­phie des Nicht-Selbst und des Bewusstseins: Alle Dinge und alle Bewusstseinsinhalte, Sub­jektives, Objektives und auch alles sonstige Denkbare, auf das ich mich denkend zu beziehen vermag und worüber ich sprechen könnte, sind nicht das Ich-Selbst. All dies bin ich nicht [wirklich] selbst.

 

Hauptsächlich bedeutet diese Lehre, wie bereits erwähnt, dass der Buddha die altindische Lehre vom unzerstörbaren, metaphysisch-transzendenten Seelenkern zurückgewiesen hat. Das Ich des Denkens und Handeln ist nach seiner Auffassung also keine metaphy­sisch transzen­dent existierende Entität außerhalb der Welt des be­dingten Werdens. Es ist überhaupt nichts Gegebenes, sondern ein Scheingegenstand und eine Illusion des Denkens. Eine Denkbarkeit: lediglich oder immerhin. Es ist etwas Denk­bares, von dem man nur sagen kann, was alles nicht es ist. Es wird ex negativo, in limitativer Denkweise bestimmt: „nicht-materiell“, „nicht-sterblich“ usw.. Anders als in dieser abgren­zenden Weise kann man es nicht bestim­men, man kann nicht anders davon reden. Und man kann auch nicht wissen, ob so etwas existiert.. Aber der Mensch be­sitzt die Fähigkeit, sich von allem Gegebenen und Tatsächli­chem zu dis­tanzie­ren, Abstand zu nehmen, Abstand zu finden, sich loszulösen, die Identifika­tion mit etwas le­diglich Gegebenem zurückzuweisen. Und dadurch „zu sich selbst zu finden.“ Was sich da loslöst, ist aber merkwürdiger Weise nicht festzustel­len. Von jedem festgestell­ten Wesen kann man sich wiederum abson­dern und loslösen in dem Gedan­ken: „Das ist nicht mein wahres Ich.“ Derart vermag sich der Geist im Geist vom Kör­per ab­zusondern. Und sonderba­rer Weise auch von all dem, was er da denkt. Das ist das sprachliche und denkeri­sche Phäno­men der „systematischen Flüchtigkeit des Ich.“

 

Interessant ist, dass der Buddha den metaphysisch-transzendenten Seelenkern ablehnt und doch keinem materialistischen Monismus oder Naturalismus huldigt. Denn nach der Ableh­nung des Atman be­steht die Gefahr, den Menschen für nichts anderes als ein materiell-objek­tives Daseinsgebilde zu halten. Der Buddha hält aber alle Aussagen über das eigentliche Ich für falsch, auch die Behauptung seiner Nicht-Existenz. Vielleicht wäre es unverfänglicher zu sagen, alle diese Aussagen [über das wahre Ich] seien unentscheidbar in Bezug auf Wahrheit und Falschheit. Wenn man nämlich sagt, die Behauptung der Exis­tenz des Atman sei nicht zutreffend und falsch, kommt der Leser leicht auf den Gedanken, dann bleibe doch nur die Nicht-Existenz dieser Entität als Wahrheit übrig. Und umgekehrt: Verwirft man die Nicht-Existenz des Atman, liegt der Schluss auf seine Existenz nahe. Richtig ist: Die Wahrheit oder Falsch­heit in einer metaphysich-transzendenten Frage ist für uns unentscheidbar, und die Be­hauptung dieser Un­entscheidbarkeit halten wir für entscheidbar wahr, weil wir glauben, eine Aussage über die Grenzen möglichen Wissens machen zu können. Wir finden die Wahr­heit also in einer Unentscheidbar­keitsbehauptung bezüglich verschiedener, sich widerspre­chender Aussagen über nicht-empiri­sche Sachverhalte. In diesem Falle über den Atman, der nach der Formel „neti, neti, nicht dies, nicht dies!“ als nicht-materiell, nicht-räumlich und nicht-zeit­lich gekennzeichnet wurde.

„Neti, neti“ war die Formel des Jnana-Yogas, einer  Übung des „spirituellen“ Wissens. Sie ist mit der Formel des Buddhas: „Dies ist nicht mein wahres Ich“ identisch. Diese Formel enthält die Dynamik eines über jeglichen Gedankeninhalt hinausdrängenden Ich-Selbst Gedankens. Es handelt sich um eine Dynamik, jegli­chen fixierten Standpunkt zu überbieten: „Nicht das Denken selbst, sondern nur Gedachtes ist dir bewußt!“ Das Denken geht in seinem Bestreben zu grenzenlo­ser Abstraktion über jegli­chen gegebenen oder aufgefassten Gedankeninhalt hin­aus.

 

Im Denken ist der Mensch mit dem Begriff eines wahrhaften und eigentlichen Ichs also über die erfahrbare Wirklichkeit hinaus. Er baut sich, sonderbarer Weise, in der Meditation und Geistessammlung von diesem [inneren] Loslösungsvermögen her auf. Im Sinne einer inne­ren Stärkung, modifizierenden Selbstbeeinflussung usw.. Dennoch soll nicht be­hauptet werden, wir könnten erkennen oder gar beweisen, dass jenseits der erfahrbaren Wirk­lichkeit irgend  etwas ist oder nicht ist. Hier wird einfach der Nicht-Wissbarkeits-Gedanke, sei es pro, sei es contra, zur Geltung gebracht. Der Buddha geht davon aus, dass man über metaphysisch-trans­zendente Sachverhalte nichts wissen kann, nicht einmal, ob es überhaupt welche gibt. Und dies, dass man über die erfahrbare Wirklichkeit hinaus nichts wissen kann, kann man wirklich wissen. Man kann wissen, dass rein gedankliche Spekulationen nicht zu Einsichten bezüglich eines nicht-empi­risch-transzendenten Geisteskerns [in der menschlichen Natur] führen kön­nen. Sowohl das „Dass“ der Existenz als auch das „Was“ der Existenz sind in die­sem Fall betrof­fen. Ansatz des „Ich-Selbst-Themas“ ist die Fähigkeit de Menschen zu gren­zenlosen Abstrak­tion, wel­che das Ich-Selbst des Denkens von allen Inhalten dieses Denkens sondert, um dann ein Etwas ganz besonderer Art daraus zu machen.

