Zu einer Passage aus Dostojewskijs „Die Brüder Karamassoff

 

Dostojewskij war der Ansicht: „Wenn Gott nicht existiert, ist alles erlaubt.“ [Die Brüder Karamasoff, Meinung des Iwan Fjodorowitsch.] Diesen Satz möchte ich hier in einer besonderen Weise deuten, allerdings unabhängig von D.s eigener Meinung darüber. Ich neige dabei zu einer Umkehrung des Satzes: „Weil nicht alles erlaubt ist, muss Gott existieren.“ Das gilt auch dann, wenn wir davon ausgehen, dass niemand einen „echten“ Beweis für die Existenz Gottes vorlegen kann.

 

Es gehört zur menschlichen Situation, nicht wissen zu können, wer [oder was] Gott ist und ob er [oder es] existiert. Ein wenig genauer: Von einer Reflexion her über Fragen des Wissen-könnens behaupten wir das Nicht-wissen-können [pro und contra] in bestimmten Fragen. Es ist die Forderung eines unumgänglichen [wenn auch oft indirekten] Raum-Zeit-Bezugs für alle empirischen und nicht-empirischen Erkenntnisse, die eine „Wissenschaft“ von Gott als außerräumlichem und überzeitlichem Etwas unmöglich macht. Obwohl nicht wirklich klar ist, wer [oder was] Gott ist, so wird doch vorausgesetzt, dass es sich um eine überempirische Entität handeln soll, z. B. um den ‚Urgrund’ aller Wirklichkeit, nicht aber um ein einzelnes materielles Ding, ein einzelnes Lebewesen oder ein Teil des Universums neben anderen.

 

Probeweise wollen wir zunächst einmal „erlaubt“ und „unerlaubt“ als eine Frage der sozialen Konvention betrachten. Was wir als „erlaubt“ und „unerlaubt“ bezeichnen, ist m. E. tatsächlich weitgehend eine Frage der sozialen Konvention. Aber wahrscheinlich nicht ausschließlich. Es gibt möglicherweise eine „unbedingte“ Handlungs- bzw. Verhaltensnorm, die uns z.B. gebietet, einen anderen Menschen auch dann nicht zu schädigen, wenn wir dies ungestraft vollbringen könnten und Vorteil davon hätten. In diesem Fall hätten wir Gott und letztendlich eine Maßnahme der ausgleichenden Gerechtigkeit zu befürchten.

Der Gesichtspunkt der ausgleichenden Gerechtigkeit, die man für nötig hält, wenn man von der Erfahrung der sehr unvollkommenen menschlichen Gerechtigkeit ausgeht, wird in fernöstlichen Religionen [in ausreichender Weise?] durch die Lehre von einer Verkettung entsprechender Wiederverkörperungen aufgenommen. Karma, die gewirkte Tat, wird zur Vergeltungskausalität, indem ich das, was ich andern antue, letztlich auch [irgendwann und irgendwo] erleiden muss. Die Tat fällt also derart auf mich selbst zurück.

 

Ich vermute, dass es mit der „ausgleichenden Gerechtigkeit“ auf folgenden Gesichtspunkt hinausläuft: was man einem andern antut, das tut man „letztlich“ [!] sich „irgendwie“ [!] selbst an. Ich finde es beeindruckend, dass der moralphilosophische Gedanke von einer wechselseitigen Zubilligung [von Handlungsweisen und Erwartungen] [„was du nicht willst, das man dir tu ...“]  mit dem [u. U. geheimnisvoll wirkenden] Motiv einer mystischen Alleinheit des [vernünftigen] Lebens verbunden werden kann. [„Tat twan asi“ – „Das bist du selbst“ bzw. „dieses Lebendige bist du“ heißt ein Motto in fernöstlichen „Geheimlehren“.] Was ich einem andern antue, das tue „ich“ „mir“ selbst an, auch wenn ich meine, einen „Normverstoß“ [bezüglich des „echten“ Sollens] als unerheblich und bedeutungslos herunter spielen zu können, z. B. auch, weil wir auf lange Sicht sowieso alle tot sind. Hier tritt ein nicht-empirischer, bzw. die Erfahrung weit überfliegender Begriff von „mir selbst“ in’s Spiel.

