Buddhistische Anklänge

Psychologische, religiöse und philosophische Partikel

 

[versuchte Kurzfassung des Ganzen]

Das Leben ist uns um den Preis des Todes, das Glück, - wenn überhaupt -, um den Preis sei­ner Unvollkommenheit [und Unbeständigkeit] gegeben. [Kontext, 1. Wahrheit] Damit sind zwei der drei vom Buddha angenommenen ‚Daseinsmerkmale’ genannt: Vergänglichkeit [anicca] und Leidunterworfensein [dukkha].

 

Das dritte Merkmal, anatta, z. B. als ‚Ichlosigkeit’ oder ‚Selbstheitsermangelung’ übersetzt, ist schwerer zu ver­stehen. Es meint die Nicht-Exis­tenz eines „wahren“ oder „eigentlichen“ Ich-Selbsts in der gesamten erfassbaren Wirklichkeit. „Alle Dinge sind das Nicht-Selbst,“ lehrt der Buddha. Und: „Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.“ [z. B. M 109]

 

Es gibt nichts [im gesamten Bereich des Wirklichen und des Denkbaren], in Bezug worauf ich sagen kann: „Das bin ich selbst“, 1. im Unterschied zu allen Inhalten meines Denkens, 2. im Unterschied zu alle dem, was mir an Eigen­schaften zukommt, [im Unterschied zu allem,] was mir umstandsgemäß zugefallen ist, [im Unterschied zu al­lem,], was ich mir zueigen gemacht habe, [im Unterschied zu allem,] was ich mir [aus irgendwelchen Grün­den] zurechne.

 

Die gesamte erfassbare Wirklichkeit [des bedingten Entstehens und Vergehens] enthält nichts, was ich mit dem inneren Ich meines Bewusstseins gleichsetzen kann. Sie unterliegt der Erman­gelung an unbedingtem, reinen Selbst-Sein. Das eigentliche Ich ist kein Teil der Wirklichkeit. ‚Wirklich’ sind wech­selnde ‚Gruppierun­gen’ [Aggregationen, khandas] vergänglicher Daseinsfaktoren und Konstellationen sowie Überlagerungen und Wech­selwirkungen verschie­dener Prozesse. Von all diesen Dingen und Geschehnissen aber gilt: „Das ist nicht mein Ich, das bin ich nicht selbst.“ Das gilt auch von meiner psycho-sozialen ‚Identität’ und Individualität. Es gilt auch von meinen relationalen Eigen­schaften, z. B. davon, dass ich der Sohn meiner Eltern, der Bruder mei­ner Geschwister, der Freund meiner Freunde und der Schüler meiner Lehrer bin. – Soviel als Auftakt zur Anatta-Lehre, die ein Kernbestand der Buddha-Lehre ist.

 

Gleichbedeutend mit der Rede von den „drei Daseinsmerkmalen“ [ti-lakkhana] ist die Rede von den „drei [grundlegenden] Tatsachen“. 1. Vergänglichkeit des bedingt Entstandenen 2. Unvollkommenheit des Glücks [Mangel an „Beständigkeit des wahren Glücks“] 3. Leerheit [sunnata] an substantiellem und unvergänglichem Da­sein.

 

Die Daseinsmerkmale stehen in limitativ-komplementärem Gegensatz zu den [immerhin? lediglich?] denkbaren Merkmalen des Nirwahn. Un-vergänglich-sein, Un-bedingt-sein, Vollkommen-genug-sein, Wahrhaft-selbst-sein. Letzteres im Sinne des Denkens selbst [d. i. des absoluten Subjekts bezüglich] all dessen, was [von mir und allen andern auch] [als Denkinhalt] gedacht werden kann.

 

Ich halte es der Erwähnung für wert, dass die „drei Merkmale“ drei Arten von Wirklichkeit ent­sprechen, mit welchen der Mensch zu tun hat. Das erste Merkmal ist naturphilosophisch und betrifft das bedingte Entstehen und Vergehen natürlicher Gestaltbildungen in der raum-zeitlich ausgebreiteten, körperlichen Wirklichkeit. Das zweite Merkmal ist psychologisch und betrifft z. B. die Tatsache, dass wir mit ungestillten Trieben und Bedürfnissen [sowie Empfin­dungen der Unzufriedenheit] schmachten müssen, und dass es einen dauerhaften Genuss wah­rer Freuden des Lebens nicht gibt. Das dritte Merkmal korrespondiert der Tatsache, dass wir es nicht nur mit materieller und psychi­scher Realität, sondern auch mit [ev. rein konjunktivi­schen bzw. kontrafaktischen] Denkbar­keiten [mental Erfasstem] zu tun haben. Mehr oder weniger abstrakte Denkbarkeiten halte ich nicht einfach für natürlich Ge­gebenes. Es gibt mancherlei Denkbares, was niemals Wirklich­keit war oder sein wird. Den­noch spielen Denk­barkeiten eine große Rolle im menschlichen Leben, nicht nur in Form von logischen und ma­thematischen Modellen und Entitäten wie z.B. Zahlen, Zusammenhängen von Messergebnis­sen oder dem Denkmodell „klassische Partikelmechanik“, sondern auch in Form von Sorgen, Befürchtungen, Idealbildungen usw..

 

Die Sorge betrifft z.B. Eventualitäten, die sich nach uns verfügbarer Erkenntnis realisieren könn­ten, aber wegen dieses konjunktivischen Charakters „lediglich“ Denkbarkeiten darstel­len. Außer der „Re­alität“ der Befürch­tung selbst kann unsere Befürchtung grundlos und ge­gens­tandslos sein und doch sehr reale Auswirkungen in unserem Leben haben. Manchmal sind wir so sehr auf bestimmte Befürchtungen und Sorgen fi­xiert, dass wir andere, tatsächlich beste­hende Gefahren übersehen. Man bemerkt die Bedrohung durch die Skylla und gerät un­verse­hens in den Strudel der Charybde, deren Gefahr einem überhaupt nicht bewusst war.

 

Durch Ansammlung verschiedener Bedingungen [Zu­sammentreten, Zusammentreffen, Grup­pierung] entstehen und vergehen verschiedene [prozessartige] Daseinsphäno­mene. Diese Phä­nomene er­schöpfen sich z. B. durch Alterungs- und Abnut­zungsgeschehnisse bzw. da­durch, dass der Zahn der Zeit mehr und mehr an ihnen nagt. Emp­fun­den wird das Ganze von den empfin­dungsfähigen Lebewesen nur zu ei­nem geringen, aber ent­scheidenden Teil als beson­ders lustvoll [bei der sexuellen Fortpflanzung], überwiegend allerdings als nicht [völlig] be­dürfnisge­recht. Letztlich tritt der den­kende Mensch mit seinem un­geheuren Abstrakti­onsver­mögen hinzu und sagt: „All dies endlos bedingte Entstehen und Vergehen, das ist nicht mein wah­res Ich.“ Die Befähigung zu dieser Loslösung gilt als höchste Fähigkeit des Men­schen. Sie befähigt ihn zur Besänftigung seines inneren Drangs und zum Denken der Stille. Als letztes Ziel der Übung propagiert der Buddha „Entwurze­lung der Anhaf­tungen“, „Ent­süch­tung“, „Geistesruhe“, „Triebversiegung“ und „Durchbrechung der Da­seinsrunde“, „Los­lö­sung“, „Erlösung“ und „Nicht-Wiederkehr“.

 

[Dukkha]

„Dukkha“ bedeutet eher „Ungenügen“ als „Leiden“, mit dem wir es in der Regel übersetzt finden. „Dukkha“ werden nicht nur alle Formen von Not und Bedrängnis genannt, sondern auch alle Formen von schwer bestimmbarem Ungenügen. Alles, was uns wurmt und nicht leicht zur Ruhe kommen lasst, ist dukkha. [Kontext, 1. Wahrheit]

 

Gleich zu Anfang treffen wir also auf eine für „weltanschauliches“ Denken typische Erweiterung der Anwen­dungssphäre eines alltagssprachlichen Ausdrucks. Der Ausdruck „Leiden“ im Kontext der Buddha-Lehre ist unspezifischer [allgemeiner, unbestimmter] als der alltagssprachliche Ausdruck und besitzt somit eine weitaus umfassendere Extension. Mit der Falsifizierbarkeit entsprechender [diesen Ausdruck enthaltender] Aussagen wie z. B. „das Leben ist dukkha“ wird es damit schwieriger. Die Aussage wird weitgehend immun für Widerle­gungsversuche und für jedes Ja/Nein-Experiment. Wahrscheinlich ist sie dennoch eine Wahrheit bezüglich allen empfindsamen Lebens in der Natur.

 

Zu entbehren, was man braucht, ist dukkha. Zu entbehren, was man zu brauchen glaubt, ist ebenfalls dukkha.

„Nicht erlangen, was man wünscht“, ist dukkha.

In Umstände geraten, wie man sie sich nicht wünscht, ist dukkha.

Zu erlangen, was man wünscht, was einem dann aber nicht zuträglich ist, ist ebenfalls dukkha.

Es gibt Fälle, in denen uns Schlimmes geschieht, wenn uns zuteil wird, wonach wir schmachten.

Tun müssen, was wir nicht wünschen und unterlassen müssen, was wir so gerne täten, ist dukkha.

Zusammensein mit denen, die uns gleichgültig sind und Nicht-Zusammensein mit denen, in deren Gesellschaft wir gerne wären, ist dukkha.

Über Dinge sprechen müssen, die uns gerade nicht interessieren und über Dinge nicht spre­chen zu dürfen, über die wir uns gerne bereden möchten, ist dukkha.

Von denen nicht anerkannt werden, an deren Wertschätzung uns liegt und anstatt dessen die Wertschät­zung derer zu erhalten, an deren Meinung uns wenig liegt, ist dukkha.

 

Wollen, was man nicht kann, und müssen, was man nicht will, ist dukkha.

 

Lieben und auf keine Gegenliebe treffen, ist dukkha. Geliebt-werden und nicht wieder-lieben, ist ebenfalls dukkha.

 

„Zusammen-sein mit Unliebsamem, Getrennt-sein von Liebsamen“ ist eine Definition des raum-zeitlichen, psycho-somatischen In-der-Welt-seins der Lebewesen. - Raum ist die Art des Zusammenseins von Gleichzeitigem. - Dazu ein anmutiges Zitat:

 

„Wenn Unliebsames man erblickt,

erst geistiges Leiden sich erhebt,

tritt jenes aber nah heran,

kommt’s auch zu körperlichem Leid.“

 

Also ist dukkha jede Unzulänglichkeit, jegliches Ungenügen und jegliche Unvollkommenheit in einem sehr weiten Sinn. Jede Diskrepanz zwischen Wunsch und Realität, zwischen inne­rem Bedürfnis und äußeren Umständen, oder auch nur zwischen schwer harmonisierbaren Bedürfnissen. Unzulänglich ist „das Gegebene“, bzw. „das Gewordene“ oder „Entstandene“ respektiv irgendwelcher Bedürfnisse und Erwartun­gen, die wir uns aus ir­gendwelchen Grün­den nun einmal zueigen gemacht haben. [Kontext, 1. Wahr­heit]

 

Ein „existentialistischer“ Gesichtspunkt: Bedürfnisse und Wünsche hat man, indem man sie sich zueigen gemacht hat. Subjekt unseres Bewusstseins ist ein Vermögen [eine Fähigkeit] des Sich-zu-eigen-machens oder Sich-nicht-zu-eigen-machens [Annahme und Zurückwei­sung] von Bewusstseinsinhalten, des Festhaltens oder Ziehenlassens der Gedanken- und Wil­lensimpulse. [Kontext, 4. Wahrheit]

 

Man muss nach dem genannten „existentialistischen“ Gesichtspunkt nicht annehmen, dass Stimmungen, Emotionen usw. willkürlich, bzw. in freier Selbsttätigkeit produziert werden. - Die freie Selbstsetzung, um auf Fichte anzuspielen, betrifft nur das innerste Ich, welches als nicht-physisch, nicht-psy­chisch, a-historisch, a-individuell „bestimmt“ wird. - Das Subjek­tive, welches individuell ist [„trotz“ sozial-psychologischer Abhängigkeit], wird durch die Macht des unsichtbaren Geistes lediglich [immerhin?] [mehr oder weniger] beeinflusst. Der Buddha geht davon aus, dass wir die Macht besitzen, unseren inneren Drang [mehr und mehr] zu be­sänftigen. Er sagt nicht, dass wir, sozu­sagen aus dem Stand heraus, die Herren und Kontrol­leure unserer inneren Impulse wären. Zügelung und Meisterschaft über den inneren Drang [zum Unheilsamen] ist das Fernziel langer Übung. „Vollständige Geisteskontrolle“ u. dgl. sind Aufgaben und ferne Ziele, die man nicht einfach durch Entschluss „unmittelbar“ ver­wirklichen kann.

 

Wir sind nicht die Meister unserer Aufgeregtheiten. Wir können uns lediglich darin üben, es mehr und mehr zu werden.

 

Die Fähigkeit, sich etwas zueigen zu machen [oder nicht], ist nicht statisch sondern veränder­lich. Wir können uns auch Fähigkeiten aneignen. Es gibt also Fähigkeiten höherer Stufenord­nung, nämlich in Beziehung darauf, uns irgendwelche andere Fähigkeiten zu erwerben. So kann man gewisser Maßen auch lernen, wie man lernt. Man kann sagen: Fähigkeiten des An­eignens sind rekursiv und bauen sich auf irgendwelchen grundlegenderen Fähigkeiten des Sich-Aneignens auf. Die entstehenden Fähigkeiten selbst stehen also in Relation zu jeweils vor- und vorvorgängigen Fähigkeiten. Dies ist ein auch in der Existenzphilosophie wichtig gewordener Gedanke. Kierkegaard z. B., ein Vorläufer dieser Denkweise, gab für den menschlichen Geist die sonderbare Kennzeichnung, er sei ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. So könnte man, genau genommen, auch den Buddha, vielleicht auch noch etli­che andere, zu Vorläufern dieser bedeutenden anthropologischen Einsicht machen. Man kann diese Einsicht auch ausdrücken, indem man sagt, dass es uns nicht möglich ist, uns nicht zu verhalten. Auch wenn wir uns manchmal lediglich als Opfer des Verhaltens unserer Mitmen­schen sehen, haben wir doch eventuell Eigenanteil am Ergebnis der Wechselwirkung, indem wir uns Verhaltens- und Denk­weisen zu eigen gemacht haben, die zum Endresultat beigetra­gen haben. – Es hat uns z. B. jemand Unrecht getan, aber es erhebt sich dann auch die Frage, wie wir damit umgehen, und ob wir keinen vermeidbaren Zusatzschaden anhäufen. - Hier eröffnet sich eine subtile Psycholo­gie der selbstverantwortlichen Eigenanteile.

 

Der Mensch erzeugt seine eigentümlichen Fähigkeiten in Wechselwirkungen und Rückkopp­lungen mit anderen Menschen, mit den Dingen und auch mit sich selbst. Kaum eine seiner Eigenschaften kommt ihm einfach nur statisch und in unveränderlicher Weise zu. Er existiert zu einem erheblichen Teil als sich selbst veränderndes Verhältnis zu sich selbst.

 

Wir leben in einer von unseren Wünschen und Erwartungen weitgehend unabhängigen Ord­nung der Wirk­lichkeit. Unsere Absichten werden von den tatsächlichen Geschehnissen oft durchkreuzt. [Kontext, 1. Wahrheit]

 

Es gibt selten ein Ding oder eine Situation, die unseren [augenblicklichen] Bedürfnissen zu 100 % gerecht werden. [Kontext, 1. Wahrheit]

 

Ein einzelnes Bedürfnis für sich allein genommen gibt es wahrscheinlich gar nicht. Es gibt veränderliche Bedürfniskonstellationen mit vielleicht einer bestimmten typischen Art von Bedürfnisgruppierung, deren „wichtigste“ Wortführer gerade im Vordergrund stehen. Unse­ren Bedürfnissen vermag also schon deshalb nichts dauerhaft gerecht zu werden, weil sie selbst veränderlich sind. Nietzsche redet in diesem Sinn vom „Gesellschaftsbau“ der Seele. [Auch Platon hatte dies getan und z. B. die tyrannische Seele in Analogie zur Herrschaftsform „Tyrannis“ gesetzt.] Da gibt es vordergründig Einheiten des Unterschiedlichen bzw. zeitwei­lig gelingende Einheitsbildungen. Es gibt „Parteiungen“ und „Fraktionen“, schlecht repräsen­tierte Minderheiten, die nicht viel Gehör finden, vermeintliche und tatsächliche Machtinha­ber.- Zuviel oder zuwenig Starrheit und Verfestigung ist sowohl im gesellschaftlichen als auch psychischen Bereich ein Problem.

 

Übertrieben: Nichts entspricht unserem Geschmack. Alles ist voller Schrecken und Bedrüc­kung. [Kontext, 1. Wahrheit]

 

Es ist bisweilen schwer auszuhalten in dieser Wirklichkeit. [Kontext, 1. Wahrheit]

 

Die Gegenwart und Berührung von manchen Dingen und Situationen ist uns angenehm. Von andern wiederum ist sie uns unangenehm und widerwärtig. [Drangentstehung, Kontext, 2. Wahrheit] Vermittelst von Lust- und Schmerzgefühlen ist der Geist in anhaftender oder in widerstrebender Weise mit der ihn umgebenden Realität verbunden [und in ihr gefangen.]

 

Wir streben nach dem Besitz von Dingen, Fähigkeiten, Verfügungsgewalt über Menschen und Situationen, weil wir uns davon die Chance versprechen, uns diejenigen Empfindungen zu verschaffen, die wir haben möchten. [Drangentstehung, Kontext 2. Wahrheit]

 

Dass uns ein Essen gut schmeckt, bedeutet u. a., dass wir es wieder essen möchten.

 

Da wir nach andauernden und wiederholbaren Lebensfreuden streben, entstehen Wünsche nach Besitzergreifung und „Anhaftungen“.

 

[Anhaftung, Pali: upadana, Kontext 2. Wahrheit]

 

Von Lust und Schmerz gefesselt [theatralisch ausgedrückt] leiden wir die Leiden der Anhaf­tung und die [mehr oder weniger entlegenen] Folgen unseres ungezügelten Temperaments.

 

Platons in der körperlichen Wirklichkeit gefangene Seele entspricht dem in uns verborgenen Potential eines von Drang und Wiedergeburt abzulösenden inneren Ich. Er sagt, dass „Lust und Unlust gleichsam einen Nagel be­sitze und die Seele damit an den Leib annagelt, anheftet und körperlich macht.“ [Phaidon, 83d, 4 ff] „Infolgedes­sen gerät sie auch bald wieder in einen anderen Körper, wurzelt wie ein Samenkorn in ihm und bleibt unteilhaf­tig der Vereinigung mit dem Göttlichen, Reinen und Eingestaltigen.“ Man kann sagen: Zunächst ist unser wah­res, geistiges Ich gefangen in Lust und Schmerzgefühlen, also in der psychischen Wirklichkeit, und in der Folge davon auch in der körperlichen Wirklichkeit, weil sie hier, gemäß einer Kette ausufernder  Vorbedingungen, Mittel der Bedürfnisbefriedigung zu beschaffen hat. „Und infolge dessen fehlt es uns an Muße zur Philosophie.“ [66d, 1 f.]

Es geht mir hier nicht darum, darauf aufmerksam zu machen, dass Platon die Wiederverkörperung der Seelen anklingen lässt, wie sie auch von einem hinduistischen Guru gelehrt werden könnte. Es geht mir vielmehr um den Gedanken, dass das geistige Wesen der menschlichen Seele dem Körper ‚verhaftet’ ist durch Lust- und Schmerzgefühle, also vermittelst psychischer Realitäten. Die Psyche ist also das Bindemittel von Körper und Geist. Dabei enthält sie, jedenfalls im menschlichen Fall, eine Fähigkeit, sich ihrer hyperphyischen und hyper­psychischen „eigentlichen Natur“ [einer immateriell-geistigen Wesenheit] bewusst zu werden. Daher ihr Streben, physische und psychische Grenzen [durch Abstraktion, Loslösungs- und Unabhängigkeitsbewusstsein] zu über­schreiten.