 

Wir haben in der Buddha-Lehre den Ansatz einer [jedenfalls im Prinzip] undogmatischen Re­ligionslehre und philosophischen Anthropologie, die sich leicht mit erkenntniskritischen Er­wägungen vereinen lässt. Diese Lehre stellt den Menschen nicht in eine dogmatisch fixierte Transzendenz, weil sie davon ausgeht, dass man sich mit einem solchen Fixierungsversuch zwangsläufig überfordert. Der Mensch kann in bestimmten Dingen nicht Bescheid wissen. Dabei kann und soll es bleiben. Es kommt auch darauf nicht an. Worauf es dem Buddha aber ankommt, ist die Fähigkeit, denkend das Denken vom faktisch Gegebenen zu sondern. Inso­fern, so kann man sagen, eig­net unserem Denken wesentlich ein utopischer Zug. Dieser Zug tritt besonders in der ethi­schen Dimension des Menschseins hervor. Hier können wir der Fä­higkeit innewerden, uns mehr und mehr aus [teilweise] selbstverschuldeten Notlagen [„vom Leiden“] zu befreien, indem wir uns nach und nach von Denk- und Verhaltensmustern ablö­sen, die sich als gar nicht so gut für uns er­wiesen haben, wie wir es uns zunächst einmal vor­gestellt hatten. Unter dem Einfluss innerer und äußerer Bedrängnisse sind Stimmungs- und Af­fektzustände entstanden, die uns auf Verhal­tensweisen konditioniert haben, die nur vor­der­gründig und kurz­fristig vorteilhaft und ak­zeptabel für uns waren. Es geht also darum, die „un­heilsamen“ Denk- und Ver­haltensweisen wieder zu verlernen, die man sich unter dem Ein­fluss von un­günstigen Stim­mungen, Affekten und Emotionen zu eigen gemacht hat. Dabei sind wir der uns umgebenden Wirklichkeit, unserem Körper und unserer Psyche durch Lust- und Schmerzgefühle verhaftet gewesen. Innerlich und zunächst rein gedanklich können wir uns davon ablösen, um letztlich unser Verhältnis zu all diesen Dingen zu modifizieren. „Werde, der du bist, indem du loslässt, was nicht so gut ist,“ könnte die Maxime der Selbster­neuerung lauten. Kernpunkt der ethischen Maxime ist dabei eine Moral der gleichen Freiheit aller Wesen, die ihr Verhalten durch Gedankeninhalte modifizieren können.

 

Der Buddha erhebt nicht die Forderung, dass sich der Mensch von seiner Bedürfnisnatur ab­spalten sollte, um hohe Stufen geistiger Vollkommenheit zu verwirklichen. Dennoch läuft es auf eine Art Selbst-Überwindung hinaus, wenn man uns nahe legt, unsere Bedürfnisse, Emo­tionen, Stimmungen usw. mit dem Gedanken der gleichen Freiheit aller zu versöhnen, um uns derart aus einem Gefängnis [teilweise] selbst geschaffener Zwänge zu befreien.

 

Ein weiterer, sehr nahe liegender Sachverhalt, den man mit der Nicht-Selbst-Lehre verbinden kann, ist folgender: Deine glänzenden Eigenschaften und Beziehungen, deine soziale Stellung usw., das ist nicht allein durch dich selbst zustande gekommen, sondern das Ergebnis des Zu­sammenwirkens vieler beteiligter Faktoren. Glück und Unglück hängen zum Teil von uns selbst ab, zum Teil von äußeren Umständen. Und welche Art von Selbst wir uns zu eigen ge­macht ha­ben, das ist wiederum abhängig gewesen teils von unserer Art, wie wir etwas zu ei­gen ge­macht haben, teils von äußeren Umständen. Wesen, Gepräge und Art eines Men­schen sind empirische Eigenschaften und Dispositionen, welche sich in weit verzweigten Rück­kopplungspro­zessen des Menschen mit seiner Umgebung aufgebaut haben. Das eigentliche, innere Frei­heitswesen besteht dabei in einer Fähigkeit der Modifikation gegebener Denk- und Verhal­tensweisen und ist, wie ich vermute, kein empirisch beweisbarer Sachverhalt. Es ist für sich selbst genommen nicht als Wesen dieser oder jener Art festzustel­len. Das sind existen­ziali­stische Gedanken, denen man Anerkennung zollen kann. Man kann auch von einer Dia­lektik des menschlichen Selbst-seins sprechen. Das letzte und eigentliche Selbst-sein ist eine Fähig­keit, sich etwas zu eigen zu machen oder loszulassen, eine im Einzel­fall nicht nachweis­bare, sondern lediglich vorausgesetzte Fähigkeit der Modifikation eigener Denk- und Verhal­tens­weisen.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2005