 

Das „tat twan asi“ findet sich im sechsten Teil der Chandogya-Upanishad, wo Uddalaka Aruni seinen Sohn Svetaketu über die All-Einheit des Seins belehrt: Im Grunde genommen sei alles eins und dasselbe und: „das bist du, o Shvetaketu.“ Die Intention der Lehre ist also naturphilosophisch. Für die Moralphilosophie ergibt sich das „tat twan asi“ m. E. zwangloser als für die Naturphilosophie. Der Mitmensch ist hier ebenso wie ich selbst lebendige Instanz eines potentiell allgemeingültigen Normbewusstseins. Was ich ihm antue, billige ich im Grunde genommen für mich selbst nach dem schwer abweisbaren Anspruch der gleichen Freiheit aller [unter hinreichend ähnlichen Umständen].

 

Die Rede von einem Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit beruht auf der Annahme, dass die von Menschen verwirklichten Formen von [z. B. vergeltender] Gerechtigkeit stark zu wünschen übrig lassen. Im Einzelfall führt es allerdings oft zu endlosen, schwer entscheidbaren Streitigkeiten, was „gerecht“, „ungerecht“, „erlaubt“ und „unerlaubt“ [und Ähnliches] ist. Das gilt für alle Arten von Gerechtigkeit, ebenso für die z. B. „verteilende“ Gerechtigkeit wie auch für die gerade genannte „sanktionierende“ Gerechtigkeit. Insgesamt kann man davon ausgehen, dass Ungerechtigkeit ein allseits bekanntes Phänomen des menschlichen Lebens darstellt, weil zu allen Zeiten darüber nachgedacht wurde. Dabei sind Phänomene „struktureller Gewalt“ und „struktureller“ Ungerechtigkeit besonders heimtückisch und oft schwer zu durchschauen, weil die Schuld schwer personell zuzuordnen ist, aber gerade „strukturelle“ Phänomene in historischen und gesellschaftlichen Situationen von weitreichender Bedeutung sind. „Strukturelle“ Ungerechtigkeiten führen ebenso wie anderes Unrecht zur ungerechtfertigten Minderung von Lebenschancen für all diejenigen Betroffenen, denen es nicht vergönnt war, zu entsprechender Zeit in entsprechenden Umständen „sich vorzufinden“.

Wir überheben uns hier weiterer Mühe, ein Argument für das Faktum der „Ungerechtigkeit der Welt“ zu schmieden. Wir setzen einfach voraus, dass es viele Beispiele dafür gibt, wenn man welche aufzählen wollte.

Wenn die Verbindlichkeit aller Gebote und Verbote lediglich [ganz und gar] konventionell wäre, dann könnte ich mir nicht die Frage stellen: „Warum darf ich nicht gegen die konventionelle Verhaltensnorm X verstoßen?“ Aber ich kann mir diese Frage stellen. – Nicht-dürfen ist das Gegenteil dessen, was ich gebotener Weise soll. - Dieses „warum darf ich nicht“ [im Falle eines strengen Nicht-Doch-Dürfens] verweist auf eine überkonventionelle Komponente in der hier gebrauchten Rede vom Sollen. [Man könnte sagen: „eine objektiv gültige Verbindlichkeit“, ein „eigentliches Sollen“] Wären „sollen“ und „konventionell geboten sein“ durchweg dasselbe, dann wäre es ganz trivial, warum konventionelle Gebote von mir beachtet werden sollten; - eben weil es sich um konventionelle Gebote handelt. Einen weiteren Beurteilungsmaßstab gäbe es nicht. Wir hätten einen „Positivismus“ der Sollensnorm im Sinne rein faktischen konventionellen Gebotenseins, „bewehrt“ mit entsprechenden Sanktionen. - Aber die Nürnberger bestrafen keinen, sie hätten ihn denn.

Ich kann mich dafür entscheiden, die Härte der Sanktionen in Kauf zu nehmen, falls meine Normverstöße [wider Erwarten] entdeckt und geahndet werden. Man wird mir sagen: „lass Dich nicht erwischen, sonst wirst du bestraft.“

Es erhebt sich die Frage, warum ich dies oder jenes auch dann nicht tun sollte, wenn ich die begründete Voraussicht und Hoffnung dafür habe, unentdeckt und [oder] straffrei zu bleiben. In diesem Fall sagt man den Kindern: „Gott sieht alles.“ – Dazu Fritz Nietzsche, feinsinnig und treffend: „Wie unfein!“

Den möglichen Gedanken, Gott, der alles sieht, als Wächter einer ausschließlich konventionalistisch gültigen Moral zu bemühen, übergehe ich hier. – Wir vermögen nicht zu wissen, ob Gott existiert, und wer er ist. Dennoch nehme ich an: sollte er existieren, d. h. wenn er existiert, so ist es unter seiner Würde, Vergeltung zu üben in Bezug auf eine lediglich konventionelle Moral.

