Grundsätzliches zur Kant-Rezeption

 

Über den Satz: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ [B 75] Wenn er wahr ist, aufgrund von welcher [Art von] Evidenz ist er wahr?

 

Ich gebe hier eine bewusst unkonventionelle Darstellung der Philosophie Kants. Das Herz­stück dieser Philosophie besteht in einer Kritik der reinen Vernunft. Diese Tatsache ist allge­mein anerkannt. Was aber soll „reine Vernunft“ sein, und was ist hier von wem [an was] zu „kritisieren“, bzw. zur Entschei­dung zu bringen?

 

Es geht Kant z. B. um eine Theorie der „Metaphysik“. Was aber ist Metaphysik? Kant hält die nicht-empirische, nicht-hypothetische Erkenntnisart für das charakteristische Merkmal „meta­physischer“ Erkenntnis. Nicht-empirische und nicht-hypothetische Erkenntnis, und zwar „aus bloßen Be­griffen“ [bzw. „rein aus Begriffen“], „die wir haben“ oder jedenfalls bilden können, das sei Metaphysik. Keine „empirischen“, auf Beobachtung und Experiment beruhenden Aus­sagen, aber auch kein bloßes Wortbedeutungswissen, sondern irgendwelche Aussagen mit nicht-hypothetischem Gültigkeitsanspruch und nicht-hypothetischem Gültigkeitscharakter; dazu noch rein gedanklich, begrifflich und „spekulativ“ argumentierend, das ist bei Kant Me­taphysik. Es geht hier um Evidenzen, die empirische Einzelbefunde durch die Art ihrer um­fassenden Allgemeingültigkeit oder den Notwendigkeitscharakter ihres Inhalts übertreffen.

 

Als Beispiel solcher Aussagen können m. E. Aussa­gen über das innere Ich des Bewusstseins sehr gut dienen. Man entwirft dabei den Begriff einer abso­luten Bedingung des Denkens, reflek­tiert also auf die Nicht-Hinweg-Denkbarkeit des inneren Ich und erörtert mit rein be­griffli­chen Argumenten, ob da etwas sei [„in“ unserem Bewusstsein], was der Hinfälligkeit des ge­wöhnliche raum-zeit­lichen Daseins überhoben ist. – Aber auch z. B. ein allgemeines Kausali­tätsprinzip, wonach nichts ohne „Ursache“ geschehen kann, ist ein Beispiel für eine An­nahme, welche eine gegebene Menge an tatsächlich erhobenen Einzelbefunden übersteigt. [Kant erörtert das Kausalitätsprinzip in ungefähr folgender Variante: es kann nichts gesche­hen, ohne dass es eine Regelmäßigkeit gibt, wonach es (das Geschehnis) aus vorangegange­nen Bedingungen folgt.]

 

Frage ist nun, ob [und wie] in der Weise rein begrifflich geführter Argumentationen über­haupt etwas erkannt werden kann. Ohne empirische Beobachtungen und Experimente, bzw. weit über em­pirische Einzelaussagen hinausgehend. Eine entsprechende Theorie wäre eine Theorie be­züglich der „Möglichkeit von Metaphysik“. Da der projektierte nicht-empirische Gültigkeitscharakter von Metaphysik bei Kant der „zielführende“ Leitgedanke bezüglich der gesuchten Erkenntnisart darstellt, könnte man schlicht von einer Untersuchung über die Mög­lichkeit von „absoluter“, nämlich in nicht-hypothetischer Weise gültiger Wahrheit sprechen. Kann es die Erkenntnis solcher Wahrheiten geben? Welche Fragen können sie betreffen? Sol­che Wahrheiten müssten den Charakter zweifelsfrei gültiger, mit begrifflichen Mitteln er­kennbarer Wahrhei­ten haben. Gibt es der­gleichen? Kann es dergleichen überhaupt geben?

 

Kant versuchte nun, seine Zeitgenossen [und Leser] in der Motivierung dieses Projekts etwas zu überrumpeln, indem er sich darauf berief, dass es in allen Wissenschaften Beispiele von der­gleichen Wahrheiten gäbe. Dieser abkürzende Weg [der Motivierung seines Projekts] hat sich als ungünstig erwiesen.