 

Platon lebte von 427 – 347 v. Chr, der Buddha nach alter Angabe 560 – 480 v. Chr.. Nach neuerer Angabe da­tiert man Buddhas Tod 30 bis 130 Jahre später. Wenn man davon ausgeht, dass der Buddha [wie Platon auch] 80 Jahre alt wurde, hat er z. B. zwischen 530 – 450 v. Chr. oder 430 – 350 v. Chr. gelebt, so dass er möglicherweise ein Zeitgenosse Platons war. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Überlieferung Platons und der Überliefe­rung Buddhas besteht allerdings darin, dass der Pali-Konon nach mehrhundert-jähriger mündlicher Überliefe­rung erst im 1. Jahrhun­dert v. Chr. [auf Ceylon] aufgeschrieben wurde.

Ebenso wenig wie es Schriften des Jesus Christus gibt, gibt es Schriften des Buddha. Bereits mit dem Einsetzen der Überlieferung haben wir [neben reichhaltiger Legen­denbil­dung] die Überhö­hung von Buddha und Chri­stus  zu übermenschlichen Wesen. Sie übertreffen das übliche menschliche Maß. In weiteren Folgejahrhun­der­ten kommt es jeweils zu einer komplizierten „Buddholo­gie“ bzw. „Christologie“ wegen der menschlichen und übermenschlichen Eigen­schaften der beiden historischen Personen. „Wer ist der eigentliche Jesus?“, „wer der wahrhafte Buddha?“ Das sind Fragen, mit denen man die Gelehrten auf glattes Eis führt. Fragen von diffiziler Weitläufigkeit.

In allen genannten Fällen [Buddha, Platon, Christus] finden wir auch die Unterscheidung von sichtbarer [exoteri­scher] und unsichtbarer, „eigentlicher“ [esoterischer] Lehre. Es treten jeweils Anhänger auf, die behaupten, es gebe eine ei­gentliche, aber ungeschriebene Lehre. Die „Quintessenz“ von allem. Ich vermute in diesem Sach­ver­halt eine Art typischer, „hermeneutischer“ Illusion: Abschließend und endgültig, zudem auch noch unmiss­ver­ständlich, kann niemand über „die Stellung des Menschen in der Welt und seine Aufgabe darin“ sprechen. Den­noch gibt es Passagen in den „heiligen“ Texten, wo das Unmögliche gelungen erscheint. Nahe liegend ist also der Versuch, diese Passagen besonders herauszustellen und die Fiktion eines Textes zu hegen, der in voller Länge bis in alle Einzelheiten hinein den „reinen Geist“ der eigentlichen Lehre zur Darstellung bringt. Faktisch kommt es aber zu Sprachverwirrung und ausufernden Diskussionen [unter Gelehrten und Nicht-Gelehrten glei­chermaßen], eben­falls ein typisch „hermeneutisches“ Phänomenen.

 

Das Konzept der Anhaftung entspricht weitgehend dem psychoanalytischen Konzept der see­lischen Besetzung [von Objektvorstellungen mit subjektiver Energie]. Es reicht vom Interesse an der Existenz bestimmter Situationen über Starrheit in der Befolgung gegebener Regeln, über jegliche Art von Erwartungsprägung bis hin zur Anhaftung des Geistes in uns an die individuelle Psyche und den individuellen Körper.

 

Anhaften ist, was uns am Loslassen hindert. Bei manchen Erwartungen, die wir uns [mehr oder weniger willentlich] zu eigen gemacht haben, fällt uns das besonders schwer.

 

Anhaftung an Dinge, Menschen, Situationen usw. ist mit fixierten Erwartungsprägungen gleichzuset­zen. Weil die Dinge sich oft anders entwickeln, als wir glauben, resultieren Situa­tionen, die in dieser Form niemand gewünscht und gewollt hat.

 

Anhaften heißt: krampfhaft versuchen, etwas festzuhalten oder zumindest zu reproduzieren.

 

Blinder Drang, mit unserer geistigen Natur unversöhntes Streben ist Ursache unserer Misère. Weisen der Anhaftung sind [schlechte] Angewohnheiten, Gier und Sucht.

 

Augustins Frage, wie das Böse in die Welt gekommen ist, erhält im Umkreis der zweiten Wahrheit eine Antwort. Gier, und Verblendung werden als „Wurzeln“ [bisweilen auch: „Ent­stehungsgründe“] des „Unheilsa­men“ bezeichnet. Man könnte versucht sein, einfach zu sa­gen: Gier, Hass und Verblendung sind die Ursachen des Bösen sowie des Leidens, insbeson­dere sinnlich materielle Interessen, die sich für uns aufgrund physischer und psychischer Dis­positionen ergeben. Aber es eröffnen sich Alternativen der Interpretation. Nicht die materiel­len Motive, die unseren Geist bewusst und unbewusst erfüllen, sind das Problem, sondern die Tatsache einer „schuld­haften Bevorzugung“ [Kant] dieser Motive. Die Verkehrtheit der menschlichen Natur besteht z. B. darin, kurzfristig Vorteilhaftes dem Gerechten vorzuziehen und dadurch [verblendeter Weise] die Möglichkeit einer Harmonie mit anderen [gemäß der Goldenen Regel] zu sabotie­ren. Der Mensch besitzt die Anlage und Befähigung zum Guten, zieht es aber vor, diese Anlage zu vernachlässigen. In der Folge davon findet man sich in ei­ner Welt weitgehend selbst geschaffener Übel, in der einem geschieht oder [jedenfalls prinzi­piell] geschehen kann, wie man mit andern verfährt.

 

Bei Horaz heißt es: „quam temere in nosmet legem sancimus iniquam,“ d. h. wir stellen durch unser Verhalten ein für uns selbst ungünstiges Gesetz auf.“ Wir setzen also einen für uns selbst ungünstigen Standard und unter entsprechend anderen Umständen, wenn ein anderer zynisch zu uns sagt: „Eines schickt sich nicht für alle,“ wären wir sehr unzufrieden. Man ver­schlechtert also durch Abweichung von der goldenen Regel zunächst die Standards. Erst mit­telbar, wenn sich die Situation einmal wendet, was der Gewaltmensch aber verhindern zu können glaubt, merkt man, dass man auch selbst darunter zu leiden hat.

 

Aus der Diskrepanz der menschlichen Situation, wie sie tatsächlich ist und wie sie, gemäß der normativen Regel einer gleichen Freiheit aller, sein sollte, erhellt, dass die Menschen insge­samt an einer Situation selbst geschaffener Übel leiden.

 

Die Frage „welche Verhaltensweisen sind prinzipiell konsensfähig und welche nicht?“ ist der Kernpunkt des moralischen Problems von gut und böse. Faktisches Einverständnis und faktische Einwilligung in Bezug auf anzunehmende Verhaltensweisen können wir erfahrungsgemäß kaum erwarten. Deshalb müssen wir die prinzi­pielle Möglichkeit einer Einwilligung der Betroffenen [sogar in bezug auf zukünftige Generationen] ins Spiel bringen, um zu entscheiden, welche Verhal­tensweisen unter dem normativen Aspekt der gleichen Freiheit aller zugebilligt werden können [denkbar er­scheinen] und welche nicht. Die goldene Regel ist der überhistorische, „absolute“ Gehalt der „eigentlichen“ Moral. Faktisch bilden sich unter Menschen historisch veränderliche Re­geln der sozialen und individuellen Kontrolle heraus, welche [u. a. auch] dem tatsäch­lichen Kräftespiel und den Machtverhältnissen zwischen den Men­schen unterliegen und selten rein moralische Normen darstellen.

Die Verwirklichung moralischer Normen kann teilweise und in eingeschränktem Maße ge­schehen. So können z. B. manche Formen von Heuchelei als immer­hin [!] äußerliche Anerkennung echter morali­scher Normen ge­wertet werden, die der offenen Verachtung der entsprechenden Regeln vorzuziehen ist. Ande­rerseits kann ein Ver­ächter allgemein anerkannter Wertvorstel­lungen u. U. den moralischen Wert der Ehrlichkeit realisieren und insofern unsere Anerkennung verdienen. - Das tatsächliche, konkrete Verhalten eines Menschen ist nicht im Hinblick auf eine Verhaltensweise allein „tatbestandsmäßig" analysierbar. - Die tatsächlich getätigte Verhaltens­weise kann nach der Feststellung des Tatbestands allererst im Hinblick auf moralisch geforderte Verhaltenswei­sen bewertet werden. Im alltäglichen Leben trennen wir die Fragen der Tatsachenfeststellung und ihrer Bewer­tung [nicht nur hinsichtlich moralischer Gesichtspunkte] nicht säuberlich. Alltagsunterredungen oder Überlegun­gen ohne jegliche wertende Stellungsnahmen gibt es vielleicht gar nicht.

 

Der Buddha spricht von den „Wurzeln des Unheilsamen.“

 

Wurzeln im strengen Sinne des Bildes sind die Organe der Zubringung von nährendem Saft. Im Falle der Wur­zeln des Bösen bzw. Unheilsamen versorgen bzw. vergiften Gier, Hass und Verblendung den menschlichen Geist mit „unheilsamen“ Inhalten und „unheilsamer“ Motivation. Die komplementären Wurzeln, Gierlosigkeit, Hasslosigkeit und Unverblendung nähren dagegen den Keim des Guten und langfristig Heilsamen.

Das Bild von Wurzel und Pflanze bedeutet natürlich auch, dass die blühende Pflanze des Unheilsamen sich so­lange wird regenerieren können, wie sie nicht effektiv entwurzelt wurde.

Redet man von „Heilsamkeit“ anstatt lediglich vom „Guten“ im Sinne des moralischen Gebotenseins, schwebt einem die Verbindung von geistigem Wesen und physisch-psychischer Bedürfnisnatur vor. Wiedergeburt heißt: ihr müsst damit rechnen, das zu erleiden, was ihr andern zufügt. Wenn wir auf lange Sicht alle lediglich tot wä­ren und unser unversöhnter innerer Drang keine Wiederverkörperung erführe, könnte das moralisch Gute nicht mit dem langfristig Heilsamen gleichgesetzt bzw. verbunden werden. Erfolgreiches Streben zu Lasten anderer könnte während des Dauer eines individuellen Lebens als möglich erscheinen. Wer zur rechten Zeit stürbe, wäre der ausgleichenden Gerechtigkeit enthoben.

Wenn es also um die Lehre von der Wiedergeburt [Neuverkörperung des inneren Dranges] geht, sollte man nicht fragen:: „Was weist auf Wiederverkörperung hin?“ sondern: „Was wäre, wenn wir uns mit der Annahme begnü­gen würden, dass wir auf lange Sicht alle lediglich tot sein werden?“ Mit dem individuellen Tod wäre man dem menschlichen Dasein enthoben, einerlei welche Verhaltensweisen man in seinem Leben für sich angenommen oder verworfen hat.

Karma und Wiedergeburt stehen in besonderer Verbindung mit der Frage: „Was müssen wir befürchten, wenn wir unserem inneren Drang und Temperament folgen?“ Antwort: „Dass das, was wir andern antun, uns selbst angetan werden wird.“ Die komplementäre Hoffnung dazu zielt auf die Nicht-Wiederkehr in dieser „Daseins- und Wirkungsrunde“.

 

Man kann sagen: Gier, Hass und Verblendung sich keine zeitlich vorangehenden Wirk­ursa­chen böser Handlungen sondern eher so etwas wie typische Erscheinungsformen des mensch­lichen Freiheitsgebrauchs, der demnach weitgehend einen Missbrauch darstellt. Sofern der Mensch moralisch-verantwortlich böse ist, ist er es aufgrund eines Fehlgebrauchs seiner Frei­heit. Man wird von innerem Drang über das Maß des Gebotenen hinaus getrieben, indem man zumindest mitschuldig daran ist, weil man sich diesen Drang zueigen gemacht hat.

 

Dass der Geist den Dämon der Unachtsamkeit besiegen muss, ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Bild. In der Übung [Kultur] entsprechender Aufmerksamkeit für das, was wir tun und denken, würde bisweilen offensichtlich, dass wir angenommene Verfahrensweisen ändern müssten. Wenn wir also nicht wissen möchten, was wir tun, so liegt dem eine Art Willen zum Nicht-Bemerken bedenklicher Verhaltensweisen und tendenziöser Selektivität des Bewusstseins zugrunde.

 

Unachtsamkeit, Verblendung usw. sind interessanterweise auf die Gültigkeit der für maßgeb­lich erachteten Wahrheiten bezogen. So übersieht man z. B. die Wahrheit vom Ungenügen und Leiden, indem man denkt, durch den Besitz gewisser Dinge würde man glücklich werden. Oder auch: man übersieht die Leiden, die man anderen schafft. – Und man übersieht vor al­lem, dass allein das Handeln in langfristiger Übereinstimmung mit andern und sich selbst zur Leiderlösung führt. – Der eigentliche Glaubensinhalt über das Ethische hinaus besteht m. E. darin, das moralisch Gute mit langfristig Heilsamen, das moralisch Verwerfliche mit langfris­tig Unheilsamen gleichzusetzen. On man das mit Berechtigung tun, lässt sich aus der Beo­bachtung des Laufs der Dinge im Grunde genommen nicht herleiten. Aber man setzt es in der [oft nur implizit angenommenen] „Norm des eigentlichen Sollens“ voraus.

 

Ein geniales, hinduistisches Bild ist folgendes: Shiva Nataraja tanzt auf Aspasmara, dem Dämon der Unacht­samkeit, inmitten einer Feueraureole, den kosmischen Tandava-Tanz. Arme und Beine sind in Bewegung, sein Haar flattert, der Gesichtsausdruck aber strahlt Ruhe aus. Die Einheit des Un­ter­schiedlichen besteht hier in inne­rer Ruhe bei äußerer, „achtsamer“ Bewegung. Nach langer Übung triumphiert er tänzerisch über den Dä­mon der Verblendung und realisiert dadurch eine [zumindest prinzipielle] Har­monie [des Denkens und Han­delns] mit sich selbst und andern.  Insofern auch eine Einheit von Individual- und Allbewusstsein.

 

In tänzerischer Balance hält er den Dämon des Fehlwissens nieder, der fälschlich angenommenen Einstellungen bezüglich „wichtig“ und „unwichtig“. Man kann die spielerische Meisterung von Unachtsamkeit, Unwissenheit und Fehlwissen auch gleichsetzen mit der Überwindung selbst-schädigender, selbst-sabotierender und unheilsa­mer Geistestrübungen und Blockaden.

 

Ebenso könnte der Sieg des Buddha über den Dämonen Mara [Vergänglichkeit, Krankheit, Tod] dargestellt werden. - Es handelt sich um die Ver­anschaulichung von menschlich-ethischen Idealen, welche den Weg aus der Sphäre der von Menschen sich selbst geschaffenen Nöte und Leiden weisen.

 

Die Unachtsamkeit, die der Überwindung bedarf, ist die Unachtsamkeit bezüglich der Auswirkungen unseres Tuns auf die Betroffenen davon. Und letztlich auch uns selbst. Sofern es Auswirkungen unserer Handlungen auf Betroffene gibt, sollten sie konsensfähig bzw. einwilligungsfähig sein. Und wir sollten auch für den möglichen Konsens mit uns selbst zu ganz anderer Zeit sorgen, falls es uns einmal ganz anders ginge, als wir es jetzt gerade für selbst­verständlich halten. Kann es uns doch einmal so gehen wie anderen auch.

Wer sich von der Entfaltung ethisch-moralischen Bewusstseins so weitreichende Dinge verspricht wie die Über­windung von Krankheit und Tod, setzt allerdings voraus, dass eine Welt der Krankheit und des Todes einem idealen, schuldlosen Menschen nicht angemessen wäre. Aber es steht uns sozusagen keine Beschwerde über die leidvolle Beschaffenheit unseres Daseins zu, weil wir niemals völlig im Einklang mit unserer geistig-morali­schen Anlage gehandelt haben.

 

„Schlechte Unendlichkeiten“, rastloser Drang nach Optimierung, Reparatur und Erneuerung lassen uns nicht zur Ruhe kommen.

 

Nach jüdisch-christlicher [aus Nahost kommender] Auffassung erleiden wir die Leiden der Welt, weil wir infolge eines uranfänglichen Sündenfalls aus dem Paradies vertrieben worden sind. [Die Vorstellung des Paradieses ist die Fiktion eines Zustandes und einer Lebens- und Daseinsform, in welcher alles, was es gibt, unse­ren Bedürfnissen zu hundert Prozent gerecht wird. Also nicht lediglich ein Schlaraffenland, in dem es uns bald langweilig werden würde.] – Nach fernöstlicher Auffassung besteht das Problem darin, dass der Geist [Purusha, Shiva], d. i. das nicht-empirische Subjekt unseres Denkens, in ero­tischem Verlangen nach der Verei­nigung mit der Materie [Prakriti, Shakti] strebte. Man kann sagen: Auf­grund innerer Trieb­haftigkeit strebte der Geist nach lustvoller Verkörperung. Er brannte vor Eifer, sich derart zur Geltung zu bringen. Dass er danach so sehr in Bedrängnis geraten würde und nun, nach Erlö­sung schmachtend, sich in leidvoller Wirklich­keit gefangen sieht, das hat dieser Geist ganz einfach nicht vorausgesehen. Dennoch muss er die Misère sich selbst zuschreiben, indem er sich diesen inneren Drang ohne Rücksicht auf die Folgen zu eigen gemacht hat.

Wer hier Gleichsetzungen vornimmt von „Geist“ und „männlich“ einerseits, „Materie“ und „weiblich“ andererseits, hat eine patriarchalisch-sexistische Komponente in den Religions­glauben eingeführt. Das „reine Ich“, d.i. der Geist für sich selbst genommen, entbehrt selbst­verständlich der „nur“ empirischen geschlechtlichen Eigenschaften und ist in Körpern ver­schiedenen Geschlechts gleichermaßen [als Fähigkeit der Erkenntnis und selbst­bewussten Aufmerksamkeit] inkarniert [materialisiert, objektiviert, verkörpert].

Ich halte es für erwähnenswert, dass der nahöstliche und der fernöstliche Mythos gleicherma­ßen zu sexualisierten Lesarten Anlass gegeben haben.

Eine orphische Inschrift, also westlichen bzw. abendländischen Ursprungs, lautet: „Ich bin das Kind der Erde und des gestirnten Himmels.“ Auch hier geschieht eine Gleichsetzung von ‚Himmel‘, ‚Geist‘ und ‚männlich‘ einerseits und ‚Erde‘, ‚Natur‘ und ‚weiblich‘ andererseits. Auf den ersten Blick ist der Sexismus in dieser Variante harmloser als der Sexismus eines Mythos, welcher den patriarchalisch männlichen Geist eine Verführung durch weiblich Ma­terielles [fast willenlos] erleiden lässt. Frauen werden dadurch, einer ironischen Be­merkung O. Wildes zufolge, zum Sinnbild des Sieges der Materie über den Geist. Da die meta­phori­sche Aus­drucksweisen „himmlich-männlich“ und „irdisch-weiblich“ zwangsläufig mit wer­tender Konnotationen verbunden sind, handelt es sich auch hier um sexistische Aus­drucks­weisen und Fälle von verun­glückter Metaphorik. Solche Fehlgriffe fallen ganz offen­sichtlich dem gesamten geistige Erbe der Menschheit zur Last und nicht lediglich z. B. der buddhisti­schen oder christlichen Tradition..

 

Ihrem innersten Gehalt gemäß ist die Sittenlehre des Buddhismus universalistisch und eine Moral der gleichen Freiheit aller. Dies ergibt sich aus der Anerkennung der Goldenen Regel.

 

„Ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, soll es auch nicht für ihn sein; und ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, wie kann ich ihn einem an­deren zumuten?“

Samyutta Nikaya V, 353.35 – 354.2

 

Eine weitere interessante Stelle, welche die goldene Regel mit einem All-Einheits-Denken in Verbindung setzt ist folgende:

 

„Klar und sichtbar ist diese Lehre: jedem verständlich. Sie heißt: ‚Komm und sieh’. So wie ich bin, so sind jene. Wie jene sind, so bin ich. Wer sich selbst zum Gleichnis macht, tötet nicht mehr und lässt nicht mehr töten.“ Wir achten [berücksichtigen] per goldener Regel wechselseitig das hö­here Selbst in uns allen, das sich in jeweils unterschiedlichen Denk- und Verhaltensweisen individualisiert hat.

 

Die goldene Regel findet sich auch in der nicht-buddhistischen, altindischen Tradition:

„Man sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen selbst unan­genehm ist; das ist das Wesen der Moral.“ - Interessant ist hier die Behauptung, die Goldene Regel stelle das wesentliche und einzige Moralprinzip dar, also den Kernbestand „wahrer“ und „echter“ Moralität.