Für den Fall, dass einer ungestraft gegen soziale Konventionen verstoßen könnte, wäre der Verstoß für ihn folgenlos und ‚irgendwie’ unerheblich, wenn er nicht selbst darunter leidet. Gegen verschiedene Normen verstoßen und straffrei dabei bleiben, könnte ein Ziel werden. Die Faszination des perfekten Verbrechens gehört hierher.

Man kann bei diesen Betrachtungen leicht darauf verfallen, die Einführung des allwissenden und vergeltenden Gottes hänge mit dem Bedürfnis zusammen, Sozialkontrolle, Erwartungsdruck und Aufsicht über alles menschliche Maß hinaus zu perfektionieren. Man bedenke aber, dass nur das als überkonventionell angesetzte „eigentliche“ Sollen diesen Glaubensartikel motiviert.

Auch eine säkulare, weitgehend atheistische Gesellschaft hat – gemäß ihrer ‚Systemlogik’ – Wertvorstellungen, Verbote und Gebote. In Begründungsfragen lediglich verzichtet sie auf theologische und metaphysisch-transzendente Behauptungen und motiviert ihre Spielregeln durch profane Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte allein. Aber es geschieht, dass Auffassungen folgender Art entstehen: Ungerechtigkeiten und Übervorteilung des anderen könnten von Fall zu Fall zum erstrebten Erfolg eines einzelnen oder einer partikularen Gruppe erforderlich sein. [Lady Macbeth z. B. fragt: „Du willst die Macht erringen? Hast du denn auch die Kraft zum Bösen?“] Nicht-sanktionierbare Ungerechtigkeiten oder gar Verbrechen, die z. B. wegen Machtstellung u. U. gar nicht erkannt oder verfolgt werden können, könnten im Einzelfall als Mittel zum Zweck erscheinen. Vielleicht „sollte“ man sich sogar in machiavellistischer Denkart darin üben, mit Ungerechtigkeiten, die man andern antun möchte, [z. B. psychisch] zurechtzukommen und den geschicktesten Zeitpunkt für die Begehung dieser Ungerechtigkeiten herauszufinden.

Ja, noch mehr: Die Klugheit könnte es u.U. gebieten, jemand zu schädigen, solange man es noch unbemerkt und ungestraft vollbríngen kann. Das Motto der goldenen Regel könnte sich u.U. verkehren zu: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ dem andern zu, solange es noch möglich ist.“

Unerkannte und nicht-sanktionierbare Normverstöße wären u. U. letztlich folgenlos für den Täter, wenn es Gott [und eine Art von Fortdauer unserer personalen Existenz] nicht gäbe. [Schopenhauer bemerkt zurecht, dass man die meisten Dummheiten schon hier auf Erden büßt.] Der übliche menschliche Gang der Dinge mit all seinen Unzulänglichkeiten wäre alles, mit dem der Mensch zu rechnen hätte. Darüber hinaus wäre nichts zu befürchten.

Umgekehrt der Fall der unverschuldeten Situation der Verzweiflung, welche viele Menschen oft ohnmächtig erdulden müssen. H. Böll z. B. schildert die Situation des Soldaten, der gezwungener Maßen in den Krieg zieht und im Schützengraben ausharren muss.

 

„Gott ist der einzige, der einem Soldaten im Schützengraben helfen kann. Denn kein Mensch kann ihm helfen.“

 

Wenn wir Gott hier aus dem Spiel lassen, so kann diesem Soldaten wirklich niemand helfen. Wenn er Pech hat, wird er verstümmelt und getötet. Zur Steigerung der Sache kommt hinzu, dass die Situation des Soldaten durch einen Krieg verschuldet ist, der ein verbrecherisches Wahnsinnsprojekt [anderer?] darstellt.