 

Ich gehe davon aus, dass Kant sich auf Standpunkte berufen hat, die vom Gang der Wissenschaften [bald] über­holt worden sind. In der Philosophie der Mathematik ist man nach der Erfindung nicht-eukli­discher Geo­metrien andere Wege gegangen, als er sich vorstellen konnte. Kant nahm an, elementare geometrische und arithmetische Aussagen seien in nicht-hypothetischer Weise wahr aufgrund einer Fähigkeit einer „Anschauung a priori“. Heute ist nicht einmal mehr klar, ob man solche Aussagen überhaupt als wirklichkeitsbezogene wahre Aussagen auf­fassen kann und nicht vielmehr als grundlegende Vereinbarungen in einem Spiel nach Regeln. Derart wäre nicht der Begriff „Wahrheit“, sondern eher der Begriff „Zweckmäßigkeit“ am Platze. Am Konzept eines axiomati­schen Aufbaus der Geometrie hält man auch heute noch fest, aber die grundlegenden Aussagen und Begriffe sind keine „absoluten“ Wahrheiten mehr, bzw. bei den Begriffen: keine auf aproirische Wirklichkeitsstrukturen bezo­gene Erkenntnisinhalte.

 

In der Philosophie der Logik und Arithmetik haben sich durch Frege und Russell neue Wege eröffnet. Kants arithmetischer Satz „5 + 7 = 12“ gilt heute als „analytisch“ insofern, als man ihn auf höherstufige Quantorenlo­gik, Zahlen, „+“ und „=“-Definition zurückführen kann. Allein die „potentielle“ Unendlichkeit des Weiterzäh­lens, welche im „logizistischen“ Grundlegungsprogramm der Arithmetik eine Zusatzannahme erfordert, folgt nicht aus diesen Definitionen.

 

Eine weitere Berufungsinstanz für Kant war Newtons Physik. Aber auch die Rolle von Newtons Physik sieht man heute anders, als Kant es tat. Die Relativitätstheorie hat den Gültigkeitscharakter dieser Physik relativiert und vor allem den Apriorismus von Kants Raum-Zeit-Philosophie angegriffen, wenn auch m. E. verkürzt rezi­piert. – „Verkürzt“ deshalb, weil sich Kants Raum-Zeit-Lehre nicht in der Philosophie geometrischer Grundaus­sagen erschöpft. Beispiel für eine solche geometrische Grundaussage war: „Zwischen zwei Punkten ist die Ge­rade die einzige kür­zeste Verbindung.“ Beschäftigt man sich aber z. B. mit einer Geometrie der Kugeloberfläche und nimmt diese Art von Fläche als Beispiel einer zweidimensionalen „Mannigfaltigkeit“, sieht man, dass es zwischen Nord- und Südpol einer solchen Fläche verschiedene „kürzeste“ Verbindungen gibt. Die heutigen Ansichten über das Thema „Geo­metrie und Erfahrung“ haben sich weit von Kants Auffassungen entfernt. In diesem Falle Einstein mit un­überbietbarer Prägnanz: „Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklich­keit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.“ Ordnet man dem geometrischen Begriff der Geraden den physikalischen Weg des Lichtes zwischen zwei physi­kalischen „Punkten“ zu, wird die Frage nach der Art der Geometrie des durchstrahlten Raumes zu einer Zweck­mäßigkeitsfrage [bezüglich des Aufbaus unserer Theorien] im Zusammenspiel geometrischer und physikalischer Entwürfe. [Stegmüller spricht von „Konvention, Empirie und Einfachheit in der Theoriebildung“ und trägt in Band II seiner „Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie“ Überlegungen zur wissen­schaftstheoretischen Bedeutung der Allgemeinen Relativitätstheorie vor.]