Mahabharata XIII, 114,8

 

Dem grundsätzlichen Eigenschaft der menschlichen Freiheit gemäß sind wir alle gleich. Den erworbenen Rechten nach kann es allerdings große Unterschiede geben. Der Erwerb der er­werbbaren Rechte kann der Goldenen Regel gemäß legitim sein, indem willkürliche und von Menschen zu verantwortende Benachteiligungen anderer [beim Erwerb erwerbbarer Rechte] mehr und mehr [im Zuge zivilisatorischer Entwicklung] ausgeschlossen werden. Die Frage, welche Verhaltensnormen aus der Golde­nen Regel folgen und welche nicht [als moralisch geboten, verboten usw.] erfordert eine mo­ralphilosophische Diskussion, die viel mit Kants Versuchen der „Ableitung inhaltlich be­stimmter Pflichten aus dem kategorischen Imperativ“ [in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten] gemein haben dürfte.

 

Die goldene Regel gehört zum Kernbestand [der ethischen Lehre] aller großen und wahr­scheinlich auch anderer Religionstraditionen. Das heißt natürlich nicht, dass wir eine Tradi­tion finden würden, die sie auch tatsächlich, konsequent und umfassend verwirklicht hätte. Buddhismus, Judentum, Christentum können dies nicht für sich beanspruchen und tun dies in der Regel auch nicht. In diesem Punkt gilt generell: Tatsächliche menschliche Praxis ist nur aus der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit zu begreifen.

 

Ich bin nicht Altphilologe genug, um beurteilen zu können, ob das christliche Wort „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ [Matth. 22, 37] nicht auch mit „achte deinen Nächsten wie dich selbst“ übersetzt werden könnte. Verwendet ist im griechischen Text das Wort „agapao“, dessen Bedeutung reicht von „liebevoll aufnehmen“ bis „schätzen“. [Die Flexionsform ist „agapeseis“, also Futur: „Du wirst deinen Nächsten wertschätzen wie dich selbst.“] Mildern wir den Impera­tiv „liebe!“ in „schätze“, „wertschätze“ „anerkenne“ oder „respektiere“ hätten wir eine Konkor­danz von Christentum und Buddhismus bezüglich eines [des?] ethischen Fundamentalprizips. Man kann erläuternd hinzusetzen: Die Wertschätzung bezieht sich auf den Menschen als [potentiellen] Träger ethischen Normbewusstseins und eines inneren Selbst. Das macht seine psycho-physische Existenz zu einer Art Gefäß für den ethischen Geist.

 

Es gefällt uns vieles nicht. Aber wir müssen einander mit Respekt ertragen.

 

Die goldene Regel als moralphilosophischer Kernbestand des Christentums wird auch in Matth. 7,12 ausgespro­chen: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.“

 

Zurück zur Welt des Werdens und der unseligen Daseinskreisläufe:

 

Ständig wechselnde, meist sogar fremdbestimmte Bedürfnisse halten uns in Anspannung. Körperliche und geistige Unruhe entspricht unserer Natur.

 

Es kommt oft vieles zusammen.

Ein Gewirr [verworrene Geflecht] von Wirkungszusammenhänge bringt typische, aber den­noch unerwartete Situationen hervor.

 

Im Grunde genommen lässt sich nichts festhalten oder [wirklich identisch] wiederholen, weil die Wirklichkeit un­ablässigen Veränderungsprozessen unterliegt. Durch die Komplexität der Geschehnisse entzieht sich die Wirklichkeit weitgehend dem planenden Denken.

 

Wir vermeinen [in einer sonderbaren Art von Fortschrittsoptimismus], so ziemlich alle menschlichen Angelegenheiten wissenschaftlich, verwal­tungsmäßig und bürokra­tisch unter Kontrolle bringen zu können. [Weitgehend verschwiegene Potenz- und Machbarkeitsprob­leme spre­chen aber eine ganz andere Sprache.] Was heraus­kommt, sind aber, jedenfalls allzu oft, unerfreuliche und ver­krampfte Situationen, die unserer Planung und unseren Mach­bar­keitsvorstellungen Hohn sprechen. Wirklich funktionstüchtige Arrangements des fried­vollen Zusammenlebens größerer Menschenmengen gibt es [nur?, immerhin?] ansatzweise.

 

Nicht nur der Besitz kostbarer Dinge ist erstrebenswert, das Loslassenkönnen ist bisweilen erstebenswerter. Erforderlich ist das Festhalten und Loslassen zur rechten Zeit. [Kontext, 3. u. 4. Wahrheit]

 

Ich plädiere dafür, das Wort „loslassen“ gelegentlich durch den Ausdruck „ablassen von ...“ zu ersetzen, um klarzumachen, dass das Phänomen „anhaften und loslassen“ nichts spezifisch Buddhistisches, Fernöstliches, Esoterisches oder Religiöses ist. „Lass ab von deinem Überei­fer, von deinem Zorn,“ und ähnliche Wendungen sind durchaus alltagstauglich. „Anhaften“ wäre demnach ein „Sich-Verbeißen“, ein „Sich-Fixieren“, „Anhaftung loslassen“ wäre ein „Ablassen von ...“. Und es ist klar, dass wir letztlich auch von liebgewonnenen Gewohnhei­ten, von unseren jugendfrischen Körpern und unserem hochgebildeten Geist ablassen müssen, weil all dies kein dauernd beständiges Etwas ist. Glückliche Stunden kann man trotz ihrer Einmaligkeit und Vergänglichkeit schätzen, die Versuche aber der krampfhaften Reproduk­tion des Gewesenen sind problematisch.

 

Der Buddha schätzt besonders die Freude, die aus dem Bewusstsein der Alleinheit und All­verbundenheit der Wesen entspringt. [Kontext, 3. u. 4. Wahrheit]

 

Das innerste Ich meiner Subjektivität ist vom innersten Ich Deiner Subjektivität ununter­scheidbar. Unser aller Trachten und Denken ist bezogen auf ein an sich selbst ununterscheid­bares Subjekt des Denkens überhaupt. Es muss von allem Inhalt des Denkens, von dem, was wir inhaltlich denken, unterschieden werden. Insofern ist dieses Innerste ‚der’ Inhalt völliger Inhaltslosigkeit.

Das Nicht-hinweg-Denkbare in meinem Denken [die Existenz eines Bewusstseins überhaupt] ist reine Leerheit.

[Kontext, 3. u. 4. Wahrheit]

 

Man muss lernen, das alle Dinge nicht unser Ich sind. „Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.“ [Samyutta-Nikâya] Unser wahres Ich ist demnach nicht individu­eller Geist, individuelle Seele oder Subjektivität, sondern nicht-empirisches, eigen­schaftslo­ses Bewusstseinszentrum. Reine Denkbarkeit ohne Inhalt. [Kontext, 3. u. 4. Wahr­heit]

 

An diesem Punkt besteht ein bedeutender Unterschied zwischen Theravada- und Mahayana-Buddhismus. Wenn ich ein wahres Ich in limitativer Denkfigur dadurch bestimme, dass ich sage, was es [für sich selbst genommen] nicht ist [bzw. nicht sein kann], dann bestimme ich das eigentliche Ich durch negative Prädikate wie „nichtphy­sisch“, „nichtpsychisch“ usw.. Demnach bleibt eventuell die Tatsache festzuhalten, dass es als das Jenseits-von-allem-diesem existiert. Die Theravada-Buddhis­ten lehnen das Ich der reinen Denkbarkeit als illusionäres Etwas ab. Der Buddha selbst hat den altindischen At­man-Unsterblichkeits-Glauben abgelehnt, aber es ist nicht klar, ob seine Ablehnung auch die Existenz des nicht-empirischen Bewusstseinsinneren betrifft [unabhängig von der Frage ‚sterblich oder nicht­sterblich‘]. In­folge seiner eigenartigen Eigenschaftslosigkeit ist das innere Zentrum der Geistesinhalte, für sich selbst genom­men, „nirvana-artig“, unbewegt, eventuell „todlos“ usw..

 

Stichwort „Theravada“: die „Lehre der Alten“ [bzw. der „Ordensälteren“] ist eine konserva­tive Ausprägung des Frühbuddhismus, die sich auf den Pali-Kanon als Quelle der Lehre be­ruft. Sie überlebte als „südlicher Buddhismus“ z. B. in Sri Lanka. – Andere Richtungen des Buddhismus haben darüber hinaus bzw. sogar vorran­gig andere Quellen. Es gibt kein Einver­ständnis über eine allgemein anzuerkennende, ‚kanonische’ Schriftensammlung, wie sie z. B. das Christentum in der Bibel oder der Islam im Koran anerkannt hat. Zunächst könnte man denken, die eigentliche und „reine“ Lehre sei in der Ur-Lehre am besten verkörpert. Bei ge­nauerem Nachdenken aber wird eine solche Voraussetzung fraglich, denn nach welchen Kri­terien will man den ‚eigentlichen’ Gehalt der reinen Lehre bestimmen? Hier kann man sich an die ironi­schen Worte in Goethes Faust erinnern:

 

„Mit Worten lässt sich trefflich streiten,

mit Worten ein System bereiten,

an Worte lässt sich trefflich glauben,

von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.“ [Faust I, 1997 ff.]

 

Wir befinden uns also auch beim buddhistischen Quellenstudium in einer hermeneutischen Situation, obwohl diese Quellen nicht mit dem Anspruch auf übernatürliche Offenbarung auftreten. Durch den Wahrheitsanspruch der Lehre werden wir allerdings unvermeidlich auf Versuche zu einer dogma­tischen Verfestigung der ‚eigentlichen’ Lehre getrieben. Anderer­seits führt die Annahme, dass ein ‚eigentlicher’ Inhalt existiert über jede historisch gegebene Verfestigung hinaus, weil eine Beurteilung unternommen wird, ob diese Verfestigung dem „eigentlichen“ Gehalt entspricht. Jede Rezeption in solchen Dingen ist zwangsläufig Inter­pretation. Dies gilt im besonderen Maße dann, wenn der Lehrer sagt: „Kommt und seht selbst!“ Dies ist beim Buddha tatsächlich der Fall gewesen.

 

Er erscheint mir besonderer Erwähnung wert, dass ein Wörterbuch des Theravada [Nyanati­loka, Buddhistisches Wörterbuch] das Stichwort „Todlosigkeit“ [amata] enthält: „Amata ist ein Name für das Nirwahn, das restlose Erlöstsein vom Kreislauf der Wiedergeburten, und damit auch von dem sich immer wiederholenden Sterben.“ Das impliziert in meinen Augen, dass ein Etwas außerhalb der raum-zeitlichen Daseinsrunde zumindest etwas Denkbares ist und dass uns mit dem Gedanken des reinen Ich eine derartige Transzendenz vorschwebt. Die kör­perliche und psychische Individualität besteht aus Gruppen veränderlicher und hinfälliger Beilegungen, aber das nicht-empirische Ich, auf das sich all unsere Geistesinhalte beziehen, muss ex negativo als „ein anderes von alle dem“ gedacht werden. In diesem Kontext steht der Gedanke: „Was unbeständig ist, das ist unbefriedigend; was unbefriedigend ist, das hat man der Wirklichkeit gemäss so anzusehen: Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.“ Nirwahn steht also nicht für ein Nichts schlechthin, sondern für denkbare Trans­zendenz, und es scheint ein Gedanke des Buddha gewesen zu sein, dass der Mensch sich in Bezug auf dieses Etwas der leeren Form des Denkens, vielleicht sogar aus der Transzendenz heraus, zu verstehen habe. – Würde das nicht-empirische Ich in seiner Denkbarkeit schlicht negiert, hätten wir im Grunde genommen einen erkenntnistheoretischen Materialismus. Es wäre außerhalb des Daseinsstroms in Raum und Zeit nicht einmal mehr etwas denkbar.

 

Wir können in diesem Zusammenhang auf Kant mit seiner Kritik an der rationalen Seelenmetaphysik hinweisen, die er [naturwissenschaftlich] für unentscheidbar hielt. Er hielt sie dennoch nicht für abwegig. Das geistige Zen­trum des Bewusstseins ist demnach ein denkbares Etwas, aber dieser Gesichtspunkt reicht nicht aus, um ihm in einer sachlich begründeten Aussage objektive Realität zuzubilligen. Der Begriff eines derart spirituellen Wesens ist metaphysisch und trans­zendent, weil er den Bezug auf Raum-Zeitliches gemäß seiner limitativen Rezeptur ausschließt: Es soll sich um etwas Nicht-Räumliches und Nicht-Zeitliches handeln, nicht um einen Inhalt des Bewusstseins, sondern um die Form des Bewusstseins selbst und allein. Kant spricht in diesem Fall von einer Denkbarkeit, sogar von einer notwendiger Weise anzunehmenden Denkbarkeit. Aber dennoch handele es sich nur um ein ens rationis, ein „bloßes“ Etwas der Denkbarkeit und nicht um ein objektiv bestehendes Etwas. Die­sen Standpunkt bezeichnet er als eine mittlere Position zwischen „seelenlosem Materialismus“ und „grundlosem Spiritualismus“ [B 412].

 

Sowohl unter empirischen-objektivem als auch unter psychologisch-subjektivem Gesichts­punkt gibt es kein eigenständiges Ich. - Ein einzeln, scheinbar Individuelles ist nur im Kontext mehr und mehr umfassender Zusammenhänge zu begreifen.

 

Von der Unterschiedlichkeit unserer Stimmungen, Bedürfnisse und Neigungen her gesehen erscheint uns Einheit, Dieselbigkeit unserer individuellen Person zu unterschiedlichen Zeiten und Orten als gewagte Hypothese. Einheit und Dieselbigkeit der individuellen physischen und psychischen Person entspricht einer nur oberflächlichen der Wirklichkeit. In hintergründiger Auffassung entpuppt sich das Tun des einen als Tun des andern, Täter als Opfer und Opfer als Täter. [Kontext, 1. Wahrheit, spezieller: Anatta-Lehre]

 

Aus westlicher Sicht gesehen, schlägt sich die buddhistische Lehre auf die Seite des Heraklit und erteilt der Spekulation des Parmenides über die Einheit des unveränderlichen Seins eine Absage. Nicht einmal unveränderliche Atome, die durch ständig sich umgruppierende Ag­gregationen [Ansammlungen, Anhäufungen] eine Wirklichkeit des Veränderlichen hervor­bringen könnten, werden aner­kannt. Lediglich den dahin fließenden Bewusstseinsstrom, mit ständig sich erneuernden und dann auf immer versiegenden Bewusstseinsinhalten, scheint der Buddha gelten zu lassen und nähert sich derart einerseits einer nominalistischen Position, die alles Abstrakte und Wieder­kehrende als bloß scheinbar und als facon de parler ablehnt, ande­rerseits einer Konzeption des „wirklich bewusstseinsmäßig Gegebenen“ analog D. Hume, E. Mach usw.. Gerade in diesen Punkten gibt es allerdings erkenntnistheoretische Diskussionen innerhalb der buddhistischen Traditionen, die viel gemeinsam haben dürften mit unseren westlichen Endlosdiskussionen über Materialismus, Idealismus, Realismus und Nominalis­mus in der Erkenntnistheorie.

 

[Karma]

 

Wir sollten damit rechnen, dass das, was wir andern antun, uns selbst angetan werden könnte.

 

Die Konzepte von Karma und Wiedergeburt sind altindischen, vorbuddhistischen Urprungs. Sie finden sich z. B. in der Brihadaranyana-Upanishad, einer der ältesten Upanishaden und sind insofern einige hundert Jahre älter als die Buddha-Lehre. Dabei ist der Gedanke der Wie­der­geburt vom Erfahrungsdenken her gesehen deutlich überschwänglich und spekulativ. Wir können nichts von unserer Exi­stenz nach unserem Tod wissen, nicht einmal ob es eine solche Existenz überhaupt in irgendeiner Weise gibt. Weil aber auch niemand Gegenteiliges wirklich wissen kann, vermag der Glaube an Karma und Reinkarnation eine religiöse Funktion wahr­zuneh­men, die der Rolle einer letzten, höheren Gerechtigkeit entspricht.

Dieser religiöse Glaube veranschaulicht den ethisch-morali­schen Impuls, andern nur das an­zutun, wovon man selbst [reziprok] betroffen sein wollte, wenn man sich auch einmal  in ent­sprechend anderen Lebenslagen befände. Es ist eine Illusion, wenn man nicht bedenkt, dass es auch einmal ganz anders kommen könnte. Dass man sich in Zuständen der Schwäche und Bedrängnis wieder finden könnte, wie sie im Augenblick triumphierender Stärke unver­stell­bar erschienen. 

[Die Vorstellung der Wiedergeburt ersetzt den Konjunktiv irrealis in der Vorstellung der „an­deren“ Lebenslagen durch einen einfachen Indikativ.]

Die Vorstellung einer Folge von Wieder­geburten, in denen allen alles geschehen kann und auch tatsächlich geschieht, bringt dem Ge­fühl den Gesichtspunkt nahe, dass man sich im Grunde genommen selbst antut, was man an­deren antut. Insofern veranschaulicht der Vor­stellungskomplex von Karma und Wiedergeburt die moralische Forderung einer universellen [moralphilosophischen] Verhaltensharmonie der vernünftig handelnden Wesen.

Wer Böses tut, hat mit einem zukünftigen Leben zu rechnen, das seinen Taten entspricht.

Bei unverantwortlichem Lebenswandel, selbst wenn er vordergründig erfolgreich erfolgt, droht entsprechend unerfreuliche Wiedergeburt. Wir büßen unsere Schuld in diesem und in zukünftigen Leben.

Die ungewollten, aber zu befürchtenden Folgen unserer Taten sind bedrückend.

Diese Vorstellungen wirken für den westlich sozialisierten Menschen phantasievoll und exo­tisch. Vom Standpunkt naturwissenschaftlicher Erfahrung sind sie ähnlich unplausibel wie die Vorstellung der Auferstehung weitgehend verwester menschlicher Leichname in näherer oder ferner Zukunft, die unserem christlich-religiösen Gedankenkreis zugehört . In religiöser Denkweise ergibt sich hier wie dort die Option für empirisch unerweisliche Sachverhalte in­sofern, als man die Konsequenz letztlicher Irrelevanz moralbestimmter Denk- und Verhal­tensweisen [wozu man vielleicht durch Erfahrungsbeispiele sich gedrängt sehen möchte] ab­wehren will. Insofern optiert man für einen Standpunkt in objektiv unentscheidbaren Fragen.

 

Der Kern buddhistischer Sittlichkeitslehre ist in seinen grundsätzlichen Gehalten dem der westlichen moralphilosophischen Tradition durchaus analog: "Niemanden schädigen!" ist leicht mit dem lateinischen "neminem laede!" zu übersetzen, "nichts nehmen, was einem nicht gewährt wurde!" erinnert an "suum cuique!". [Im Verhältnis zum Verbot widerrechtlicher Aneignung erscheint es mir allerdings übertrieben: eine Inbesitznahme von herrenlosem Gut, die uns aber missgönnt wird, erscheint danach nämlich ausgeschlossen.] Auch für das Gebot, am Wohlergehen anderer zumindest kein prinzipielles Desinteresse zu hegen ["quantum po­tes, iuva!], finden sich die Entsprechungen.

 

Für die Buddha-Lehre besteht die Besonderheit, dass der Glaube an einen den Tod überdau­ernden und sich wiederverkörpernden Seelenkern abgelehnt wird. Was hier reinkar­niert, ist lediglich ein über das Leben hinausgehender unpersönlicher Drang, typische menschlich/ un­menschliche Denk- und Verhaltensmuster, welche dem endlosen Lied von Vergänglichkeit und Unvollkommenheit der menschlichen Dinge zugrunde liegen. Der letzte Zweck moral­gemäßen Verhaltens, auch das höchste Ziel aller buddhistischer Übung und Gei­stesanstren­gung ist schlicht die Nie-Wiederkehr [in dieser Daseinsrunde]. Die Abkehrung des menschli­chen Geistes von Anhaf­tung, Verblendung, unheilvollem inneren Drang, Karma und Wieder­kehr, ein Kon­zept der Erlösung vom Dasein schlechthin.

 

In der Buddha-Lehre wieder-verkörpert sich nicht die [angeblich] unsterbliche Einzelseele [die der Buddha ablehnt], sondern der innere Drang, der von der Wirklichkeit nicht genug haben kann. Die Illusion, die dieser Drang hervorruft, besteht in der Vorspiegelung, die Lust des Lebens ge­nießen zu können, ohne seinem Leid anheim zu fallen. Liebe ohne Leid, Macht ohne Kampf, Reichtum ohne Sorge, dauernde Freude ohne Betrübnis usw. sind aber illusio­när. – Es ist jedenfalls nicht die nüchterne Erfahrung, die uns lehrt, dergleichen könne es ge­ben. [Man tue so nüchtern, wie man will: wir alle leben von der Hoffnung und bei weitem nicht allein von der Erfahrung. Ein Zustand völliger Hoffnungslosigkeit ist wahrscheinlich unerträglich. Es gibt also auch die Illusion der Illusionslosigkeit.]