 

Es genügt m. E. [in moralphilosophischer Absicht], wenn wir die Frage nach der Existenz Gottes offen lassen. Aber man muss sie auch wirklich offen lassen. Nur die sichere Nicht-Existenz Gottes stellt uns vor schwer erträgliche gedankliche Konsequenzen. Wenn wir ganz genau wissen könnten, dass Gott nicht existiert, bräuchten wir den letztendlichen Ausgleich menschlicher Ungerechtigkeiten nicht zu fürchten, bzw. wir hätten auch nichts zu erhoffen, wenn wir selbst Opfer des Unrechts werden. Die menschlichen Angelegenheiten wären letztendlich unerheblich und ohne nennenswerte Konsequenz. Es gäbe nicht einmal die kompetente moralische Beurteilung des Menschen, denn bereits dafür sind übermenschliche Fähigkeiten erforderlich. [Der Mensch kann sich selbst leicht etwas vormachen, aber gerade damit soll es ja nicht getan sein.] Das Unrecht, das andere von unserer Seite her ohnmächtig erdulden wie auch das Unrecht, das wir selbst ohnmächtig erdulden, kann von keinem Menschen abschließend beurteilt und gewichtet werden. Wir würden eine Zeit lang darüber debattieren, zweifelhafte Entscheidungen fällen und über kurz oder lang wäre alles völlig vergessen.

In diesem Sinne deute ich das Dostojewski-Wort. Es gäbe kein verbindliches Sollen, wenn feststünde, dass es Gott nicht gibt. – Aus der philosophischen Tradition haben wir den Begriff von Gott als des Inbegriffs an denkbaren Inhalten überhaupt, aus moralphilosophischen Folgebedürfnissen prädizieren wir Gott die anthropomorphen Eigenschaften der Erkenntnis und des Willens [Persönlichkeit], allerdings im übermenschlichen Maß.

Es genügt, die Frage nach der Existenz Gottes offen zu lassen. Wir behaupten weiterhin, wissen zu können, dass diese Existenzfrage für uns unentscheidbar ist.

Werfen wir noch einen Blick auf die Gedankenkombination „Nicht-Existenz Gottes und lediglich konventionelle Verbindlichkeit allen Sollens.“ [Hier muss weiter unterschieden werden in mutmaßliche Nicht-Existenz Gottes und sichere Nicht-Existenz.]

Die probeweise angenommene sichere Nicht-Existenz Gottes lässt konventionelle Spielregeln des menschlichen Lebens bestehen. Wenn sie alle tatsächlich nur konventionell gültig sind, ist ein Verstoß dagegen, der für den Täter ohne unangenehme Konsequenzen bleibt, für diesen leicht zu verkraften. Gibt es aber überkonventionell gültige Regeln des Guten und Bösen, besteht zwar ihre Verbindlichkeit [gemäß irgendeinem Verfahren des Aufweises oder der Begründung], aber ein Verstoß gegen sie wird für den einzelnen unter entsprechenden Bedingungen folgenlos und unerheblich. Weil sie dann zwar „an sich“ und „eigentlich“ gültig sind, aber in vielen denkbaren Fällen ohne weitere Konsequenz. Wohlgemerkt: bei sicherer Nicht-Existenz Gottes und unter den besonderen Bedingungen der Nicht-Auffälligkeit und [oder] Unsanktionierbarkeit des Normverstoßes. Ohne die Existenz Gottes bleibt uns in einer Situation großer Geschicklichkeit oder ausreichender Macht nichts zu befürchten, in einer Situation der Ohnmacht aber auch nichts zu hoffen.

Tatsächlich können wir unserer Situation, Fähigkeit und Macht niemals sicher sein. Sehr vieles verändert sich. Es ist niemals sicher, ob wir uns in einer Situation ausreichender Fähigkeiten oder Macht befinden, oder ob wir die Folgen unseres Tuns meistern können. Der Mensch ist vielmehr in aller Regel ein physisch und psychisch ziemlich gebrechliches Wesen und besitzt weder die ausreichende Kraft zum Gutem noch zum Bösen. Von einem zukünftigen Leben kann er nichts wissen, von der Existenz Gottes ebenfalls nicht. Aber ebenso wenig vermag er sich des Gegenteils zu versichern, und genau durch diese Sachlage kann ein überkonventioneller Kern der Moral, ‚worauf es wirklich ankommt’, in Geltung erhalten werden. [Bei diesem überkonventionellen Gehalt der „eigentlichen“ Moral denke ich an die Goldene Regel. Die Ableitung inhaltlich bestimmter Verhaltensregeln für die konkrete Situation aus diesem Prinzip führt zu einer ganzen Reihe von Einzelproblemen: Auffassung der Situation, also ihre Wahrnehmung, Deutung und Analyse, Auffassung und Bewertung der zu tätigenden Verhaltensweise etc..]