 

Auch aus der Quantenphysik heraus sind Angriffe auf Kants Konzeptionen erfolgt. Sein Fest­halten an kausaler Notwendigkeit und „Determinismus“ in der Natur hat einem Indeterminis­mus [in Gestalt determinierter Wahr­scheinlichkeiten], zumindest für den Bereich subatomarer Geschehnisse, weichen müs­sen.

 

Genau genommen werden also sämtliche Berufungsin­stanzen und Bei­spiele Kants für „synthetisches Apriori“ in der Arithmetik , der Geometrie und in den Naturwissen­schaften bestritten. Mit der Anknüpfung an den damals zeitgenössischen Stand der wissenschaftstheoretischen Meinung hat sich Kant für die Motivierung seines synthe­tischen Apriori also auf lange Sicht keinen guten Dienst erwiesen. Damals [wie heute] war es ein [übliches] argumentum ad hominem, sich auf den „Stand der Wissenschaft“ zu berufen. Heute aber bringt es Kant in den Verdacht, von falschen Voraussetzungen ausge­gangen zu sein. Das ist sozusagen der Fluch des argumentum ad hominem.

 

In meiner Lesart geht es bei Kants Projekt einer „Kritik der reinen Vernunft“ nicht um eine The­orie der erfah­rungswissenschaftlichen Rationalität, auch nicht um eine Philosophie der Arithmetik und Geometrie, sondern, zumindest hauptsächlich, um eine Theorie nicht-empiri­scher Ratio­nalität. Genau deshalb handelt es sich ja auch um eine Theorie der Möglichkeit von Metaphy­sik. Es gibt durch die Raum-Zeit-Lehre durchaus Berührungspunkte mit einer Theorie der empirischen Rationalität, aber das eigentli­che Thema ist zunächst die nicht-empi­rische Ratio­nalität. Kants Philosophie der Arithmetik, Geometrie und auch Naturwissenschaft enthält Auffassungen, die vom „Stand der Wissenschaft“ überholt worden sind. Aber viele seiner Betrachtungen über die Möglichkeit nicht-empirischer Erkenntnisansprüche sind m. E. nicht überholt. Es ist hauptsächlich der Einstieg in die Untersuchun­gen, der von den falschen Beru­fungen belastet wird.

 

Kant hat also seine Untersuchungen über die „Möglichkeit der Erkenntnis a priori“ durch spe­zielle wissenschaftstheoretische Behauptungen motivieren wollen. Das hat sich aus heutiger Sicht als Missgriff erwiesen. Es belastet die Diskussionen über Kant. Wirft man aber einen Blick in die „Einzelheiten“ seiner Erörterungen, fällt einem auf, dass er einen Ansatz von au­ßerordentlich prinzipieller Allgemeingültigkeit verfolgt. Er hält [umfas­sende] Aussagen über die prinzipielle Möglichkeit von Erkenntnis für möglich. So können wir z. B. „voraussehen“, dass jegliche, uns mögliche Erkenntnis begrifflich und urteilsmäßig „aufge­baut“ bzw. be­schaffen sein muss. Sie muss prinzipiell bestimmte Anforderungen der „Denk­form“ erfüllen. Und sie muss andererseits, zumindest irgendwie, etwas mit der raum-zeitlich „aufgebauten“ Wirklichkeit zu tun haben. Das meinte der berühmte Satz „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ [B 75] – Das ist ein Satz über die prinzipielle Be­schaffenheit von erkennbarer Wahrheit überhaupt. Er sagt etwas über die Möglichkeit von Erkenntnisansprüchen aller Art, also empirischer, eventuell auch nicht-empi­ri­scher und metaphysischer Art. Er sagt etwas über die Art der Möglichkeit von „absoluter“, prinzipieller Wahrheit. Frage ist natürlich, wie ein Satz von so außerordentlicher Allgemein­heit selbst in seiner Gültigkeit erwiesen werden kann.