 

Wer Triebe hat, der hat auch Illusionen.

 

Das Konzept des Karma ist weitgehend identisch mit dem psychoanalytischen Konzept des Wiederholungszwangs oder mit E. Bernes Konzept des Psychoskripts [Transaktionaanalyse] usw.. Weniger geheimnisvolle Begriffsversuche scheint es in diesen Angelegenheiten nicht zu geben.

Wir nehmen an, dass es für die Selbsterkenntnis vorteilhaft ist, davon auszugehen, dass von uns selbst weitgehend unerkannte, aber dennoch für uns selbst typische Muster des Erlebens und Handelns existieren.

Dabei darf man durchaus vor oberflächlichen Selbst- und Fremdzuschreibungen warnen. Das Karma entspricht eher dem heuristischen Gesichtspunkt, nach wirklich zutreffenden Mustern des Denkens und Verhaltens zu suchen, aus denen erfahrungsgemäß Konfliktstoff und Be­dräng­nis entsteht.

 

Alle Menschen sind den Weisungen ihres Karma unterworfen.

 

Karma heißt zunächst Wirken oder Tat, dann das durch die Tat Gewirkte und letztlich auch die vielleicht primär ungewollten, uns entgleitenden Folgen unserer Tat. - Mit unserer Tat mag die Illusion verbunden sein, dass uns vielleicht entferntere Folgen erspart bleiben möch­ten, aber auch hier sollten wir danach fragen, was in der Regel oder oft wirklich geschieht.

 

Ein propagiertes gedankliches System anzunehmender Verhaltensweisen, das sich auf die rechte Motivation beruft und nach den Folgen nicht fragt, nennt man bisweilen „Gesinnungs­ethik“. [Max Weber hat in einem berühmten Vortrag, „Politik als Beruf“, 1919, eine Gegen­überstellung von „Gesinnungs-„ und „Verantwortungs­ethik“ vorgeschlagen.] Das kann zu sehr verwirrenden Diskussionen führen. Tatsächlich ist es wider die ethische Gesinnung und ausgesprochen unmoralisch, nach den wahrscheinlichen Folgen unseres Handelns nicht zu fragen. – Es gibt allerdings einen Sinn, in welchem die Ethik Gesinnungsethik sein muss, wenn sie Verantwortungsethik sein will. In Fragen der mo­ralischen Motivation, wo es darum geht, „wozu“ der Mensch letztlich frei ist und „wovon“, „ergibt“ sich, dass allein die Qualität ernstlichen Wollens zweifelsfrei in unserer Macht steht. Es „zeigt sich“, bzw. es wird uns klar, dass wir das voraussetzen müssen. Aber auch hier gilt, dass es vorantwortungslos wäre, eine Handlungsweise ohne Rücksicht auf die damit verbun­denen Folgen zu beschreiben und zu bewerten, nur weil die Folgen nicht derart zweifelsfrei in unse­rer Macht stehen wie die Motivation selbst. Es ist für unmoralisches Verhalten geradezu cha­rakteristisch, die beab­sich­tigten Ergebnisse unseres Handelns von unbeabsichtigten Folgen zu trennen. Die Illusion die­ser „Trennbarkeit“ [eventuell im Widerspruch zu vielen Erfahrun­gen] ist eine typische Form von „Verblendung“. – Bestes Beispiel in diesem Zusammenhang ist natürlich der Ver­such, die Liebeslust ohne die Erzielung einer Schwangerschaft zu genie­ßen.

 

Karma ist derjenige Anteil unserer Bedrängnisse, der aus den uns eigentümlichen Verhal­tensweisen resultiert. Was man sich im Grunde genommen selbst angetan hat, ohne sich dar­über im Klaren zu sein. Es ist der Eigenanteil selbstgeschaffener Not. Karma-Forschung wäre demnach psychologische Reflexion auf Denktypisches und Verhaltenstypisches, wie es wirk­lich in uns wirkt. - Aus diesem Grund ist die zurückzuweisende Übersetzung von "Karma" mit "Schicksal" nicht völlig abwegig. Es ist sozusagen das selbstgeschaffene Schicksal.

 

Karma ist ein selbstgeschaffenes Gefängnis erprobter und eingeschliffener Denk- und Ver­haltensweisen, die typische Folgen zeitigen.

 

Karma ist eine seelische Prägung und subjektive Energie [subjektive Gestaltungskraft], die in unserem Leben [vom Subjektiven her] wirkt. Und qua Unersättlichkeit über das Leben hinaus.

 

Der Karma-Gedanke enthält zu allem andern den Gesichtspunkt, dass wir über unser indivi­duelles Leben hinaus begehren. Über unsere wirkliche Genussfähigkeit hinaus usw.. So z.B. mehr essen, trinken und Lust genießen wollen, als uns gut tut. – Unter diesem Gesichtspunkt ist Karma ein über das individuelle Leben hinaus-schießender innerer Drang.

 

In der Brihadaranyka-Upanishad heißt zu diesem Aspekt:

„Der Mensch ist ... gebildet aus Begierde; je nachdem seine Begierde ist, danach ist seine Einsicht, je nachdem seine Einsicht, danach tut er das Werk, je nachdem das Werk, danach ergehet es ihm.“ – Dieser Gedanke verfei­nert sich dann zum Gesichtspunkt des Über-das-Leben-hinaus-Begehren und den entsprechenden Folgen:

„Dem hängt er nach, dem strebt er zu mit Taten,

wonach sein innrer Mensch und sein Begehr steht.

Wer angelangt zum Endziele der Werke, die er hier begeht,

der kommt aus jener Welt wieder zu dieser Welt des Werks zurück.

So geht es mit dem Verlangenden.“ [Brihadaranyaka-Upanishad, 4,4, 5 – 6]

 

[Eine andere Quelle des Karma-Gedankens ist die Chandogya-Upanishad (V, 3 – 10). Ausgleichende Gerechtig­keit qua Wiederverkörperung ist auch hier die unmittelbare „Absicht der Lehre“.]

 

Negatives Karma: selbstverschuldete psychische Not, schlechte Einfälle, Ressentiment und bitteres Gefühl.

 

Ein Selbst [Ich] hat man nicht einfach, man hat sich etwas zurecht gemacht. – Das setzt letzt­endlich ein anderes Selbst [Ich] als Fähigkeit des Sich- etwas- zu- eigen- machens voraus.

 

Das Selbst [empirisch-persönliches Ich] erzeugt sich selbst in komplexen Wechselwirkungen mit anderen, anderem und sich selbst [auch dem inneren, nicht-empirischen Ich]. Es bilden sich Prägungen des Denkens, der Motivation und des Handelns. - Das nicht-empirische Ich, unser metaphysisches Bewusstseinszentrum ist unsere innere Buddha-Natur und macht uns zu erlösungsfähigen Wesen.

 

Mit sachdienlichen, treffenden Begriffen und den richtigen Fragen im richtigen Zusammen­hang würden wir manche Dinge so erkennen können, wie sie wirklich sind.

 

Der psychologischen Selbsterkenntnis steht eine tiefverwurzelte Neigung zu Verblendung und Fehlwissen entgegen. [Kontext, 2. Wahrheit]

 

Die Verkennung der wahren Natur unserer Ziele beruht auf willentlicher Ausblendung un­vermeidbarer Begleitumstände [und der effektiven Motivation] unseres Handelns.

 

[Verblendung, Illusion]

 

Kennzeichnend für unser Glücksverlangen ist die weitgehende Ignoranz von Begleiteffekten der von uns favorisierten Verhaltensweisen. Wir denken, wir könnten unseren Vorteil auch ohne un­erwünschte Nebenwirkungen erzielen.

 

Ein sehr interessanter Gesichtspunkt ist die Annahme von Verblendung als Entstehungsgrund menschlichen Handelns. Wir handeln oft aus Unwissenheit, aufgrund mangelnder Informa­tion, aber in vielen Fällen handeln wir auch aus Gründen, die keine arglose Unwissenheit, sondern gewollte Unwissenheit dar­stellen.

 

Aufgrund von Verblendungen denken und handeln heißt: in gewissen Belangen nicht wissen wollen, was man sich selbst und anderen antut.

 

Verblendung ist z. B. Zuträglichkeitsillusion. Dass wir z. B. etwas begehren, was uns eine Menge Ärger bereiten würde, wenn wir es erhielten. Verblendung ist auch, wenn man denkt, man könnte die angenehmen Seiten einer Sache von den weniger angenehmen abgetrennt erhalten, obwohl man nicht weiß wie. In diesem Falle hätten wir eine Verfügbarkeitsillusion.

 

Aus unbeherrschten Emotionen und sonderbar unruhigen Stimmungen entstehen seltsame Gedanken und Handlungen.

 

Moralphilosophische Version der Verblendung: Derjenige handelt verblendet, der nicht be­rücksichtigt, dass das, was er andern antut, im Grunde genommen sich selbst antut.

 

In der Chandogya-Upanishad, einer wichtigen Schrift der altindischen Tradition, wird das „tat twan asi“ – „dieses Lebendige bist du“ ganz allgemein, d. h. auch in theoretischer Absicht, ausgesprochen. Alles Gegebene im Kosmos, insofern es eine denkbare Gegebenheit darstellt, besitzt einen Bezug auf die Mitdenkbarkeit eines nichtempirischen Ich, auf eine geistig-inne­res Zentrum unseres Bewusstseins. Das heißt: In verborgener Weise ist das Subjekt universell präsent. In moralphilosophischer Variante unterliegt der menschliche Geist einem Anspruch prinzipieller Wechselseitigkeit anzunehmender Verhaltensweisen in Bezug auf alle Freiheits­wesen, deren Verhalten ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Verantwortung steht. „Tat twan asi“ nimmt hier die Bedeutung an, sich selbst im anderen Freiheitswesen wiederzuer­kennen.

Was der Verblendete [d.h. wir alle im Zustand der Nicht-Erleuchtung] nicht berücksichtigen will, ist die Möglichkeit, dass er das, was er andern antut, sich selbst antut. Er setzt in der menschlichen Welt sozusagen menschenfeindliche Standards selbst geschaffener Leiden.

 

[Meditation]

 

Es gibt kein Thema und kein Problem, bei dem es nicht möglich und oft sogar zweckmäßig ist, sich davon zu distanzieren.

 

In der Meditation achtet man auf die Atmung und suggeriert sich Gedankenbesänftigung. Mehr und mehr von Ruhe erfüllt, sieht man zu, dass möglichst wenig passiert.

 

Loslassen aller empirischen Identifikationen. Wir sind reines Subjekt des Denkens, im Unter­schied zu allen Denkinhalten, die wir uns zu eigen machen. Im Unterschied zu allen inneren Impulsen, die wir verspüren.

 

Der Buddha identifiziert sich weder mit seinem Körper, noch mit seiner Psyche, nicht mit seinen Affekten, Gefühls- und Willensregungen, noch mit seinen Geistesinhalten. Er hat so­zusagen, nach einem zen-buddhistischen Koan, nichts in Händen und lässt alles los.

 

Körper und Psyche gehören der Wirklichkeit des bedingten Entstehens an. Sie sind vergäng­lich und unterliegen nach kurzer Dauer ihres Bestehens der Auflösung in [wiederum vergäng­liche] Daseinsfaktoren. Vergänglichkeit sowie bedingtes Entstehen und Vergehen sind gleichbedeutend mit Leerheit [pali: sunnata], nämlich Leerheit an Unvergänglichkeitsgehalt, an Beständigkeitsgehalt, Leerheit an „inhärentem Sein“, auch Leerheit an „wahrem Glücks­gehalt“, Leerheit an „Selbstheitsgehalt“. – Das „Andere“ von allen diesen „Daseins- und Leerheitsgehalten“ wäre das wahre Ich, das eigentliche innere Selbst, von dem wir nicht wis­sen können, ob es existiert. Es ist ein lediglich [immerhin?] Denkbares.

 

Das Pali-Wort für Meditation heißt „bhâvanâ“, eig. „Insdaseinrufen“, „Erzeugen“, speziell „Geistesentfaltung“, „Geistesübung“ [„Geisteskultur“] usw.. Unterpunkte sind „Entfaltung der Gemütsruhe“, „Entfaltung des Hellblicks“ [bezüglich der Daseinsmerkmale dukkha, Un­genugsein, anicca, Vergänglichkeit und anatta, Nicht-Ich-Artigkeit]. – Interessanter Weise und in der westlichen Philosophie fast unbemerkt, haben wir hier eine starke inhaltliche Über­einstimmung mit Descartes Denkübung der Meditation [über die Grundlagen der Philosophie und der menschlichen Erkenntnis.] Reflexionen über das Wesen der denkenden Ich, seine nicht-empirische Natur, Immaterialität usw. stehen sowohl an der Wiege der östlicher Mystik sowie des abendländischen Rationalismus.

 

Der Ich-Gedanke ist ein sprachliches und gedankliches Phänomen besonderer Art. Garantie der Bezugnahme, Verwechslungsunmöglichkeit, besondere Gewissheitsfähigkeit, nicht-empi­rischer Charakter, Grenze der Abstraktion u. a. sind kennzeichnend für die Eigenart dieses Phänomens.

 

Für alle Geistesinhalte gilt: das ist nicht mein Ich, das bin ich nicht selbst. – Mein Ich ist nicht dasjenige, was ich zunächst davon glaube. – Bzw.: ich bin nur konventionell und per facon de parler [facon de penser] der- oder dasjenige, was ich zu sein glaube.

 

Der Buddha rät dazu, die Sinnenpforten zu bewachen, den Emotionen und Stimmungen standzuhalten, sich des Entstehens und Vergehens der Gemütsbewegungen bewusst zu sein und derart den inneren Drang zu besänftigen. Die meditativ bemeisterte Geist vermag die In­halte seiner selbst [„Geistesinhalte“] dahinschwinden und versiegen zu lassen, vermeidet Fi­xierung auf diese Inhalte, vermeidet Anhaftung und beunruhigte Sorge und erreicht dadurch zeitweilig eine Art Loslösung des Geistes von Physis und Psyche. Man kann sagen: er strebt nach einem exkarnierten Geist. Und überwindet derart die Wirklichkeit des Unbeständigen und Leidvollen. Zuerst ansatzweise, dann mehr und mehr. Das ist ein stoi­scher Zug in dieser Lehre.

 

Den Stoikern gegenüber gab es die Frage, ob der Weise, also der ideale Stoiker, auch auf der Folter glücklich sei und sich am Bewusstsein seiner freien Unabhängigkeit genügen lasse. Nach einer solchen Reflexion stellt sich die Frage, ob das stoische Ideal den tatsächlichen Menschen nicht hoffnungslos überfordert. – Der meditierende Buddha muss nicht derart überhöhte Ansprüche verfechten. Die Meditation hat lediglich Übungscharakter für den Weg der Geistesruhe und Gelassenheit und kann z. B. als selbstsuggestives Verfahren für die Er­zeugung eines Bewussteins angesehen werden, das die Fähigkeit zur Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit betrifft. Zunächst wird das Bewusstsein erzeugt, dass es zumindest einen Bereich der subjektiven Freiheit gibt. Z. B. dass man die Atmung verzögern und beruhigen kann. Von der richtigen Entfaltung dieser Anlage, welche in der Aufmerksamkeitsübung be­wusst wird, verspricht sich der Buddha letztlich auch große Dinge wie Leiderlösung, Welt­über­windung usw..

 

Die hohe Wertschätzung der meditativen Übung ergibt sich durch den Gesichtspunkt, dass wir selbst es sind, vermöge unseres Geistes und Bewusstseins, die bestimmte Gedankenin­halte [mehr oder weniger] festhalten, verknüpfen oder loslassen können. Für unsere Hand­lungsmo­tive speziell heißt das: wir selbst sind es, die sich bestimmte Motive als Geistes- und Be­wusstseinsinhalte mit hand­lungs-lenkender Kraft [mehr oderweniger] zueigen machen. Oder eben: wir können sie in ihrem Drang und ihrer Dringlichkeit abschwächen, eventuell sogar loslassen und ziehen lassen. – Zunächst beginnt die „Übung“ mit Aufmerksamkeitslen­kung [bezüglich dem subjektiven Wahrnehmungsbewusstsein] und erzeugt damit auch das Be­wusstsein der entsprechenden Einfluss- eventuell sogar Lenkungsfähigkeit. Man kann sich z. B. klarmachen, dass man den Atemvorgang verspürt und [in gewissem Maße] beeinflussen kann. Im Fokus der Auf­merksamkeit steht dabei das subjektive Verspüren und nicht die ob­jektive Tatsache, dass es eine Nase gibt, durch die der Atem in den Körper eintritt. Von der Lenkung der subjektiven Aufmerksamkeit her weitet sich das Bewusstsein aus bis hin zum Bewusstsein der Fähigkeit, Geistesinhalte anzunehmen, abzuschwächen oder im Bewusst­seinsstrom dahin ziehen zu lassen. – Die Fähigkeit, bejahend oder verneinend zu einem Aus­sageinhalt Stellung zu nehmen, ist möglicher Weise ein Sonderfall davon [von der Fähigkeit, Inhalte festzuhalten oder loszulassen], ebenso wohl auch die Fähigkeit, einen Willensimpuls aufzunehmen, ihn zurückzuweisen, abzuschwächen oder verlöschen [oft auch „versiegen“] zu lassen. Das alles läuft m. E. darauf hinaus, dass sich der Meditierende in seiner Besinnung zumindest ansatzweise der Existenz eines nicht-empirischen, nicht-physischen und nicht-psy­chischen Subjekts bewusst wird, das er im Grunde genommen selbst ist:

Diese Fähigkeit selbst ist das ‚wahre’ Subjekt, das innere Ich, das unter den Geistesinhalten nicht zu finden ist.] Reines Bewusstsein, das Inhalte [Geistesinhalte] verknüpft, sich aneignet, sich darauf konzentriert, sie wieder loslässt usw.. Erzeuger dieser Inhalte ist diese sonderbare Fähigkeit nicht. ‚Inhalte’ sind mit Bezug auf diese Fähigkeit gegeben und werden untereinan­der und im Hinblick auf dieses zentrierende Bewusstsein in Bezug gesetzt. – Soviel in erläu­ternder Anspielung auf Kants Lehre von der reinen Apperzeption. – Cartesianische Medita­tion, Kants transzendentale Reflexion [auf nicht-empirische Voraussetzungen] und fernöstli­che Meditation auf das wahre, innere Selbst lassen sich leicht in Beziehung zueinander brin­gen, obwohl man solche Vergleiche kaum findet. [Es gibt sie möglicher Weise bei japani­schen Zen-Mönchen, die auch westliche Philosophie rezipiert haben.]

 

Gesegnet die Stunden, die uns über uns hinaus führen.

 

Es gibt Auswege aus den menschlichen Konfliktsituationen. Aber diese Auswege sind oft nicht dort, wo man sie sucht.

 

 

 

[Erlösung, pali: vimokkha, sanskrit: mokksha]

 

Die Erlösung ist zunächst Erlösung von Geistes- und Gewissensunruhe, die Besänftigung äu­ßerer und innerer Ruhelosigkeit. Im Endeffekt aber hat der Buddha eine emphatische Erlö­sungskonzeption: Erlösung von den Schrecken der Geburt, des Alterns, der Krankheit, des Todes und vor allem der Wiedergeburt. Seine Zuversicht heißt: „Ich kann der Misère entrin­nen.“

 

Wer Wind sät, wird Sturm ernten, heißt es im christlichen Evangelium. Das ist das erfah­rungsmäßige Prinzip der Eskalation von Konflikten. Wer den inneren Drang ernstlich zu be­sänftigen versucht, der wird diesen Drang zügeln und letztlich tatsächlich besänftigen. Dann ist er drang- und leiderlöst in einem.

 

Unerlöst und ohne dem Gesichtspunkt ausgleichender Gerechtigkeit genug getan zu haben, kann man dieser Daseinsrunde nicht entkommen. – Erlösbarkeit trotz vorangegangenen, selbstverschuldeten Leidens wird vorausgesetzt und nicht von theologischen Prämis­sen her dem Verständnis näher gebracht. Auch hier [ähnlich wie bei Luther und Paulus] wird der Er­lösungssuchende trotz der Un­begreiflichkeit eines Auswegs „nach alle dem“ auf seine Moti­vation vertrauen.