Wir reflektieren hier zwei Motive: Nicht-Existenz Gottes und Konventionalismus von Gut und Böse. Unter Voraussetzung eines überkonventionellen Kerns der Moral ergibt sich die Frage der letztendlichen Erkennbarkeit und Beurteilung der wahren moralischen Beschaffenheit menschlicher Handlungen unabhängig von ihren empirisch-faktischen Konsequenzen, die immer etwas Zufälliges und Unvorhergesehenes mit sich führen.

Es erscheint mir erwähnenswert, dass der Gedanke der Existenz Gottes ebenso sehr seine unerträgliche Seite hat wie der Gedanke seiner Nicht-Existenz. Seine Nicht-Existenz lässt uns bestimmte menschliche Misèren völlig deprimierend und ausweglos erscheinen. In der Not oder am Vorabend einer schweren Operation spüren wir im glücklichen Fall ein Zutrauen auf den Gang der Dinge, der nur teilweise in menschlicher Macht steht. In anderen Situationen ist aber wieder ganz anders: Der Gedanke an Gottes Existenz erweckt dann das unangenehme Gefühl, dass nichts unentdeckt und verborgen bleiben kann. Wir haben also eine Ambivalenz von positiven und negativen Gefühlen, vertrauensvolle Stimmung und schlimme Befürchtungen je nach Situation. Eine Sache des sicheren Wissens oder auch nur der Wissbarkeit ist weder Existenz noch Nicht-Existenz Gottes. Diese „Wissenssituation“ macht die Sachlage vielleicht am ehesten erträglich.

 

Die Passage aus Dostojewskis Roman „die Brüder Karamasoff“, auf die ich mich beziehe, findet sich im Band 1, Buch 2, Kap. 6. Eine Person namens Miusoff berichtet über einen Vortrag des Iwan Fjodorowitsch:

 

„... ein Naturgesetz ‚der Mensch muss die Menschheit lieben’ – existiere überhaupt nicht, und wenn es bis jetzt auf der Erde trotzdem Liebe gäbe, geschähe dieses nicht nach einem Naturgesetz, sondern einzig darum, weil die Menschen noch an ihre Unsterblichkeit glaubten. Iwan Fjodorowitsch fügte bei der Gelegenheit noch en parathèse hinzu, dass ... , sodass, wenn man im Menschen den Glauben an seine Unsterblichkeit vernichtete, in ihm nicht nur die Liebe, sondern überhaupt jede lebendige Kraft zur Fortsetzung des irdischen Lebens versiegen würde. Und nicht nur das: es würde dann auch kein Schamgefühl mehr geben, sagte er, alles würde dann erlaubt sein, sogar die Menschenfresserei. Aber auch damit war’s noch nicht genug: er schloss mit der Behauptung, dass für jede Privatperson, wie hier zum Beispiel ich, die weder an Gott noch an ihre eigene Unsterblichkeit glaubt, das sittliche Gesetz der Natur sich in das volle Gegenteil des früheren religiösen Gesetzes verwandeln würde, und dass der Egoismus, sogar bis zum Verbrechen, dem Menschen nicht nur erlaubt sein, sondern für ihn als unvermeidlicher, vernünftigster und womöglich edelster Ausweg in seiner Lage anerkannt werden müsse. ...“

 

Dazu der ebenfalls anwesende Dmitrij Fjodorowitsch:

 

„Erlauben Sie, damit ich mich nicht verhört habe: ‚Das Verbrechen muss nicht nur erlaubt sein, sondern sogar als unvermeidlicher und vernünftigster Ausweg aus der Lage eines jeden Atheisten anerkannt werden!’ War es so wortwörtlich?“

„Genau so“, sagte Pater Paissij.