 

Ich scheue mich davor zu sagen, der Satz sei „selbst-referentiell“, ein Ausdruck, den man in bestimmten Diskus­sionen [z. B. über „Systemtheorie“] heute oft hört. Genau genommen nimmt er nur in Anspruch: „die Möglich­keit seiner selbst und die Mög­lichkeit von erkennbarer Wahrheit überhaupt.“ Er „referiert“ auf eine epistemische Modalität, auf eine Art des Erkennens überhaupt und somit auch auf eine Art des allgemeingültigen, nicht-hypothetischen Erkennens.

 

Die Wendung von der „Erkenntnis aus bloßen Begriffen“ ist beachtenswert. Aus Begriffen, „die wir haben“ oder jedenfalls bilden können. Kriterium für die „Möglichkeit“ eines Begriffs ist lediglich Denkbarkeit, nicht die tatsächliche Verbreitung des „Denkinhalts“ im allgemei­nen Sprachgebrauch. Kant glaubt aber, im Sprachgebrauch begriffliche Komponenten vorzu­finden, die nach entsprechender Reinigung von Konnotationen, eventuell auch Assoziationen, sich als Begriffe von prinzipiellen Erfordernissen erkennbarer Wahrheit [und ihr entsprechen­der Wirklichkeit] erweisen lassen. So ist z. B. der Begriff eines inneren Ichs des Bewusstseins der Begriff einer absoluten Bedin­gung [vom „Überhaupt“] des Denkens. So sind z.B. die Begriffe von Raum und Zeit Begriffe von Erfordernissen für einen etwaigen inhaltlichen Be­zug unseres Denkens auf eine etwaige Wirklichkeit. Erör­tert man nun Fragen des Zusammen­spiels solch verschiedenartiger Anforderungen etwaiger Erkenntnis- oder Wissensansprüche, hat man in den Zugang zu den eigentlichen Themen der „Kritik“ gefunden.

 

Beachtenswert ist nun die Art selbst dieser Theorie bezüglich der Möglichkeit von nicht-hypothetischer, allgemeiner und erkennbarer Wahrheit. Sie selbst ist ein Fall von nicht-empi­rischer, nicht-hypothetischer Theorie „aus bloßen Begriffen“. Sie selbst ist Theorie a priori. Ich habe bereits die Aussage von den leeren Gedanken und den blinden Anschauungen zitiert. Einer solchen Aussage, wenn sie gültig ist, muss Erkennbarkeit bezüglich der Mög­lichkeit von erkennbarer Wahrheit überhaupt zugrunde liegen. Die Erkenntnis der Erkenntnis­art ist selbst auch Erkenntnis. Wir vermögen sozusagen nicht hinter den Rücken unserer Er­kenntnis­fähigkeit zu gelangen. Dies ist nicht möglich, dies ist auch nicht erforderlich. Es ge­nügt, sich darüber zu verständigen, dass wir etwas Prinzipielles für alle Art der uns möglichen Erkennt­nis „voraussehen“ können, obwohl wir nicht alle möglichen Erkenntnisse in Schrift­form vor uns ausgebreitet liegen haben können, um sie Fall für Fall auf ihre Eigenart hin ana­lysieren zu können. Die begriffliche, urteilsmäßige und argumentationsmäßige Beschaffenheit sehen wir voraus, sowie die prinzipielle „Tatsache“, dass sie alle nicht von raum- und zeitlo­ser Wirk­lichkeit handeln können. Umgekehrt ausgedrückt: selbst im Falle sehr abstrakter Er­kenntnisse müssen diese noch etwas mit der raum-zeitlich ausgebreiteten Wirklichkeit zu tun haben. Derart sind die Beispiele für prinzipielle Begriffe von Anforderungen an Erkenntnis über­haupt. Wenn man erkennt, dass man derart allgemeine Begriffe von Anforderungen an Er­kenntniswahrheit hat bzw. haben kann, erkennt man, dass eine Erkenntnis der Erkenntnisart etwas Mögliches ist. Man vollzieht mit der Erkenntnis der Erkenntnisart selbst Erkenntnis und bewegt sich nicht hinter dem Rücken des Bewusstseins.