 

Das Ziel: Überwindung leidbringender Emotionen. In esoterischer Sprache: „Veränderungen im Fluss inne­rer Energie herbeiführen.“ Als moralischer Imperativ: „Wendet Euch ab von Gier, Hass und Verblendung!“ – Dies ist wieder der Gedanke: „So, wie es ist, ist es nicht in Ord­nung. Unserer geistigen Natur gemäß sollte und könnte vieles anders sein.“ Dabei liegt es an uns selbst, uns von selbstverschuldetem Leiden nach und nach zu befreien.

 

Erlösung im Christentum ist Erlöstwerden von Sünden und Leiden [zu einer freien, selbstbe­stimmten Existenz hin] durch ein spezifisches Arrangement Gottes [Kreuzestod Christi usw.]. Erlösung im Buddhismus ist [weitgehend] Sich-selbst-erlösen. Christus betont das passive Moment der Erlösung, Buddha das aktive. Im Christentum haben wir eine Theologie der Rechtfertigung und Erlösung, ausgehend von der Tatsache, dass sich der Mensch hoffnungs­los in selbst geschaffene Not verstrickt hat, wenn es allein auf ihn selbst ankäme, all das ange­richtete Böse wieder gut zu machen. Auch der Buddha sagt: „Lange Zeit hindurch ist dieser Geist von Gier, Hass und Verblendung getrübt worden.“ Wer nun ernstlich nach Erlösung strebt, wird sich nicht durch die Erfahrung der menschlichen Verkehrtheit entmutigen lassen, obwohl das Problem, wie die ‚Rechtfertigung’ gedacht werden könnte, tatsächlich besteht. Aus diesem Grund hat der Mahayana die Übertragung von gutem Karma von selbstlosen Bodhisattvas auf den erlösungsbedürftigen Menschen erwogen und kommt damit der christli­chen Erlösungslehre sehr nahe. Bei alle dem aber sollte man bedenken, dass man damit keine regelrechte ‚Erklärung’ der Rechtfertigung hat, da man ignotum per ignotum ‚erklärt’. Kann man es wirklich wissen, oder setzt man es einfach voraus?

 

An einem Vers aus Faust II, 11936 ff., kann man den Unterschied der Erlösungsvorstellung illustrieren. Die Engel singen, „Faustens Unsterbliches tragend“:

 

„Wer immer strebend sich bemüht,

den können wir erlösen.“

 

So könnte auch der Buddha reden. Im Gefolge paulinischer und lutherischer Theologie aller­dings würde es heißen: „Nur wer erlöst ist, vermag immer strebend sich zu bemühen.“

 

Ganz im Kontrast zu der oft geäußerten Annahme, der Orient sei mehr der Passivität zugetan als der Okzident, vertritt der Buddha mehr eine aktive, das Christentum mehr eine passive Version des Erlösungsgedankens. Kern des Konzepts ist jedoch in beiden Fällen eine Erlö­sungszuversicht in der Art eines „surge et ambula“. Anders gesprochen: „Du kannst, denn du sollst,“ sofern es um „eigentliches“ Sollen [und nicht lediglich um sozial-psychologisches Regelwerk] geht. Und dies trotz der niederschmetternden Erfahrung der gesamten Mensch­heitsgeschichte. Damit sind wir wieder bei dem „utopischen“ Kern des Normativen angelangt.

 

Der spezifische Religions“gehalt“, der Standpunkt, in dem die „Lehre“ hinausgeht einerseits über ethisch-moralisches Gebotensein, andererseits über die ethische Beurteilung des tatsäch­lichen menschlichen Wirkens, ist das Erlösungsdenken.

 

[Nirwahn]

Nirwahn [sanskrit ‚nirvana‘, pali ‚nibbana‘] ist eine Bezeichnung für Wahnlosigkeit, Un-wahn [wagerisch ‚Wahnfried‘] oder Un-Verblendung. In dieser Bedeutung ist Nirwahn ein Bewusstseinszustand mit einer besonderen Art von Klarsichtigkeit. Er zeichnet sich aus durch die Abwesenheit von Illusionen der Begehrlichkeit. 

 

Nirwana steht auch für „Nicht-Sein“. Nicht für das Nichts schlechthin, bzw. nicht für das ‚ab­solute‘ Nichts, nicht für das schlechthin Undenkbare. Anders gesprochen: Eisen, das Holz ist, oder auch ein Kreis, der ein Viereck ist, sind Undenkbarkeiten, nihil negativum. Ein schlecht­hin nicht-empirisches Geistwesen dagegen ist zwar ein denkbares Etwas, der Begriff eines solchen Wesens enthält nichts Widersprüchliches, ist aber ein leerer Begriff, ein Begriff ohne zugehörigen Erfahrungsgegenstand. Genau ge­nommen: ohne möglichen Erfahrungsgegens­tand, denn ein raum-zeitliches Etwas kommt hier nicht in Frage. Man kann nun in problemati­scher Weise von der Denkbarkeit nicht-empirischer Realitäten sprechen und sagen: „So etwas kann es gemäß Prinzipien der Denkbarkeit durch­aus geben“ oder man versteigt sich sogar zur Behauptung: „So etwas gibt es tatsächlich, die Art seiner Wirklichkeit ist noumenal.“

 

Im zweiten Fall behauptet man mehr als man wissen kann. Diese gilt jedenfalls dann, wenn man mit Kant davon ausgeht, dass lediglich die Bedingungen einer uns möglichen Erfah­rungserkenntnis als Thema nicht-empirischen Den­kens berechtigt sind.

 

Nirwahn [in der Bedeutung „Nicht-Sein“] gehört also in den Bereich der Denkbarkeiten, ist aber kein Teil der uns umgebenden Wirklichkeit. Übrigens auch keine psychischer Realität. Es ist eine positiv bewertete Transzen­denz, im Gegenzug zu einer übermenschlichen Hölle des Entsetzens, die ebenfalls eine tran­szendente Denkbarkeit darstellt, nach dem Muster der uns tatsächlich umgebenden Wirklich­keit allerdings leicht zu erdichten. Nirwahn also wird gleichgesetzt mit dem Tushita-Himmel, dem Himmel der Stillzufriedenen, die im Einklang mit der höheren, wahren Natur ihres inne­ren Selbst leben. Sie sind den empirischen Daseins­merkmalen ‚Vergänglichkeit‘, ‚Ungenü­gen‘ und ‚Selbstentfremdung‘ [Nicht-Ich-Artigkeit] entrückt. Selbstfindung durch Geistesbe­sänftigung ist der Weg zum Ziel der Leidbefreiung. Dabei ist die höhere Natur des inneren Selbst reine Leerheit an empirischem Inhalt jeglicher Art. Was uns dabei auffällt, ist folgen­des: der Buddha verallgemeinert die Daseinsmerkmale der uns umgebenden menschlich-un­menschlichen Wirklichkeit zu Daseinsmerkmalen schlechthin, so dass für das geistig-innere Subjekt, sei es nun nicht-empirisch-logisch oder nicht-empirisch transzendent angesetzt, nur reine Leere [an jeglicher Realität] anzusetzen bleibt.

 

 

[Magie der Verwandlung]

 

Im Religionsglauben fast aller Traditionen finden sich Vorstellungen von magischen Wir­kungszusammenhängen und Aberglauben. Z. B. dass man nicht von einer Schlange gebissen werden kann, wenn man regelmäßig in ausreichendem Maß meditiert. Oder dass man durch Gebete allein körperliche Erkrankungen heilen kann. Oder dass man einen Arbeitsplatz er­halten wird, wenn man arbeitslos ist, aber betet. In diesen Fällen gibt es m.E. aber wichtige andere Zusammenhänge, denen man Rechnung tragen sollte.

 

Stutzen wir Vorstellungen von der Macht des Glaubens, der Macht der Selbstbeeinflussung und der pflegenden Übung auf ein vernünftiges Maß zurück, so bleiben uns den­noch legitime Bereiche für die Selbstbeeinflussung und den autosuggestiven Umgang mit der eige­nen Sub­jektivität, die wir nicht allzu sehr in Frage stellen sollten. Nicht die mit Glauben tatsächlich versetzten Berge, übernatürliche Bewusstseinskräfte u. dgl. sind das Entschei­dende, sondern die schlichte Tatsache, dass es menschliche Angele­genheiten gibt, in denen subjektive Ent­schlüsse, „Arbeit“ am Subjektiven [z. B. Trauer- und Erin­nerungs“arbeit“], Erzeugung von inspirierenden Stimmungen und autosuggestiver Bezug auf die eigene Sub­jektivität legitim sind. Was hier zuviel und zuwenig ist, kann nur vom Stand­punkt ehrlicher und „unideologi­scher“ Alltagserfahrung her [auch nicht z. B. rein „naturwis­senschaftlich“] beurteilt werden. Eine ganz scharfe Abgrenzung von Glaube und Aberglaube, sinnvoller Übung und Brimbo­rium, gibt es wahrscheinlich nicht. Vielleicht aber eine in vielen Fällen hinreichend scharfe.

 

Die „Magie der Verwandlung“, wo sie angenommen werden darf, ist subtil und betrifft zu­nächst nur die Lenkung der Aufmerksamkeit. – Man fängt z. B. mit dem Ein- und Ausatmen an, das man nicht vermeiden, aber probeweise verzögern oder beschleunigen kann. Es geht ja nicht darum, den Menschen aus natürlichen Zusammenhängen herauszureißen, sondern ihn auf eine Fähigkeit der [zunächst] geringfügigen Modifikation des Gegebenen hin­zuweisen. - Erstrebenswert ist die Steigerung des Bewusst­seins der [nur vordergründig zwangsläufigen,] gefühlsmäßigen Reaktionen. Zudem ist erstrebenswert: ein wachsen­des Distanzie­rungsver­mögen bezüglich unserer Gewohnheiten und Leidenschaften, wenn sie unsere Frei­heit un­günstig belasten. Bedrückende Gedanken und Emotionen können in der Zwangs­läufigkeit ihres Auftretens geschwächt werden, selbst-sabotierende, schlechte Ange­wohnhei­ten eben­falls. Wir sind fähig, blindes Aus­agieren mehr und mehr zu verhindern. Dies alles fällt unter den Stichpunkt „Magie der Verwandlung.“

 

Wir sind vielleicht bis über den Hals hinaus in schlechte Angewohnheiten verstrickt. Dennoch ist es keineswegs undenk­bar, dass wir den Anteil selbst geschaffener Not durch geeignete Verhaltensänderung verrin­gern. Die Anfänge dazu sind oft unscheinbar.

 

B. Russell sagt im 1. Kapitel seiner „Denker des Abendlandes“: Magie ist „ein Versuch, durch gewisse streng bestimmte Riten die Wirklichkeit zu beeinflussen.“ „Bevor man die Wissen­schaft entdeckte, wurde dies der Magie anvertraut.“ Ich greife diese Bemerkung auf, um dar­auf aufmerksam zu machen, dass im Falle des menschlichen Verhaltens selbst, als ei­nem ganz besonderen Phänomen, der „Versuch, durch Riten die Wirklichkeit zu beeinflus­sen“, keinen Aberglauben darstellt. Menschliches Verhalten ist im Normalfall mental modifi­zierbar und der Zurechnung fähig. Wir setzen das in vielen alltäglichen Situationen, in denen es um Zu­rech­nung, Schuld und Verantwortung geht, einfach voraus und halten umgekehrt Zustände der Willensbeeinträchtigung, der Unzurechnungsfähigkeit und des Nicht-Vermö­gens für begrün­dungsbedürftig. – Zugegebener Maßen zum Teil auch unberechtigter Weise. Manchmal macht man jemanden für etwas verantwortlich, für das dieser gar nichts kann. Im Einzelfall mag dies zu diffizilen Endlosdiskussionen führen.

 

Wir beein­flussen uns selbst durch die Art, wie wir reden und handeln, durch die Auswahl unserer Klei­dung, durch angenommene Rituale, durch das Hören entsprechender Musik, durch das Be­trachten entsprechender Bilder, durch Gebete und Beschwörungsformeln. Bei all diesen Dingen spielt die Erzeugung beabsichtigter Stimmungen, also der [auto]suggestive Umgang mit der eigenen [und fremden] Subjektivität, eine wichtige Rolle. Sofern wir dabei nicht übertreiben und z. B. allein durch Gedankenkraft den natürlichen Lauf der Dinge ändern möchten, handelt es sich um eine legitime Form von Magie und „Ideokinese“. – Negativ zu bewertende Fälle in diesem Bereich, die ebenfalls reichlich anzutreffen sind, sind „Stim­mungsmache“, „Alarmismus“ und „Propaganda“. Welche dies im einzelnen sind, ist naturge­mäß stark umstritten. So sagt man seinen politischen Gegnern in der Regel so schlimme Dinge nach, dass die eigenen Handlungsweisen jedem Außenstehenden als Muster an Mäßi­gung, Ausgeglichenheit und sachgerechtem Tun erscheinen müssen.

 

[Ausgleichende Gerechtigkeit, Karma und Wiedergeburt]

 

Der Gedanke einer erforderlichen ausgleichenden Gerechtigkeit [bezüglich des menschlichen Lebens] [mit entsprechenden Anforderungen an Weltlauf und Welteinrichtung] tauchen in verschiedenen Religionen in unterschiedlicher Gestalt auf. Z. B. Karma versus jenseitiges, „letztgültiges“ Gericht. Dem liegt der Befund zugrunde, dass es eine gewisse menschliche Misère gibt, dass es „wirkliche“ Gerechtigkeit und zweifelsfrei „gültige“ Rechtsprechung unter Menschen nicht gibt, dass vieles nicht so ist, wie es sein sollte und deshalb auch sein könnte. Ultra posse nemo obligatur, aber wir haben „nicht wirklich“ das Mögliche getan.

 

Dabei sollten wir allerdings „echte“ Verpflichtungen nicht durch lediglich konventionelle oder durch irgendwelche „Aufsätze“ und mindere Verbilndlichkeiten ersetzen. Ein Mensch kann seinen Beruf z. B. mit minderem Geschick ausüben und mag auch Schaden dadurch lei­den, aber das hat u. U. wenig damit zu tun, ob er wirklich essentielle Verpflichtungen beach­tet.

 

Wir sind obenauf und glauben, alles fest im Griff zu haben. Aber wir müssen damit rechnen, dass das, was wir andern antun, uns auch selbst angetan wird.

 

 

[Atman und geistiges Inneres]

 

Der Buddhismus besteht in einer heterodoxen Aneignung altindischer Traditionslinien. Spe­kulativen Erwägungen einer für sich selbst [unabhängig von physischen, psychischen und geistigen Ansammlungen [„Aggregaten“, „khandas“] bestehenden immateriellen und hyper­physischen Seele [Atman] erteilt er eine Absage.

 

Der Buddha sagt z. B. in seiner entwaffnenden Art: „Wie es sich mit ... verhält, das wollen wir auf sich beruhen lassen. Worauf es mir vor allem ankommt, ist die Befreiung von ...“ Da­mit klingt an: „Kann ich es wissen? Muss ich es wissen?“

 

Der Atman wird oft als substantielles, aber dennoch individuelles Etwas jenseits von Entste­hen und Vergehen angesetzt, also als individuelles, nicht-sterbliches Etwas im einzelnen Menschen. In diesem Sinn wird der Atman von der Buddha-Lehre verworfen. Wenn wir aber sagen, der Atman sei ein nicht-empirisches, also ein nicht-physisches und nicht-psychisches Etwas, dessen sich der einzelne Mensch in seinem Denken bewusst zu werden vermag, dann wäre der Atman kein Bestandteil des historisch-konkreten Menschen, sondern nur die Leer­heit des nicht-empirischen Bewusstseins, an die wir zu denken vermögen. Auf diese Weise kann die Aussage rezipiert werden: „Im Geist ist der Geist nicht zu finden; die Natur des Gei­stes ist klares Licht.“ – Wir versuchen sozusagen etwas denkend zu bestimmen, was ei­gent­lich kein Denkinhalt ist, sondern allgemeine Beschaffenheit „meines“ denkenden Be­wusst­seins und insofern „reine Form“. – Die Inhalte zu dieser Form sind bedingt entstehende Gei­stesinhalte, im zeitlichen Fluss des Bewusstseins auftauchend und versiegend. Durch die Denkrezeptur [zur Entdeckung] dieses nicht-empirischen Subjekts schließen wir übrigens auch aus, dass es ein im Fluss des Bewusstseins befindliches Etwas ist. Die von allem Inhalt des Bewusstseins ab­zusondernde Bewusstseinsform ist auch un-zeitlich. Nur die Inhalte darin, sie fließen. – In diesem Sinn sagt auch Kant: „Es kann kein stehendes und bleibendes Selbst in diesem Fluss innerer Erscheinungen geben“ [A 107] – Man muss es hinzudenken.

 

Ich, als konkreter Mensch in der Historie bedingten Entstehens, bin nicht mein wahres und eigentliches Ich. Eine vorauszusetzende Fähigkeit des Denkens überhaupt [mit Einschluss des handlungsnormierenden Denkens] ist das eigentliche Subjekt selbst. – Der konkrete Mensch besitzt nicht die Fähigkeit nicht-empirischen Denkens, sondern in seinem Denken manifestiert sich diese als vorauszusetzende Fähigkeit.

 

Der Buddha selbst lehnte den Atman aus folgendem Grund ab: Er sah in der behaupteten Nicht-Sterblichkeit des Atman, wenn diese Nicht-Sterblichkeit eine Tatsache wäre, ein Erlö­sungs­hindernis. Es käme der Unentrinnbarkeit des Seins gleich, wenn der Atman nicht versie­gen oder verlöschen könnte. Diese Ablehnung funktioniert offensichtlich vor der Hinter­grundan­nahme, dass ‚Sein’ generell nach dem Muster der uns erfahrbaren Wirklichkeit als ‚dukkha’ angenommen wird. Genau genommen könnten wir aber, ex negativo, den Begriff einer nicht-empirischen Wirk­lichkeit einführen. Die Existenz des nicht-empirisch Transzen­denten wäre damit zwar empi­risch unentscheidbar, trotzdem denkbar und nicht einfach gleichzusetzen mit ‚Nichts schlechthin’. Das wäre der Schritt vom limitativen ‚Nicht’ [‚Nicht-Empirisch’, ‚Nicht-Mate­riell’ usw.] zum ‚Über’ [‚Über-Empirisch’, ‚Hyper-Physisch’ usw.]. Ob auch diese überempirische Realität „dukkha“ ist, können wir nicht wissen. Diese überem­pirische Realität könnte ja auch mit vollkommener Glückseligkeit verbunden sein. In diesem Fall müssten wir uns nicht davor ängstigen, wenn der Atman in einer solchen Art von Dasein aufgehoben wäre. Die Unentrinnbarkeit des Seins wäre nicht befürchenswert.

 

Es sind, ähnlich wie bei Fichte, anstrengende Unterscheidungen zwischen absolutem und em­pirischem Ich [empirisch = physisch und psychisch!] nötig, um uns aus dem Problemkreis von Ich und Nicht-Ich herauszuhelfen. Die Per­sönlichkeit, die sich aus den khandhas [‚Daseins­gruppierungen’] aufbaut, ist ein empirisches Phänomen. Wird sie sich aber ihres wahren inne­ren Selbst be­wusst, sagt sie: „Das alles bin ich gar nicht selbst.“ Im Bewusstseinsstrom der Person, wie er empirisch subjektiv für diese Person selbst gegeben ist, findet sich das nicht-empirische Ich nicht. Insofern ist die Konzent­ration auf das „eigentliche“ Ich in Wahrheit ein Prinzip der Selbstlosigkeit. Jegliches empirische Etwas, sei es subjektiv, sei es objektiv gege­ben, ist also immer Nicht-Ich im Sinne ‚Nicht-Reines-Ich’. Umgekehrt ist das reine Ich ein empirisches Nichts. – Man kann sich dem Phä­nomen auch in folgender Weise nähern: In der empirischen Leere liegt die „Fülle“ der nicht-empirischen Evidenz. Anders ausgedrückt: Nicht-empirische Evidenz kann nicht etwas Empi­risches betreffen.

