Verhängnis und Fluch
Wir leben in einer fluchbeladenen Welt.
Unrecht Gut gedeiht mitunter, unverschuldetes Unglück geschieht ohne weiteres.
Die Sonne leuchtet gleichermaßen über Gut und Böse, Fortuna [Tyche] verteilt ihre Gaben mit verbundenen Augen. [Die Blindheit der Fortuna und die Blindheit der Justitia bedeuten etwas ganz anderes. Im „wirklichen Leben“ aber läuft es bisweilen auf dasselbe hinaus.]
Bertrand Russell, The Conquest of Happiness, Kap. 17: “Offenbar hängt das Glück zum Teil von den äußeren Verhältnissen, zum Teil von uns selbst ab.“
Weniger
ausgeglichen im Urteil ist Kohelet, Kap. 9, 11: „Ich
wandte mich und sah, wie es unter der Sonne zugeht, dass zu laufen nicht hilft
schnell sein, zum Streit hilft nicht stark sein, zur Nahrung hilft nicht
geschickt sein, zum Reichtum hilft nicht klug sein; dass einer angenehm sei,
dazu hilft nicht, dass er ein Ding wohl kann; sondern alles liegt an Zeit und
Glück.“
Erfolgreiche Betrüger betrügen weniger erfolgreiche Betrüger. Die List des einen wird durch die List anderer und die unvermeidliche Ironie die Schicksals entlarvt.
Täter und Opfer: Betrüger geraten an Betrüger und werden so selbst zu Betrugsopfern. Unaufrichtige geraten an Unaufrichtige und werden zu Opfern der Unaufrichtigkeit. Drängler geraten an Drängler und werden zu Opfern der Drängelei. Hysteriker geraten an Hysteriker und werden selbst zu Opfern der Hysterie.
Die Retorsion [von retorqueo: zurückdrehen, zurückwenden] unrechten Tuns auf den Täter geschieht nicht zwangsläufig und
unmittelbar. Nicht einmal mittelfristig oder langfristig zwangsläufig, soweit
wir sehen. Deshalb neigen die Freunde der harten Spiele zu der Ansicht, es sei
eine Frage der Geschicklichkeit und der angehäuften Macht, ob man zur
Rechenschaft gezogen wird oder nicht. Erfahrungsgemäß, so weit man sieht, gibt
es Beispiele pro und contra, letztlich aber ist die Annahme einer ausgleichenden
Gerechtigkeit keine empirisch entscheidbare Frage. Überlegungen dazu führen u.
a. auch über die Grenze des individuellen Lebens hinaus und sind mit weiteren
Zusatzannahmen in nicht-wissbaren Angelegenheiten
verbunden.
Was man allerdings oft geschildert
sieht, ist eine Art Paranoia der Macht wie bei Macbeth. Macbeth überschätzt
seine „Kraft zum Bösen“ und wird ein Opfer von abergläubigen und [zunächst]
paranoiden Befürchtungen und Prophezeiungen, die sich zuletzt an ihm auch
erfüllen.
Wir betrügen uns selbst, um uns der Wahrheit zum Trotz bei Laune zu halten, und wir betrügen andere, um unsere Absichten hinter deren Rücken zu verfolgen.
Überall regt sich die Bosheit und der Hunger nach Macht.
Vom Recht wird geredet, um Übervorteilung mit Einsatz von Machtmitteln gekämpft.
Machtgierige Despoten und verblendete Fanatiker sind besonders gefährlich. Aber auch der alltägliche Mensch sucht seinen Vorteil unter schwer durchdringlichem Vorwand auf Kosten von anderen.
Die vorgeblichen Motive sind selten die wirklichen und niemals die einzigen.
Machtgier, Habgier und Eigennutz sind primäre menschliche Motive, die immer wieder eine Lücke finden.
Eine Menschen-Welt, in der niemand nehmen würde, was ihm nicht [im Einvernehmen mit andern] gewährt wird, sähe anders aus als die unsrige. „Vielleicht wäre zu befürchten, dass mir gar nichts oder viel zu wenig zuteil wird,“ mag mancher dabei denken. Wir leben in einer Wirklichkeit, in welcher der Gesichtspunkt der moralischen Wechselseitigkeit weitgehend „utopisch“ [„ohne Ort“] ist.
Das Los der allermeisten ist erbärmlich, und viele sterben einen qualvollen Tod. Matt und welk siechen sie dahin.
Unglückliche Existenzen, schreckliche Tode und gescheiterte Projekte sind Bestandteile der Geschichte des Lebens, seitdem es menschliches Leben auf der Erde gibt.
Verträge, Handschlag, erzieltes Einvernehmen usw. gilt durchaus nicht immer.
Erfolgt zwischen zweien ein Einvernehmen, erfolgt es meist zu Lasten eines Dritten.
Wenn zwei sich streiten, freut sich ein Dritter; - wenn sie sich einigen, geht es meistens zu Lasten eines Dritten.
Einvernehmen erfolgt meist aufgrund einer Gemeinsamkeit einer kurzfristigen Interessenlage und einer Gemeinsamkeit des Nicht- in- Frage- stellens, also infolge einer trügerischen Oberflächlichkeit unserer Begriffe.
Einverständnis ist
häufig Missverständnis, manchmal lediglich stimmungsmäßiges Einvernehmen
aufgrund eines gemeinsamen Interesses, manchmal auch Einverständnis aufgrund
von gemeinsamem Vorurteil, jedenfalls seltener als wir glauben „echtes“ Einvernehmen
[aufgrund einer hinreichend präzisen Willenseinigung], das vielleicht kaum zu
definieren ist. [Die „ungleichen“ Verträge sind hier ein Problem.] In der Art
des erzielten Einvernehmens liegt oft schon der Stoff zu künftigen Konflikten,
als einer fast zwangsläufigen Disharmonie der entstehenden Erwartungen.
Wegen des Missbrauchs menschlicher Freiheit liegt die Welt im Argen. Ansonsten hätte man wenigstens den Trost, an unverschuldeten Übeln zu leiden. Das genau ist die menschliche Situation „nach dem Sündenfall“: zu leiden, aber nicht an unverschuldeten, bzw. nicht an völlig unverschuldeten Problemen. – Den Eigenanteil an der Misère zieht man nicht gerne in Betracht.
Diese Erde bietet ein Bild des Jammers.
Das relative Glück weniger ist auf der Misère vieler gebaut.
Man trägt seine Haut zu Markte, damit der Teufel [an den dessen metaphorische Existenz wir glauben] etwas zu verramschen hat.
Unser Vergnügen ist von der Art, dass es die Leiden anderer und sogar unserer selbst zur Voraussetzung oder Folge hat.
Not und Wahn bilden das Triebwerk unseres Alltags. Wir sind in illusorischen Erwartungen befangen, von der Begehrlichkeit gefesselt, dies oder jenes sei uns zuträglich, auch wenn wir es durch Verletzung mitmenschlicher Fairness erreichen.
Nicht abgrundtiefe Bosheit, sondern raffinierte Formen von Nicht-wissen-wollen und Wahrnehmungsvermeidung sind Kennzeichen unserer Handlungsweise. Ein einziger Moment der Besinnung, - den wir allerdings zu vermeiden wissen -, würde oft genügen, um eine weitreichende Verkettung von Unheil und Schuld zu verhindern.
Die Freuden dieser Welt sind karg bemessen, ihre Leiden unermesslich groß. Reminiszenz an Schopenhauer.
Die Geschichte der Menschheit ist eine Folge von nur teilweise gelungenen, wechselseitigen Selbstzerstörungsversuchen. – Dies bei steigernder technischer Effizienz.