 

Dann erfolgt eine Rückfrage des Staretz an Iwan Fjodorowitsch:

 

„Ist diese Äußerung über die Folgen, die der Verlust des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele für den Menschen haben würde, wirklich ihre Überzeugung?“

 

Iwan antwortet:

 

„Ja, ich habe das einmal behauptet. Es gibt keine Tugend, wenn es keine Unsterblichkeit gibt.“

 

Das „erlaubt“ in diesen Passagen ist nicht leicht zu deuten. Es ist auf keinen Fall das konventionelle „erlaubt“, denn auch die atheistische Gesellschaft wird Verbote kennen, die sie möglicherweise sogar mit besonders starken Sanktionen ausstattet. Es ist aber auch nicht die „natürliche“ oder „rationale“ Moralität, die durch die atheistische Position „direkt“ aufgehoben wird. Ein „objektiv verbindliches Sollen“ wird aber ‚indirekt’ durch den Standpunkt geschwächt, dass im Falle eines zu erzielenden Vorteils durch einen unerkannten und nicht sanktionierbaren Normverstoß die Sache letztlich unfeststellbar, unerheblich und folgenlos bleibt. – In diesem Zusammenhang ergibt sich auch zwanglos D.s Interesse für die Problematik des „erlaubten“, eventuell perfekten Verbrechens, ein Hauptmotiv auch in mehreren anderen seiner Werke.

Die religiösen Glaubensinhalte, denen D. die Verbindung zum überkonventionellen Guten und Bösen zuspricht, sind interessanterweise genau die Hauptpunkte der kantischen Postulatenlehre, die den Kern der kantischen Religionsphilosophie darstellen. Kants Gedankengang führt von der Konzeption des Sollens als rein rationaler Nötigung zu den Folgepositionen der Freiheit, der Unsterblichkeit und des Dasein Gottes.

Nach unseren Überlegungen ergibt sich zunächst nur der Glaube an die Fortexistenz des Subjekts der moralischen Imputation [im Unterschied zur völligen Unsterblichkeit dieses Subjekts]. Auch hierbei geht es allein darum, dem Gedanken von der letztendlichen Unerheblichkeit und Gleichgültigkeit der Normbefolgung oder des Normverstoßes den Boden zu entziehen.

Wenn es die überkonventionelle Sollensnorm gibt, so läuft das auf folgendes hinaus: Wir sollen so handeln, als würden unsere Taten letztlich kompetent beurteilt. So, als ob wir rechnen müssten mit unserer Fortdauer und dem Dasein Gottes. Deshalb wird die Behauptung, es sei sicher, dass wir damit nicht zu rechnen hätten, als  dogmatischer Unglaube in unentscheidbaren Fragen zurückgewiesen.

Bei all diesen Überlegungen liegt der Gedanke nahe, dass wir zum Zwecke ethisch-moralischen Überlegungen und Zurechnungen zunächst ein andauerndes, „identisches“ Subjekt der Zurechnungen „erfunden“ haben, um dann in der Religionslehre sogar noch zur „Fortdauer“ dieses gedachten Etwas über alle Erfahrung hinaus fortzuschreiten. Das Subjekt der Imputation hat m. E. tatsächlich den Charakter der Konstruktion eines lediglich [immerhin?] Denkbaren. Es handelt sich [bei der Existenzannahme dieses Subjekts] eher um eine Voraussetzung verschiedener alltäglicher Überlegungen [über Gut und Böse] als um etwas einwandfrei Erweisbares. [Wir werden eher auf eine Voraussetzung verschiedener Gedanken aufmerksam, als dass wir einen Beweis für diese Voraussetzung liefern würden.] Trotzdem ist es keine willkürliche Fiktion, die man ohne weiteres fallen lassen könnte. Wenn man diese Dinge fallen lässt, ergibt sich in der Tat eine Nihilismusproblematik [bezüglich der Verbindlichkeit von Sollensnormen, die unser Verhalten betreffen.]

 

Religionsphilosophie besteht in Reflexionen auf Glaubensrationalität. Glaubensrationalität ist die Rationalität in Angelegenheiten, worüber wir nichts wissen können. [Dies betrifft in der Hauptsache das immaterielle Wesen des menschlichen Geistes und das Dasein Gottes.] Die Wissbarkeit bezüglich des Nicht-wissens in bestimmten empirisch unentscheidbaren Angelegenheiten [die aber Denkbarkeiten sind] wird dabei vorausgesetzt. Man fragt danach, ob es dennoch Gründe gibt, für bestimmte Standpunkte in bestimmten Nicht-wissens-Angelegenheiten zu optieren.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003