 

„Anatta“ wird bisweilen mit „Unpersönlichkeit“ wiedergegeben. Ich halte das für missver­ständlich. Es geht nicht darum zu sagen, Persönlichkeit sei illusionär. Es geht darum zu sagen, die individuelle Persönlichkeit sei nicht das wahre und eigentliche Ich. Aussagen der Art „sechs Personen sind anwesend“ sind empirisch und unproblematisch. Personen sind Be­standteile der bedingten Wirklichkeit. Sie gehören in den Bereich des bedingten Entstehens und Vergehens. Sie sind zeitweilig dauernde Gruppierungen [organische Anhäufungen] phy­sischer und psychischer Da­seinsfaktoren im Strom des Werdens. Von all dem aber gilt: „Alle Dinge sind nicht das Ich.“ All dies ist nicht das wahre, eigentliche Ich. – In der Hauptsache lehnt der Buddha also die Unsterblichkeit des individuellen Ich, also der Einzel-Seele, ab. Für die All-Seele, das wahre Ich, die allerdings völlige empirische Leerheit ist, gilt dagegen Tod­losigkeit, Unveränderlich­keit usw., in limitativer Denkfigur: man kann nur sagen, was das wahre Ich nicht ist.

 

Der Buddha optiert nicht für die Existenz einer singulären Personenseele. – Er sagt zunächst: Es gibt keine individuelle Einzelseele, die unsterblich ist. Unsere Individualität, sie sei kör­perlicher, psychischer oder geistiger Art ist Kompositum verschiedener Daseinsfaktoren [Guppierungen, khandas] Darüber hinaus gibt es nichts Feststellbares. Darüber hinaus „gibt“ es aber [denkbarer Weise] Denkbares, von dem wir nichts wissen können. Und darauf „bezie­hen“ wir uns mit dem Gedanken des wahren Ich. – Es ist ein Scheinbezug.

 

Genau genommen können wir vom wahren Ich nicht einmal sagen, dass es existiert. Ein Satz der Art: „der Begriff des wahren Ich trifft aufgrund der Kriterien XYZ auf den gegebenen Anwendungsfall A zu“, ist gemäß der Raum-Zeit-Verhaftung gegenstandsbezogener Erkennt­nis völlig leer [an Inhalt]. Insofern kann man eigentlich auch nicht behaupten, der Mensch sei auf eine transzendente Wirklichkeit bezogen. Er kann lediglich Nicht-Empirisches denken, aber selbst mit der bloßen Existenz-Aussage bezüglich angeblich transzendenter Sachverhalte behauptet er mehr, als er wissen kann. Diese gilt allerdings auch für die verneinte Existenz­aussage. Die Lösung heißt: Unwissbarkeiten offen und unentschieden lassen, entsprechenden Aussagen wegen [wissbarer] Unentscheidbarkeit [Unwissbarkeit] den behauptenden Wissbar­keitsanspruch zu ent­ziehen.

 

Die Existenz des denkenden Ich ist etwas, wovon ich nicht abstrahieren kann. Und doch kann ich nicht wissen, ob ein geistiges Ich als nicht-empirisches Wesen außerhalb der raum-zeitli­chen Wirklichkeit existiert.

 

Wahrscheinlich erreichen gewöhnliche Sterbliche, die wir ja alle sind, nur gelegentlich Ge­fühle eigenständigen Denkens und geistiger Unabhängigkeit. Der Buddhist erkennt in tief­gründiger Denkübung, dass all das, was er von sich zu denken vermag, lediglich Geistesin­halt und insofern sein inneres Ich für sich selbst genommen nicht ist. „All das bin ich nicht und insofern vermag ich, mich gedanklich davon zu distanzieren.“ Die Leerheit des Bewusst­seins vermögen wir für sich selbst genommen ohne jeglichen Inhalt gar nicht allein vorzu­stellen und ist doch Dreh- und Angelpunkt unseres Bewusstseins. Diese Leerheit ist reine Form des Bewusstseins.

 

Während einer Bergwanderung eilt man nicht von einem großartigen Aus­sichtspunkt zum nächsten, sondern nur gelegentlich, vielleicht unerwartet, eröffnet sich eine erhabene Aus­sicht. Ebenso ist uns jede Form der Geisteserleuchtung gewissermaßen un­ver­fügbar. Es be­steht erhebliche Gefahr, den Übungsweg der Geistesruhe, Joga und Medi­tation zu mystifi­zieren oder als Bewusstseinstechnik mit verfügbaren Ergebnissen aus­zuge­ben.

 

Vermittelst der khandas [gruppierte Ansammlungen physischer und psychischer Daseins­fluktuationen] bezieht sich der Geist auf die ihn umgebende Welt. Dabei wird er hauptsäch­lich durch Lust- und Schmerzgefühle gefangen und festgehalten. Vermittelst der Meditation übt es sich zeitweilig in der Loslösung des Geistes [von der ihn umgebenden Wirklichkeit], um letztlich endgültig loslassen zu können und der Wiedergeburt in der leidvollen Wirklich­keit zu entgehen.

 

Der Buddha hält das Bewusstsein der Leere, Loslassenkönnen und Ablösung der ernsthaften Mühe wert. Ablösung heißt für ihn Überwindung der Wirklichkeit des bedingten Entstehens.

 

[Sex und Macht, I]

 

Sex und Buddhismus. Mit dem Sex hat die buddhistische Tradition ähnliche Schwierigkeiten wie die christliche. Wir finden auch hier die Position der Körper- und der Lustfeindschaft sowie der Verächtlichmachung der Sexualfunktionen. Es ist nun nahe liegend, religiöse Tra­ditionen mit dem eigentlichen Gehalt ihrer Lehren teilweise gleichzusetzen und auch teil­weise wieder davon zu unterscheiden. Das führt auf die Schwierigkeit, den inneren Gehalt der ei­gentlichen Lehre zu bestimmen. Ich selbst nehme die Sexualfeindschaft von Buddhismus und Christentum nicht als zum eigentlichen Gehalt der reinen Lehre gehörend an, obwohl beide Traditionen explizit sexualfeindliche Äußerungen selbst in anerkannten Quellentexten ent­halten.

Als einer der innersten und unverlierbarsten Impulse der menschlichen Natur gebührt dem Sexualmotiv des Menschen [auch in sublimen Formen] ein zentraler Platz im Zusammenhang jeder religiös oder philosophisch ausgerichteten „Weltanschauung“.

Das Thema „Sex und Verantwortung“ hatte zu allen Zeiten Brisanz. In vergangenen Zeiten jedoch war die Brisanz dieses Themas wahrscheinlich noch größer als heute. Das Nicht-Vor­handensein empfängnisverhütender Mittel ist ein gewichtiger Unterschied. Verschärft wird dieser Gesichtspunkt noch dadurch, wenn man das menschliche Leben, so wie es fak­tisch verläuft, als eine endlose Misere versteht, in der Krankheit, Not und Alter eine dominie­rende Rolle spielen. Das alles macht es in meinen Augen verständlich, dass mancher, der sich nicht allzu sehr in den Lauf der Welt zu verstricken wünschte, den Trieb nach Lust und Fort­pflan­zung beargwöhnte. „Damit nicht neue Seelen in den Daseinskreislauf eintreten“, und ihn wo­möglich in der Sicherung des dazu nötigen Unterhalts überforderten.

 

Wer Geistesruhe und Gelassenheit so sehr hochschätzt, wie es der Buddhismus tut, hat beson­deren Grund, das Sexualmotiv mit all seinen Verwicklungen und Folgeproblemen, die es für den Menschen erzeugt, zu beargwöhnen.

 

Die Entwicklung alltagstauglicher Kontrazeptiva hat die Verfügungsgewalt des Menschen über natürliche Dinge derart geändert, dass man [wie G. Anders] angeregt hat, von einer Re­volution im Alltagsleben des Menschen sprechen kann. Religiös motivierte Sexualunterdrüc­kung, - buddhistisch oder christlich, hat de facto niemals funktioniert, und auf Dauer lediglich Ressentiments und den Verdacht hervorgebracht, als ginge es den Religionseliten um die Pro­pagierung lebensfeindlicher Ideale und ihrer eigenen Macht. Die heutige Chance, Sexual­funktionen ausüben zu können, ohne sich fortpflanzen zu müssen, kann m. E. als Zuwachs an Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Einzelnen gewertet werden.

 

Monastische und zölibatäre Lebensformen sollten kein Sonderverhältnis zur Sphäre ethischen und religiösen Bewusstseins beanspruchen. Worauf es ankommt, ist allein die Goldene Regel mit ihrem Gehalt der Forderung einer [zumindest? immerhin?] Reziprozität anzunehmender Verhaltensweisen. Multum, non multa.

 

Mit der Propagierung monastisch-zölibatärer Lebensformen wurde eine Regel der vermeint­lich persönlichen Klugheit mit der Würde eines essentiell moralisch-ethischen Prinzips aus­staf­fiert. Der Nachteil einer solchen Verfahrensweise besteht in folgendem: Wird die Über­treibung der angeblich zu empfehlenden Sittenstrenge erkannt, geraten auch For­derungen mit dem Merkmal echter Verbindlichkeit in der Verdacht einer Anmaßung. In diesem Sinn gibt es das von L. Marcuse monierte Phänomen „repressiver Charakter der Moral“ tatsächlich. „Mo­ral“ ist also mehrdeutig: „historisch gesellschaftlich“ und „wahrhaft“. [„Eigentlich“, „echt“, „wirklich geboten“ usw. sind andere Ausdrucksversuche.]

 

Man sollte vorsichtig sein, es jahrtausende alten Traditionen anzulasten, wenn sie sich in dem Thama „Sex“ nicht zu einem optimalen Standpunkt durchringen konnten, den es vielleicht ja gar nicht gibt. Die Schwierigkeit der Sache ist so enorm, dass der alles übergreifende Stand­punkt wahrscheinlich darin besteht, auf ein Optimum und eine endgültige Auffassung zu ver­zichten.

 

Esoterische Kreise des Westens mögen begehrlich auf sexuelle Praktiken des tantrischen Buddhismus und Hinduismus schielen. Was die tibetischen Lamas betrifft, so sind sie, - ähn­lich wie einige westliche Psychotherapeuten, in eine hässliche Missbrauchsdiskussion ver­strickt.

 

Eine ironische Bemerkung zum Abschluss dieses Themas: trotz aller Orientierungsschwierig­keiten, die man dem modernen westlichen Menschen gerne nachsagt, dürfte die gegenwärtige Sexualmoral des westlichen Kulturkreises die freizügigste der Welt und vielleicht aller bishe­rigen Zeiten sein.

 

Im Falle des tibetischen Lamaismus finden wir übrigens das Phänomen eines buddhisti­schen Priesterkönigtums. Wenn nicht von einem „Gottesstaat“, so können wir in diesem Fall zumin­dest von einem ‚Religionsstaat’ [bis 1959] sprechen. Ob sich die Sachlage in diesem Fall von christlichem, hinduistischem oder islamischem Gottesstaatentum günstig abhebt, entzieht sich weitgehend meiner historischen Kenntnis. Ich vermute allerdings: nein. Es ist m. E. historisch verständlich, dass keine der alten Religionen ein Prinzip des Laizismus, also die Trennung von Politik und Religion enthält. Dieses Prinzip finden wir übrigens auch nicht bei Platon und Aristoteles, da sie alle den ‚Staat’ von den ‚Staatszielen’ her nicht auf die Sphäre einer recht­lichen Harmonie des äußeren Verhaltens beschränkten. Sie alle proklamierten Tugend­staaten, anstatt sich auf die Proklamation von ‚Rechtsstaaten’ zu beschränken. Dass nun aber hinter der Maske der ‚Tugend’ und ‚Religion’ Machtanmaßung und Vorteilsnahme gedeihen, ist eine uralte Erfahrung, der man in neueren Zeiten mit Systemen der checks and balances und Religions- und Politik-Trennung zu begegnen versucht. Diese Maßnahmen sollte man nicht allein unter dem Gesichtspunkt beurteilen, dass Gerechtigkeit auch ein wesentlich ethisches Motiv darstellt und die „wahre Religion“ mit dem moralischen Normbewusstsein zusammen­hängt. Wir weisen lediglich zurück: Politpriestertum, ethischer Terror, religiös und weltan­schaulich bemäntelte Machtanmaßung.

Es ist in diesem Falle interessant, auf die Staats-und Weltferne vieler der alten indischen Yo­gis hinzuweisen. Chinesische und andere Weise der alten Zeit [auch Platon] standen dagegen stark in Versuchung, nach dem Einfluss ihrer Weisheit auf politische Mächte zu streben.

 

Der Säkularismus des Politischen [Gegenteil: Sakralismus?] ist eine Verfahrensweise weitge­hender Trennung der religiösen und politischen Sphären im modernen gesellschaftlichen Le­ben, die sich nach den bitteren Erfahrungen der neuzeitlichen, europäischen Glaubenskriege herausgebildet hat. Neuzeitlicher Humanismus und europäische Aufklärung haben sich in diesem Zusammenhang große Verdienste erworben. Es ist eine Art von Gewalten- und Kom­petenzteilung, die sich hier herausgebildet hat. Staatliche Herrschaft soll sich in Religionsfra­gen des Machtworts enthalten, Religionslehrer und Religionsgemeinschaften haben allein kraft religiöser „Sach“kompetenz nicht die Kompetenz der politischen Entscheidung. Negativ formuliert geht es um die Zurückweisung von klerikalem Einfluss in der Politik [Laizismus des Staats]. Positiv formuliert geht es um die Freiheit der Religionsausübung für diejenigen, die der politi­schen Herrschaft unterworfen sind. Dabei kann Matthäus 22, 21 als Leitspruch für den Kul­turbereich des Christentums gelten: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ Trotz dieses biblische Mottos kann man wohl behaupten, dass die westlich-mo­derne Trennung von Staat und Kirche sich aus verständlichen Gründen bei kei­ner der alten Religionen an zentraler Stelle findet. [Mit dem Anspruch, die maßgeblichen Wahr­heiten des menschlichen Lebens erkannt zu haben, tut man sich schwer mit der Tole­ranz de­nen gegenüber, die man auf Abwegen wähnt.] In diesem Punkt musste die Mensch­heit aus bitterster geschichtlicher Erfahrung lernen, dass Religionswahrheit und moralische Autorität die Quelle fürchterlicher, unmenschlicher Exzesse sein können, wenn sie sich allzu unmittel­bar in’s gesellschftlich-politi­sche Leben drängen.

 

[Sex und Macht, II] Kaschiertes Machtstreben wird in buddhistischer und christlicher Tradi­tion gleichermaßen weniger scharf abgelehnt als insgeheime Lüsternheit und erotisch-sexuel­les Interesse. Fast in aller Welt hat es sich als eine probate Machtstrategie in Herrschaftsver­hält­nisses [fast aller Art] herausgebildet, dem sexuellen Interesse ein schlechtes Gewissen zu machen. Normal­fall ist fast überall, dass sexuelle Handlungen verboten sind. Wenn sie dann doch erlaubt sind, geschieht dies auf dem Wege von Ausnahmevorbehalten: „Grundsätzlich verboten ..., Ausnahmen sind folgende Fälle: ...“. In diesem Punkt stehen Hinduismus und Buddhismus dem Christentum in nichts nach.

Die überlieferten ethischen Traditionen sind individualethisch ausgerichtet und haben weit weniger als wir Heutigen Sinn für Phänomene der Macht, der strukturellen Gewalt und strukturellen Ungerechtigkeit.

 

[Strukturelles Unrecht]

 

Der ethische Zweck für den einzelnen ist Verantwortung, Selbstvervollkommnung und Hilfs­bereitschaft, und insofern muss er bei sich selbst anfangen und darf die Lösung seiner „Le­bensprobleme“ nicht von der – von andern erwarteten - Veränderung politischer Strukturen erwarten. Dies rechtfertigt die individualethische Perspektive.

Andererseits dürften die „strukturellen“ Gesichtspunkte des menschlichen Lebens deshalb in alten Zeiten weniger Beachtung gefunden haben, weil das Ausmaß der wirtschaftlichen Ar­beitsteilung im damaligen Leben weniger ausgeprägt als heute war. Viele Menschen der da­maligen Zeit waren im Rahmen weitgehend agrarischer Lebensformen in höherem Maße Selbstversorger als es der westliche Durchschnittsbürger der heutigen Zeit ist, und die Teil­nahme an einer marktgerechten Produktion in einem vielleicht weltweiten Konkurrenzkampf spielte nicht die Rolle für die Befriedigung individueller Bedürfnisse, wie wir es heute ken­nen. Man kann sagen: Muster und Ausmaß der „Vergesellschaftung“ haben sich gewandelt.

Darüber hinaus gibt es psychologische Gründe individualethische Gesichtspunkte in ihrer Bedeutung für das einzelne Leben in den Vordergrund zu setzen: „personalisierte“ Sichtwei­sen liegen uns näher als „strukturelle“.

Zu übersehen ist die Relevanz der „Strukturen“ und der von Menschen zu verantwortenden Systeme für die Sittlichkeitslehre des Buddhismus keinesfalls. „Rechter Lebens­erwerb“ ist ein Gesichtspunkt des achtfachen Pfades.

Wir erwerben unseren Lebensunterhalt durch Teilnahme an einem hierarchisch gegliederten System historisch gewordener, gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Die Üblichkeiten und Ver­fahrensweisen bei dieser Art von Lebensfristung durch Teilnahme an einem unübersichtli­chen, gesellschaftlichen Pro­zess beinhalten die Erzeugung und Reproduktion von strukturel­lem Unrecht, Benachteiligun­gen von Gruppen bis hin zur gesellschaftlichen Ausgrenzung. Dies steht nicht im Einklang mit der moralisch-ethischen Forderung, nach der Einwilligung, zumindest der prinzipiell möglichen, der Betroffenen zu fragen. Die gesellschaftliche conditio humana ist der faktische Widerstreit der Verhältnisse gegenüber einer zumindest prinzipiellen Harmonie und Einheit unterschiedlicher Interessen. Dies gilt z. B. für den so genannten Nord-Süd-Konflikt, aber das Phänomen tritt m. E. innerhalb einer jeden Gesellschaft auf, die weit­gehend auf Ar­beitsteilung beruht und für einzelne Gruppen dennoch eine weitgehende Un­gleichheit der Lebenschancen akzeptiert. Dass es dabei vornehmlich die „Leistung“ ist, „die sich lohnen muss“, ist m. E. der Kinderglaube, dass es in der Welt nach persönlich zurechen­barem Ver­dienst zuginge. Oft sind es gerade schwere und unangenehme Arbeiten, auch z. B. pflegende Dienste an kranken Menschen, die mit minderer Bezahlung und schlechten Auf­stiegschancen vergolten werden.

 

Kant sagt in einer seiner verklausulierten Satzkonstruktionen: durch die Ungleichheit der Menschen in der bür­gerlichen Verfassung genießt man Vorteile, um deren Willen andere desto mehr entbehren müssen. [K.d.p.V., S. 276 Anm.]. „Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat.“ – Insofern besteht die buddhistische Forderung nach rechtem Lebens­erwerb geradezu in einem gesellschaftlich utopischen Ansinnen, das von normalen Menschen kaum zu erfüllen ist. Was hätten wir, wenn unsere Lebensform tatsächlich darin bestünde, nichts zu nehmen, was uns nicht frei­willig, und dies im Weltmaßstab, zugestanden wird? – Es bleibt uns nur zu versuchen, Verhältnissen näher zu kommen, in denen das Leben der einen nicht zu Lasten anderer geht. Es wäre wahrscheinlich nicht „realistisch“, anzunehmen, dass uns eine grundlegende Verbesserung innerhalb von nur wenigen Generationen gelingen könnte. Also sollten wir zumindest versuchen, kein besondere Schuld durch die Schädigung anderer auf uns zu laden und letztendlich auf die Nicht-Wiedergeburt in dieser unseligen Da­seinsrunde hoffen. Im Grunde ge­nom­men kann man Nirwahn, das Erlöstsein vom unheilsamen Drang, als ein Paradies mit Bilderverbot auffas­sen. Ex negativo gedachte Transzendenz.

 

Ein Paradies jenseits der menschlichen Wirklichkeit, wie wir sie kennen, ist etwas lediglich Denkbares, ein „visualisiertes“, bebildertes Nirwahn. Nirwahn ist ein [das?] Paradies unter dem Verdikt des Bilderverbits.

 

„Nirwahn“ hat gegenüber „Paradies“ den Vorteil, dass es sich wie von selbst gegen eine poli­tisch säkulare Variante sperrt.

 

[Interdependenz]

 

Insgesamt liegt eine „interdependente“ Sichtweise des menschlichen Lebens den fern­östli­chen Traditionen sehr nahe. Sie betonen den herakliteischen Fluss der Geschehnisse, be­vor­zugen in vielen Fällen prozessorientierte im Gegensatz zu „substanzorientierten“ Auffas­sun­gen.