 

Insofern also eine Erkenntnis der Erkenntnisart etwas Mögliches ist, ist sie selbst ein Beispiel für die Möglichkeit einer erkennbaren, absoluten Wahrheit. Ich möchte noch einen Schritt hinzufügen: [Allein] der Bezug auf die [prinzipielle] Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt vermag etwaigen nicht-empirischen Erkenntnissen Sachbezug zu gewähren. Nicht-hypotheti­sche Theorie ist also nur möglich als Theorie der allgemeinen, empirischen und nicht-empiri­schen Erkenntnisform. Bezeichnet man empirische Erkenntnis als „ex datis“, nicht-empirische Erkenntnis als „ex principiis“, dann besteht das Vorhaben Kants darin, zu zeigen, dass eine Erkenntnis ex principiis nur möglich ist als Erkenntnis der prinzipiellsten Anforderungen an eine Erkenntnis ex datis. Die „Theorie der Erfahrung“ ist also nicht das eigentliche Thema der Kritik. Sondern der Bezug auf „die Möglichkeit der Erfahrung“ allein vermag unseren Er­kenntnissen a priori „Realität“ zu verschaffen. Als formale, sehr allgemeine und sehr prinzi­pielle Theorie des Empirischen vermag eine nicht-hypothetische Erkenntnis ihren Gültigkeits­anspruch zu erfüllen, nicht aber als Theorie außerräumlicher und überzeitlicher Wirklich­keit[en]. Absolutes Wissen ist möglich, aber lediglich sehr allgemeine und sehr prinzipielle Fragen der „Erkenntnis überhaupt“ betreffend. Man könnte auch sagen: lediglich Trivialitäten betreffend, die aber wegen ihres so allgemeinen und prinzipiellen Charakters keine Triviali­täten, sondern etwas sehr Grundsätzliches darstellen.

 

Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die Frage nach dem nicht-empirischen Wissenkön­nen für Kant so bedeutend war. Es ist die Frage nach dem nicht-hypo­thetischen Wissen, die ihn antrieb. Mit der transzendenten Metaphysik lief es z. B. auf Erkenntnisan­sprüche dieser Art hinaus. Sie fiel [bei Kant] der Grenzziehung zwischen wirklicher und angeblicher Wiss­barkeit zum Opfer, weil sie ex negativo, zumindest implizit, außerräumliche und über­zeitliche Undinge propagierte. Aber auch Mathematik, Geometrie und Logik wird unter die­sem Ge­sichtpunkt fragwürdig und interessant. Deshalb war es für Kant, nach seinen [fal­schen] Vor­aussetzungen klar, dass auch hier ein Problem des nicht-hypothetischen Wissen­könnens vor­liegen müsse. Er beantwortete das [ihm aufgegangene] Problem nach seiner prinzipiellen Leitlinie, dass das nicht­hypothetische Wissen ja die „Form der Erfahrung“ betreffen [bein­halten] könne, die in allen empirischen Erkenntnissen zwangsläufig enthalten sei. Nach heuti­gen mathemati­schen Grundlagendiskus­sionen besteht dieser Interpretationsbedarf allerdings nicht. „5 + 7 = 12“ ist analytisch wahr, und dass die Gerade die kürzeste Verbindung ist zwi­schen zwei Punkten, das ist nur innerhalb der euk­lidischen Geometrie „gültig“, wobei die euklidische Geometrie nicht einmal die zweckmäßigste Geometrie für die Beschreibung des kosmischen Raums darstellt. Der kosmische Raum fügt sich besser dem Beschreibungsmuster Rie­mann’schen Geometrie, in der z. B. die Winkelsumme eines realen Dreiecks ungleich 180 Grad sein kann.

 

Aber die Frage nach „dem Überhaupt“ des Wissenkönnens [mit Ansprüchen auf erkennbare Wahrheit verbunden] ist na­türlich nach wie vor aktuell. Wenn es hier ein prinzipielles Krite­rium gibt, dann hat man für allgemeine Fragen des Glaubens und Wissens einen grundsätzli­chen Anhaltspunkt, nach dem zwar sehr vieles, aber nicht alles als möglich gelten kann.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2006