 

„Seiend“ wird gleichgesetzt mit: „in Abhängigkeit von der Vereinigung der Bedingungen Entstandenem.“ Beispiel: „Durch Auge und Sehobjekt bedingt [paticca] entsteht das Sehbe­wusstsein.“

 

Sehr treffend hat der Amerikaner Alan Watts den Gedanken des interdependenten Gesche­hens, der nicht spezifisch buddhistisch ist, ausgedrückt: „Was wir tun, ist das, was das ge­samte Universum an dem Ort, den wir ‚hier und jetzt’ nennen, tut, ebenso wie eine Welle et­was ist, was das gesamte Meer am betreffenden Ort tut.“ [Das Tao der Philosophie] Es ist allerdings zu beachten, dass trotz der endlos bedingten Existenz alles subjektiven und objekti­ven Geschehens für das menschliche Bewusstsein eine Fähigkeit des Sich-zu-eigen-machens, des Anhaftens, Festhaltens Ziehen- und Versiegenlassens von Geistesinhalten angenommen wird. Ich vermute, dass wir an dieser Stelle zumindest an der Denkbarkeit eines noumenalen Etwas festhalten dürfen, dass wir also diese Position zumindest offen lassen müssen und nicht sagen sollten, eine hyperphysische und hyperpsychische Wirklichkeit sei bereits aus Gründen der Denkbarkeit ausgeschlossen. Einen Dogmatismus des spirituellen Seins benötigen wir dagegen vermutlich nicht. Es hilft uns sozusagen nicht viel, wenn wir uns dazu überreden wollten, über etwas Bescheid wissen zu können, was wir nicht wirklich wissen können.

 

[buddhistische Egellehre]

 

Geheimnisvoll funkelnd, aber sehr ansprechend in diesem Zusammenhang, eine Formulierung des gegenwärtigen Dalai Lama, Tenzin Gyarso: „Die Buddhas dämmern aus der Noumenon-Sphäre der Leerheit herauf.“ Ich rezipiere und interpretiere diese Redeweise wie folgt: ein [der?] Buddha ist ein [das?] nicht-empirisch, transzendent denkbare Subjekt zu einer idealen Möglichkeit menschlichen Verhaltens [z.B. Güte und Hilfsbereitschaft. Man kann sogar sa­gen: das Buddhawesen ist diese ideale Fähigkeit selbst als ein [lediglich? immerhin?] denkba­res Etwas. Gibt es dergleichen? Nicht empirisch entscheidbar. Aber da man dieses sonderbare Etwas [bzw. empirische Nicht-Etwas] denken kann, kann man sich auch fragen, wie es wäre, wenn sich solch ein Wesen in unserem Leben mehr und mehr realisieren würde. Diese stu­fenweise Realisation wäre das genannte „Heraufdämmern“: vom Denken her geht es zur mehr oder weniger vollkommenen psychischen Annahme bis hin zur mehr oder weniger vollkom­menen Realisation im wirklichen Verhalten.

Aus dem Gesagten erhellt, dass es einen Sinn macht, Symbole, Figuren und Bilder als Visuali­sierungen entsprechender Gedankeninhalte und „Gedankenmächte“, dabei zunächst schlicht als gedankliche Möglichkeiten, zu entwerfen und diese „Darstellungen“ als Mittel der Selbst­beeinflussung und der Selbstverwandlung zu gebrauchen. Eine Kunst in diesem Sinn hätte etwas von Zauber und Verwandlung mit einer moralisch geistigen Tendenz. Sie würde uns u. U. zum Bewusstsein des höheren Selbst in uns stimulieren, wobei dieses höhere Selbst nichts anderes als ein verborgenes Potential in uns darstellt, im Einklang mit dem „wahrhaft“ rele­vanten Normbewusstsein zu denken und handeln. [Der „wahrhafte“ Inhalt muss ebenfalls zur Klarheit gebracht werden und ist auch etwas lediglich [immerhin?] Potentielles.

 

Ich vermute, dass es sich bei dem Begriff [bzw. Begriffsversuch] „Buddhanatur“, „reines Buddhawesen“, „reine Buddhaessenz“, in der Folge auch Gedankenbildungen wie „reiner Buddhakörper“ usw., um Mahayana-Kon­zepte handelt. Ein fundamentum in re solcher Sprechweisen ergibt sich m. E. daraus, dass der Gedanke des nicht-empirischen Ich, bzw. des wahren Ich und gedanklichen Selbst-seins [„das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich“] für die Buddha-Lehre von entscheidender Bedeutung ist. Nehmen wir z. B. die Rede vom Loslösen und Ablösen [bezüglich der Anhaftungen]. Es ist zwar nicht so, dass hier behauptet wird, da sei etwas [Empirisches], das sich von einem anderen [Empirischen] abzulösen vermöge, z. B. der unsterbliche Atman vom sterblichen Körper und der leidvollen Wirklichkeit des bedingten Geschehens. Der nicht-empirische Singular des reinen Ich ist ‚nichts’, d. h.: es handelt sich dabei nicht um ein empirisches Etwas. Es ist reine Leer­heit. Es ist auch kein metaphysisch-transzendentes Etwas, über dessen Existenz man Bescheid wissen könnte. Es ist sozusagen ein Etwas, das kein Etwas ist, kein Teil der erfassbaren Wirklichkeit. Und doch können wir nicht sagen, es sei etwas Undenkbares und in sich Widersprüchliches. Also ist es [immerhin? lediglich?] etwas Denk­bares, eine Denkbarkeit. Man könnte sagen: Vom Undenkbaren können wir nicht sprechen und auch nichts den­ken, aber vom lediglich [immerhin?] Denkbaren durchaus. Wenn wir dem lediglich Denkbaren Wirklichkeit zuerkennen, behaupten wir mehr, als wir [gemäß unserer Raum-Zeit-Verhaftung] wissen können. Ebenso wenn wir diese Wirklichkeit rundum bestreiten. Wir müssen einfach offen lassen, wie es darum steht. Undenkbarkeit bezüglich des nicht-empirischen Ich zu behaupten, ist [logisch] falsch, Existenz oder Nicht-Existenz zu behaup­ten, ist zuviel be­hauptet, also lassen wir offen, wie es darum steht. Aber gedacht wird dabei an das Phänomen der empirischen Leerheit, der reinen Form des Bewusstseins.

Wir vermögen über wirklich Bestehendes hinaus zu denken und haben es insofern mit Denkbarkeiten zu tun. Und dies gilt in besonderem Maß für den Gedanken des wahren Ich. – Nimmt man den Gedanken des „eigentli­chen“ Sollens [d. i. Ethik, Moral] hinzu, haben wir ein weiteres Beispiel, wie unser Denken die tatsächlich vor­gefundene Wirklichkeit überfliegt.

 

[Dämonen]

Der aufgeklärte Buddhist glaubt an Dämonen im übertragenen Sinn, der abergläubige Budd­hist an Dämonen mit buchstäblicher Existenz. Ein typischer Dämon wäre z. B. ein psychi­scher Wiederholungszwang, dem wir unterliegen, indem wir etwas wiederholen, was uns in selbstverschuldete Not bringt. So sagt man vom Trank der Hölle, dass er um so mehr durstig macht. Dies steht stellvertretend für alle Sucht. Die Faszination für Verhaltensweisen, die uns nicht bekommen, weil sie im Widerspruch zum höheren Selbst stehen, ist das Dämonische. Auch die Begeisterung und das Streben nach Dingen, die aller Erfahrung gemäß zu Unruhe, Ungleichgewicht und schwer beherrschbaren Gefühlesreaktionen führen: Spiel, Macht­kämpfe, Gewalt, Provokationen, Kontrollzwänge usw.. Man könnte sagen, Dämon sei ein geistig, psychisches Zwischenwesen mit unheilsam motivierender Kraft, das uns im Endeffekt an leidvollen Daseinsbedingungen festhält und uns keinen Ausweg sehen lässt, wo vielleicht doch einer ist.

 

[Evolution und Bewusstsein] Der Geist arbeitet sich nach und nach aus der Natur und aus der Gesellschaft empor zum Bewusstsein seiner selbst. Es gibt pflanzliche und tierische Vorfor­men des Bewusstseins, aber genau genommen ist Bewusstsein ein spezifisch menschliches Phänomen. Das Tier hat Empfindungen, Wahrnehmungen, Affekte und Emotionen, aber kein Wahrnehmungsbewusstsein. Wir können nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, erstens weil wir einen anderen Wahrnehmungsapparat besitzen und zweitens, weil die Fle­dermaus aller Mutmaßung gemäß kein sprachlich und begrifflich strukturiertes Bewusstsein ihrer selbst auszubilden vermag. – Die höchste Ziel des menschlichen Bewusstseins ist die Erkenntnis des selbst geschaffenen Leids sowie die Distanzierung von den Gepflogenheiten dieser unheilsträchtigen Daseinsrunde. – Der Buddha glaubt, analog Jesus Christus, die Wirk­lichkeit von Not, Krankheit und Tod überwinden zu können. – Unerlöst und ohne den circulus vitiosus selbstverschuldeter Nöte überwunden zu haben, kann dieser Daseinrunde nie­mand entkommen.

 

Die Welt, in der wir so leben, wie wir es wirklich tun, - im Gegensatz zu einer Welt, in der leben würden, wenn wir in Harmonie mit unserem höheren, inneren Ich leben würden -, ist Samsara, eine Wirklichkeit der Unbeständigkeit und des Ungenügens, eine Welt trügerischer Glückserwartung.

 

[Platon]

 

Es ist der Erinnerung wert, dass auch Platon [Phaidon] gelehrt hat, dass der geistige [„den­kende“] Teil der menschlichen Seele ein Fremdes hier auf Erden sei. Die Seele, von Lust und Schmerz gefesselt an den Körper, versichert sich in geeigneten philosophischen Reflexionen ihrer höheren, „unsichtbaren“ Art und strebt aus dem Gefängnis ihrer schlechten Wirklichkeit heraus. Auch hier wird die Selbstverwirklichung der menschlichen Seele als „Exkarnation“ gedacht.

 

Mit folgender Passage kommt Platon dem Karma-Gedanken sehr nahe: „Wenn der Tod eine Trennung von allem wäre, so wäre es ein Gewinn für die Schlechten, wenn sie sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre Schlechtigkeit zugleich mit der Seele. So aber, da sie sich als unsterblich erweist, kann es ja für sie keinen anderen Schutz vor dem Übel und keine an­dere Rettung geben als das Streben, so gut und vernünftig wie möglich zu werden.“ Man kann also sagen: Es geht um die Gültigkeit der Goldenen Regel auch für den Fall, dass man nicht damit rechnen zu müssen glaubt, noch in diesem Leben ausgleichende Gerechtigkeit erfahren zu müssen. – Ich weise damit erneut darauf hin, dass ich den zunächst so exotisch anmuten­den Karma-Gedanken für eine spezielle Ausformung eines allgemein menschlichen Gedan­kenmotivs der ausgleichenden Gerechtigkeit [trotz des Bewusstseins z. B. der unentrinnbaren Vergänglichkeit dieses Lebens] halte.

Die Frage des moralisch verantwortbaren Verhaltens wird hier in Verbindung gebracht mit einer Art metaphysischer Sicherheit und Zuversicht.

 

Platon propagiert das philosophische Gespräch in einer unverkrampften freundschaftlichen Atmosphäre als hauptsächliches Mittel, um der höheren Natur der denkenden Seele bewusst zu werden. - In der indischen Tradition finden wir darüber hinaus die Hochschätzung des Yoga und der Meditation.

 

Man kann sagen, dass das zunächst so schlichte Motiv der Goldenen Regel, ein Gedanke des „leben und leben lassen“, ein Gedanke ist, der über die conditio humana, wie sie tatsächlich ist, hinausweist. Ein „utopischer“ Gehalt, tief versenkt im alltäglichen Denken der meis­ten. Er ruft, sich ausweitend und mehr und mehr bei Lichte betrachtet, eine Spannung hervor, die sich letztlich, oder jedenfalls von Zeit zu Zeit, in einem mystischen Erlösungsgedanken auf­zulösen versucht.

 

[Dogmatische Sittenstrenge]

 

Führt uns die Moral der goldenen Regel zwangsläufig in eine starr dogmatische Sittenstrenge?

 

Die Anerkennung der Goldenen Regel als einzigem „überhistorischem“ Inhalt menschlichen Moralbewusstseins führt uns nicht, wie vielleicht mancher denkt, in einen starren, morali­schen Dogmatismus. Es bleiben nämlich eine Menge offener, nicht endgültig abzuklärender Fragen, wie sie für fast alle menschlichen Fragen in ihrem komplexen Miteinander unter­schiedlicher Aspekte charakteristisch sind. In der Frage der Ana­lyse [Zergliederung] gegebe­ner Situationen gibt es oft unterschiedliche Aspekte und unter­schiedliche Akzentuierungen von „wichtig“ und „unwichtig“, sowie unterschiedliche Auffassungen über den wirklich anzu­er­kennenden Gehalt der einschlägigen und zu applizierenden Norm[en]. Darüber hinaus kön­nen Meinungsunterschiede bestehen, welche Verhaltensnormen mit der allgemeinen Norm der gleichen wechselseitigen Freiheit harmonieren und welche nicht. Ein Feld der Kasuistiken verschiedener Art bleibt also auch bei der Annahme der Existenz einer überhistorischen, all­gemeinen Norm des "eigentlichen" Sollens unvermeidlich.

Dazu ein Beispiel, das sogar eine besonders fundamentale Norm betrifft: "Du sollst nicht tö­ten!" Es ist klar, dass ein Tötungsverbot, zumindest in Bezug auf meine Mit­menschen, aus der Anerkennung der glei­chen Freiheit aller folgt. Diese gleiche Freiheit ist eine „lediglich“ [im­merhin?] prinzipielle Forderung. Also ist die Tötung eines anderen unter „normalen“ Be­din­gungen ein „absolutes“ Tabu, das mit dem Anspruch einer „eigentlichen“, überhistori­schen Moral [mit „echten“ Ver­bindlichkeiten] zusammen hängt. Was aber sind „normale“ Bedin­gungen? Und wie ist es in Situationen der Notwehr und des Krieges? – Hier verlässt uns viel­leicht bereits die allgemeine Evidenz des absoluten Sollens.

Weitere Fragen: Ist das aus der absoluten Sollensnorm begründete Tötunsverbot notwendiger Weise gleichbedeutend mit einem Vernutzungsverbot menschlicher Embryonen? Ist Abtrei­bung mit Mord gleichzusetzen? Diese Fragen sind äußerst verwickelt. Eine behauptete abso­lute Evidenz bezüglich des Gebots der prinzipiell gleichen Freiheit aller, der wechselseitigen Begrenzung von Freiheitsspielräumen mit dem Ziel ihrer prinzipiellen Harmonisierung, än­dert nichts an der Tatsache, dass wir in der Praxis sehr oft vor schwer beurteilbaren, mehr­deutigen Situationen stehen.

Eine weitere Frage zum Tötungsverbot: Wie definiert sich der Kreis der Lebewesen, deren Lebensrecht absolut tubu sein muss? Ist die Einschränkung auf Menschen überhaupt berech­tigt? Darf man Tiere, also der Empfindung fähige Lebewesen, schlachten und "vernutzen"? Oder ist es vielleicht gerade so schlimm, ein gesundes, lebensfähiges Tier zu töten wie einen er­wachsenen Menschen?

Begriffliche Unschärfen in Fragen der Auffassung gegebener, menschlicher Situationen, Handlungsweisen und Handlungsvorhaben sind m. E. kein Problem dieser oder jener morali­schen Tradition oder dieser oder jener Moralphilosophie. Diese Probleme sind unvermeidlich und existieren überall. Es ist mit dem Evidenzanspruch der absoluten Sollensnorm vereinbar, dass es in der Anwendung des moralischen Urteilsprinzips viele unentscheidbare, bzw. nicht endgültig entscheidbare Situationen gibt. So nehme ich z. B. die Gültigkeit des Tötungsver­bots an und bin mir dennoch nicht für alle Situationen darüber im Klaren, welche Verhaltens­weisen diesem Gebot genügen und welche nicht. In manchen Fällen ist es mir völlig klar, in anderen Fällen dagegen lassen mich "Evidenz" bzw. "Intuition" im Stich.

 

Ebenso sind Fragen der Verhältnismäßigkeit [in der Vergeltung] und der eindeutigen Abgren­zung sehr oft verwirrend und schwer entscheidbar.

 

Ganz am Rande: Die Vorstellung des Guten, bzw. die Vorstellung von moralischem Geboten­sein, von Verbotensein und Erlaubtsein, reicht nicht aus, um uns im Streitfall wechselseitig Verbindlichkeiten auf zu erlegen. Dieser Gedanke führt zu Fragen der Befugnis zu Jurisdik­tion und Rechtsdurchsetzung, also in die Philosophie des Staatsrechts, der öffentlichen Macht und im Ansatz auch der von Menschen zu institutionalisierenden Formen der Konfliktbe­handlung.

 

Aus diesen Gründen finden wir in der historischen Entwicklung die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung von Regelsystemen für das menschliche Verhalten. Selbst Regeln für das Finden von Regeln und Entscheidungskompetenzen haben sich im alltäglichen Mit- und Ge­geneinander historisch und gesellschaftlich herausgebildet, teilweise im Laufe von Jahrhun­derten.Dabei ist es übrigens nicht so, dass bestimmte Standpunkte, z. B. in der Abgrenzung des Öffentlichen vom Privaten, des Religiösen vom Politischen usw. usw. ein für alle Mal in einer festbestimmten Weise gesichert werden können. Z. B. als Standard, hinter den niemand zurück kann. Man fällt sehr oft leider hinter bereits erreichte Positionen zurück, wie die Ge­schichte der humanitären Standards für den Krieg lehren.

Man kann in der historisch-gesellschaftlichen Praxis in hegelia­nischer Weise [mit Einschrän­kungen] den Weg der sich selbst suchenden Vernunft sehen. Die "Methode" dieser Vernunft ist dabei eine sonderbare Art der Suche nach sich selbst, zum Teil am Rand der Selbstzerstö­rung. – Man ist vernünftig, indem man nach dem Vernünftigen sucht und nicht, indem man glaubt, im Besitz der Vernunft zu sein. - Tatsächlich aber gibt es im Kräfte­spiel vieler Inter­es­sen und Daseinsmächte moralische und weniger mo­ralische An­triebe vielfältiger Art zugleich.

 

[Pessimismus]

 

Ist die Buddha-Lehre ein Pessimismus? – Das kommt darauf an, wie man den ‚Begriff’ bzw. ‚Begriffsversuch’ „Pessimismus“ aufnimmt.

Die menschliche Situation ist der Buddha-Lehre zufolge eine Situation des Ungenügens. Die­ses Ungenügen reicht von Formen schwerer Not bis hin zu subtilem Ungenügen des Denkens und Empfindens.

Diese Situation wird nun in der Wahrheit von den Leidensursachen als eine Situation selbst­verschuldeten Ungenügens begriffen. Wenn man also sagt, Pessimismus sei die Lehre, dass die menschliche Wirklichkeit als Folge bzw. „Erscheinungsform“ menschlicher Schuld zu begreifen ist, dann sind Buddha-Lehre, Juden- und Christentum gleichermaßen pessimistisch. Die Welt, so wie sie ist, wird in einigen ihrer wesentlichen Aspekte als nicht wünschenswert aufgefasst.

Wenn man allerdings hinzusetzt, dass es ein anderer, ebenso wesentlicher Aspekt der Buddha-Lehre ist, dass es einen Ausweg aus der selbstverschuldeten Misère gibt, der letztlich sogar in der Überwindung der leidvollen Formen menschlichen Lebens besteht, dann ist die Buddha-Lehre [ebenso wie Juden- und Christentum] als optimistisch anzusehen.

Die Wirklichkeit, wie sie ist, wird negativ beurteilt, als der höheren Natur des inneren Selbst unangemessen. Diese innere Natur wird als wahre Natur des menschlichen Wesens behauptet, als inneres Buddha-Wesen, wahres Selbst, Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen usw.. In der menschlichen Wirklichkeit, wie sie ist, liegt dieses Wesen  bis zur Unkenntlichkeit entstellt, gefangen in kurzfristigem Nützlichkeitsdenken, schlechten Angewohnheiten, Gier und Hass.

Der Religionsinhalt ist geradezu utopisch, indem er die Überwindung von alle diesen Situati­onen, ja sogar von Krankheit und Tod in einer völlig anderen, dem höheren Selbst angemes­senen Wirklichkeit lehrt.

Vergessen sollte man bei alle dem nicht, dass es die Moral der Goldenen Regel ist, von der die Überwindung der selbst geschaffenen Not erwartet wird. Diese ist ihrem Anspruch nach eine Regel der Konfliktbewältigung in der menschlichen Welt, wie sie tatsächlich ist. Nicht lediglich eine Verfahrensregel für Heilige, die bereits im Himmel sind oder Gier-, Hass- und Verblendungslosigkeit bereits verwirklicht haben.

 

[Religionsdogmatismus]

 

Ist der Buddhismus weniger dogmatisch als das Christentum? – Der Natur dieser Frage nach lässt sich keine eindeutige Antwort geben. Was ist der wesentliche Gehalt des Buddhismus und des Christentums? Was die jeweils reine Lehre? Gibt es hinreichend präzise Begriffe des jeweils Wesentlichen? Und ist z. B. das Christentum seinem inneren Wesen nach dogmatisch. Und was ist ‚dogmatisch’? Ist jeder Versuch, wesentliche „Lehrinhalte“ von Beiwerk zu un­terscheiden, bereits ‚Dogmatismus’? Unter verschiedenen Voraussetzungen, die selbst bereits in weitläufige Diskussionen münden, könnte man die Frage beantworten..

Tatsächlich, also historisch real, hat es Dogmatismus in Christentum und Buddhismus gege­ben. Das bedeutet, dass man von Dingen gesprochen hat, von denen Menschen überhaupt nichts wissen können. Und es bedeutet, dass man bloße Denkbarkeiten transzendenter Art für erfahrbare Realitäten gehalten hat. Aber es ist nicht entscheidbar, inwiefern solche Stand­punkte für Christus und Buddha wesentlich gewesen sind. Besonders der Buddha selbst gibt in dieser Hinsicht ein aufgeklärtes Bild: Misstraut er doch den gedanklichen Spekulationen und sagt: Worauf es ihm hauptsächlich ankommt, ist die Selbsterfahrung und Selbsttätigkeit in Fragen der Leiderlösung, Bloß gedankliche Auseinanderetzungen möchte er [weitgehend?] auf sich beruhen lassen. Wir treffen hier also auf eine Art von Weltanschauungs- und Wiss­barkeitsskepsis innerhalb der ‚Lehre’ selbst.

Auch für Jesus Christus ist der antiklerikale Affekt als Kritik am sog. ‚Pharisäertum’ bekannt und ein Gehalt der ‚Lehre’ selbst. Dennoch ist auch hier die Beschränkung der Religionsin­halte auf rein Ethisches unbefriedigend. Ich denke, man kanne zugeben, dass es eine beson­dere Art von Folgepositionen der Ethik gibt, mit denen der Mensch das Feld empirischer Ein­zelaussagen weit überfliegt. Diese Fragen betreffen seine Stellung im Gesamtbereich des Denkbaren, vom dem das eigentlich empirisch Fundierte nur ein Teilbereich darstellt.

Andererseits sollte man nicht übersehen, dass sich eine mehr und mehr umfassende Religi­onslehre fast wie von selbst ergibt, wenn man erst einmal damit angefangen hat. Geht es doch um sehr allgemeine und dabei grundsätzliche Standpunkte, die Stellung des Menschen im Gesamtbereich des Wirklichen mit Denkbarkeiten, Diesseits und Jenseits, dann auch subjekti­vem und objektivem Dasein [als Teilbereich des Denkbaren überhaupt] usw.. Insofern haben die Versuche und Tendenzen zur Ausformulierung und Dogmatisierung der ‚reinen Lehre’ ein Fundament in der Suche und sind nicht lediglich der persönlichen Rechthaberei irgendwel­cher Religionseliten zuzurechnen.

Es ist m. E. angebracht, trotz berechtigter Dogmatisierungsvorhaben in den religiösen Traditi­onen die Gefahr des „Wissensdünkels“ nicht zu vernachlässigen. So sagt uns Goethe in der Studienberatung des Faust über die Theologie:

 

„Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden,

es liegt in ihr so viel verborgnes Gift,

und von der Arzenei ist’s kaum zu unterscheiden.“ [Faust I, 1985 ff.]

 

Das gilt m. E. auch für den Buddhismus, sowie vielleicht für jeder Vorhaben, eine allgemeine Wahrheit religiöser oder weltanschaulicher Art zu entwickeln. Der Buddha beruft sich zwar in vielen Fällen auf die alltägliche Erfahrung des Menschen mit sich selbst, - ganz besonders auf die Erfahrung des meditativ bemeisterten Geistes, - aber es ist nicht zu übersehen, dass es auch ihm darum gehen muss, zumindest in einigen Fällen, Wahrheiten über den Gesamtcha­rakter der menschlichen Realität aufzustellen. Insofern ist es nicht Missverständnis oder Zu­fall, wenn sich bei den Versuchen der Rezeption einer solchen Lehre Dogmatisierungsvorha­ben herausbilden und Endlosdiskussionen entstehen. Eine Wahrheit allgemeiner, endgültiger und unmissverständlicher Art gibt es nicht. Vielleicht kann es eine solche Wahrheit nicht einmal geben, in einem vielleicht zu präzisierenden Sinn von „geben können“. Vielleicht aber gibt es sie doch in eingeschränkter, mehr oder weniger vollkommener Weise.

 

Der Buddha schätzt seine Lehre nicht um ihrer selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck. Schwächung der unheilsamen Wurzeln und Leiderlösung ist das Ziel. Sein Gleichnis vom Floß, das zum Hinüberkommen, aber nicht zum Aufbewahren gebaut wurde, veranschaulicht diesen Sachverhalt. Der Erlöste wird ohne Bedürfnis sein, über die wahre Lehre zu streiten. Insofern beinhaltet diese Lehre sonderbarer Weise eine Relativierung ihrer selbst. – Anderer­seits beinhaltet diese Lehre einen Erkenntnisanspruch über die Stellung des Menschen im Gesamtbereich des Denkbaren und Wirklichen überhaupt. Ohne das Erwachen zur Wissens­klarheit [in maßgeblichen Dingen] erscheint die Leiderlösung nicht denkbar.

 

[Selbstdenken]

 

„Ganz recht, dass ihr zweifelt; in einem solchen Fall muss man zweifeln. Richtet euch nicht nach Hörensagen, nicht nach einer Überlieferung, nicht nach einer bloßen Behauptung, nicht nach Mitteilung heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Deduktionen, nicht nach äußeren Erwägungen, nicht nach der Übereinstimmung mit euren Ansichten und Grübeleien, nicht nach dem Scheine der Wirklichkeit, denkt nicht: ‚Der Shramana ist unser Lehrer [darum wollen wir ihm glauben]‘; sondern wenn ihr selbst erkennt, dass diese oder jene Dinge schlecht und verwerflich sind, von Verständigen getadelt und, ausgeführt oder begonnen, zum Unheil und Leiden führen, so sollt ihr sie verwerfen.“ [Anguttara Nikaya III, 65]

 

Wir finden in der Buddha-Lehre keine Berufung auf göttliche Offenbarung oder übermensch­liche Inspiration, die man als Erkenntnisquelle haben müsste, um den Wahrheitsgehalt seiner Lehre nachzuvollziehen. Der alltägliche Mensch mit seinen alltäglichen Erkenntnisfähigkei­ten, einschließlich der Fähigkeiten des Wahrnehmungsbewusstseins und des subjektiven In­newerdens von Denkinhalten, ist Adressat der Lehre. Es wird ihm nicht zugemutet, mit frem­den Augen besser zu sehen als mit den eigenen. Allerdings wird behauptet, dass der meditativ geübte Geist die Wirklichkeit klarer zu sehen vermag als der ungeübte. Die Beruhigung und Besänftigung des Geistes gilt als unentbehrliches Mittel der Beseitigung von Erkenntnishin­dernissen. Er rät uns, vor allem, unseren Geist zu besänftigen, „Anhaftungen“ abzubauen, um so nach und nach die Fähigkeit der Selbststeuerung zu kultivieren.

 

Der Buddha sagt im Grunde genommen: „Folge nicht mir und meinen Worten, folge Die selbst!“ Hier liegt der Gedanke nahe, es handele sich um einen paradoxe Aufforderung. Macht es Sinn, jemanden aufzufordern, frei und unabhängig zu denken oder zu handeln? – Ich schlage folgendes vor: Der Buddha hat Texte verfasst, bzw. Worte gesprochen, welche [in einigen Fällen] gewisse Anregungsqualitäten besitzen. Man wird zum Bewusstsein über ver­schiedene Dinge angeregt, man findet sich wieder in seinem allgemeinen und grundsätzlichen Bild der menschlichen Dinge. Man bleibt aber frei dazu, dies sogar auf unaufgebbare Weise, sich irgendwelche herangetragenen oder aufgefassten Ansichten in diesem oder jenem Punkt zuei­gen zu machen oder nicht. In diesem Sinn war der Buddha Existenzialist. Wenn jemand glaubt, etwas nicht wissen zu können, zumal in nicht-empirischen, metaphysischen Fragen, wird ihm dies nicht als selbstverschuldetes Unwissen angelastet. Er wird allerdings an sich selbst und seine Fähigkeiten der Denk- und Verhaltensübung zurück verwiesen.

 

Es ist ein sympathischer Zug der Buddha-Lehre, dass sie den einzelnen selbst ein freies Urteil darüber fällen lassen will, welches Für-wahr-halten er gelten lassen möchte und welche Art von Übung er zu seiner Erlösung für zweckdienlich erachtet, falls er überhaupt erlöst sein möchte. Glaubens- und Übungspflichten sind mit diesem Gedanken nicht zu vereinbaren. Ich wage allerdings nicht zu behaupten, dass all diejenigen, die in der Buddha-Lehre Zuflucht suchen bzw. gesucht haben, durchweg diesen hohen Anspruch einhalten können. – Wer „nicht glauben kann“, bzw. wem manches an der Lehre übertrieben und abgehoben erscheint, der hat allein deshalb nichts zu befürchten. Der Buddha sagt allerdings: „Ihr habt zu befürchten, dass euch angetan wird, was ihr andern tut.“ Und er glaubt einen Weg zu kennen, wie man aus dem circulus vitiosus herauskommt.

 

Ist die Buddha-Lehre eine areligiöse, atheistische Morallehre? – Ein dogmatischer Atheismus muss wohl als Übertreibung zurückgewiesen werden. Der Standpunkt ist eher als Agnostizis­mus in metaphysischen Fragen aufzufassen. Dabei ist die Offenheit und Unentscheidbarkeit in metaphysischen Angelegenheiten festzuhalten. Würde man dazu übergehen, sogar die bloße Denkbarkeit nicht-empirisch transzendenter Sachverhalte zu bestreiten, entfiele die Distanzie­rungsmöglichkeit gegenüber unseren Denkinhalten und Willensimpulsen. Auch die Distanzie­rungsmöglichkeit gegenüber unserem individuellen Dasein. Sogar gemäß der Denkbarkeit allein. – Nirwahn, die Stille des Geistes, würde damit zur Undenkbarkeit, also zum hölzernen Eisen.

 

Der Gedanke der Drangversiegung und Leiderlösung ist deutlich vom Gedanken des wahren Ich her inspiriert.

 

Um ein Koan zu verfassen: Wir werden erlöst sein, wenn es uns nicht mehr gibt.

 

Der Erlösungsbegriff fällt weitgehend zusammen mit dem Begriff der Befreiung, der Begriff der Befreiung mit dem der Überwindung. Man kann fragen: „Wer oder was kann befreit werden?“ – Man kann fragen: „frei wo­von?“ Man kann fragen: „frei wozu?“ – Der Buddha strebt also nach völliger Leidfreiheit, völliger Drangerlö­schung, nach radikaler Erlösung von jeglicher leidvoller Wirklichkeit, welches er gleichsetzt mit der Erlösung von der Wirklichkeit überhaupt.

 

In der Sutta vom „Lohn der Büßerschaft“ [Digha Nikaya 2] heißt es:

 

„So löst sich ihm der Geist vom Sinnlichkeitstrieb,

löst sich ihm der Geist vom Werdetrieb,

löst sich ihm der Geist vom Verblendungstrieb.

Im Befreiten ist das Wissen vom Befreitsein.

‚Vernichtet ist Geburt, ausgelebt ist das Reinheitsleben, vollbracht die Aufgabe;

nichts weiteres nach diesem hier’ erkennt er.“

 

Das höchste und letzte Ziel: Daseinsbefreiung als Befreiung vom Dasein, Nicht-wiederkehr, Loslösung und ein wirkliches Ende „von alle dem“, was unser wahres Ich nicht ist.

 

[Metatheologisches]

 

Wir haben in Religions-Sachen gleichzeitig mit mehrerlei zu rechnen: Streben nach dogmati­scher Verfestigung und Streben nach lebendiger Erfahrung und Einsicht zugleich. Der erste Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Anspruch auf weltanschauliche Wahrheit. Sie betrifft die Stellung des Menschen im Gesamtbereich der Denkbarkeiten und der Wirklichkeit, verallge­meinert und überfliegt empirische Einzelbefunde aus verschiedenen Bereichen auf ein Ge­samtbild hin. Die Tendenz zu einer verfestigten Form der Formulierung ergibt sich auch dar­aus, dass die erhobenen Wahrheitsansprüche möglichst unangreifbar und unmissverständlich sein sollen, was selbst schon eine kaum lösbare Aufgabe darstellt. Der Religionsinhalt soll in Anknüpfung an alltägliche Denkinhalte ohne allzu viel Fachjargon formuliert werden, dabei möglichst unangreifbar und unmissverständlich sein. Er soll den Laien ansprechen und der beurteilenden Reflexion schriftgelehrter Kreise zugleich standhalten.

Der zweite Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Anspruch, eine den einzelnen Menschen betref­fende, „existentielle Angelegenheit“ [ebenfalls mit Wahrheitsansprüchen versehen!] zu sein, kein „toter Hausrat“ [Fichte] und „Formelkram“, sondern lebendiges Denken, echte Einsicht und übergreifende Klarsicht zugleich. Tatsächlich beeinträchtigen sich die ver­schiedenen Tendenzen wechselseitig in vielen Fällen. Eine integrative Einheit gelingt den­noch in Einzel­fällen und führt dann [ähnlich wie in der ästhetischen Produktion] zur gelunge­nen Einheit von Denken und Erleben. Bezüglich eines Themas wie: „die Stellung des Menschen im Kosmos.“

 

[Hermeneutisches]

 

Man spricht von Deutung und Missdeutung, von Verständnis und Missverständnis [z. B. in Bezug auf geäußerte Ansichten], und insofern ergeben sich Reflexionen auf „die hermeneuti­sche Situation“, in der wir uns [fremden Gedankenäußerungen gegenüber] befinden. Es han­delt sich um Reflexionen auf die Situation des Verstehens und auf das, was da zu verstehen ist. Insofern auch auf die Situation gegebener Verstehensmöglichkeiten.

Das Verstehensproblem bezüglich einer alten Religionslehre resultiert nicht allein aus der Schwie­rigkeit, sozio-kulturelle Distanz[en] zu überbrücken. Als ein zusätzliches Prob­lem ergibt sich die Frage, wie wir es rechtfertigen, aus der überbordenden Fülle der Materia­lien. Überlieferungen und Überlieferungslinien „essentielle Gehalte“ [der „eigentlichen Lehre“] herauszustellen. Diese Gehalte, wenn es sie gibt, sind das Einheitliche in ansonsten unter­scheidbaren Materialien, also, wenn man so sagen will: „Identisches in Nicht-Identischem“, Wieder-zu-findendes in ansonsten mehr oder weniger verschiedenen Gegebenheiten. Es geht darum, das We­sentliche und das Wichtige der „eigentlichen Lehre“ zu erkennen, um sagen zu können, „worauf es dabei ankommt.“ Dies wiederum, um z. B. das Zeitgebundene gege­bener Texte vom überzeitlich Gültigen zu unter­scheiden. Über­historische Wahrheitsansprü­che ent­wachsen einem sozio-kulturellen Bo­den. Dieser Boden ist eine historisch-gesellschaft­liche Situation, wobei wir von den entsprechen­den sozio-kultu­rellen Fakten wahrscheinlich weni­ger wissen, als uns nützlich wäre.

Zum andern besteht die Schwierigkeit der Auffassung formulierter Weltanschauungs-Gedan­ken darin, dass es sich nicht um experimen­tell und beobachtungsmäßig isolierbare Einzelbe­funde handelt, die es wahrzunehmen gilt, sondern um umfassende Denkansätze mit weitläufi­gen Gründen und Hintergründen, bei denen an verschiedenen Punkten sehr viele Fäden zu­sammen laufen.

Eine Religionslehre ist keine empirische Einzelwissenschaft, die sich z. B. um die Verbesse­rung experimenteller Arrangements bemüht, um zu experimentell reproduzierbaren Situati­onsabläufen und belastbaren Einzelbefunden zu gelangen. Sie entwirft vielmehr den Rahmen einer Gesamtdeutung des menschlichen Lebens und gelangt  zu einer Systematik und Typolo­gie der menschlichen Angelegen­heiten insgesamt. Sie hat Themen wie „Grundcharakter des menschlichen Daseins“, „wirklich Wichtiges“, „worauf es letzlich ankommt“, „Verheißung“ und „Erlösung“ und stellt bisweilen sehr umfassende Aussagen, Einschätzungen und Wertun­gen auf.

Religionslehren erheben in besonderen, „typischen“ Fragen den Anspruch auf besonders maßgebliche, endgültige Wahrheit. Tritt hier ein Interpret oder Adept hinzu mit dem An­spruch auf die endgültige, allein richtige Deutung der endgül­tigen, unübertrefflichen Wahr­heitsgehalte, begegnen wir dem hermeneutischen Problem in konzentrierter Form. Das Prob­lem tritt nun besonders deshalb hervor, weil es nicht allein darum geht, Wahres zu sagen, sondern Wahres über als wahr Propagiertes und über die „wirklich wichtigen“ Zusammen­hänge, Hauptpunkte und essentiellen Inhalte des Ganzen.

Wahrheit in reiner, unvermischter Gestalt, d. h. in einer durch interpretatorische Zusätze gänzlich unveränderter [„unverfälschter“] Gestalt, das gibt es wahrscheinlich nicht. Es gibt aber dennoch richtige und fal­sche Auffassungen bezüglich „gegebener“, bzw. vorgetragener Gedanken und Auffassungen. Es gibt sie, obwohl diese Auffassungen nicht ohne interpretato­rische Zusätze geschehen können. Wir bemerken folgendes: Um überlieferte Gedanken aufzu­fassen, müssen wir in einem ersten Schritt Mutmaßungen und Behauptungen bezüglich der Richtigkeit unserer Auffassung [der vorliegenden Lehren] vornehmen, um zu erkennen, zu welchen Aussageinhalten es Stellung zu nehmen gilt. Hier geraten wir auf Reflexionen über Wortbedeutungen, konstatieren und „kon­struieren“ Gesamtzusammenhänge, modifizieren Vorverständ­nisse, treten ein in den „hermeneutischen Zirkel“ bzw. in die „hermeneutische Spirale“. In einem weite­ren Schritt können wir dann fragen: „Was spricht für diese Auffas­sungen, was dagegen?“ „Sind diese Ansichten entscheidbar auf wahr und falsch?“ Es geht darum, gegebene Gedanken in ihren Formulierungen [nach Geist und Buchstabe] richtig auf­zufassen, zweckmäßig und vertretbar zu systematisieren und letztlich noch etwas Wahres über das richtig Aufgefasste zu sagen. Bereits die Richtigkeit der Auffassung entspricht weitläu­figen Wahrheitsbehauptungen, die eventuell nur in langwierigen exegetischen Bemühungen zugänglich werden. Zu den behan­delten Themen wurde unüber­sehbar viel gesagt, und den­noch soll etwas Weiteres gesagt werden, weil die Sache so großes Interesse erregt hat. Weit­läufigen Wahrheitsbehauptungen entsprechen des weiteren die „wirk­lich bedeutenden“ Zu­sammenhänge, die einzelnes verbinden, Hintergrundverständnis, Wich­tigkeitsgewichtungen usw..

„Exegese“ kommt von dem griechischen „exago“, „herausführen“. Es ist insofern bedeu­tungsverwandt mit dem lateinischen Ausdruck „deduco“, „deduzieren“, das wir in moderner Sprechweise aller­dings bevorzugt für strenge logische Ableitungen verwenden. Bei ‚Exege­sen’ ist erfahrungs­gemäß allerdings oft die Frage, ob wir uns vom Hundertsten in’s Tau­sendste verlieren oder etwas für die Überlegung Haltbares herausbringen.

Es geht in der Religionslehre um allgemein menschliche Themen und Gesamtauffassungen der Wirklichkeit. Um ein Zusammen-bestehen-können von allgemeinen Wert- und Tatsachen­fragen, die Einheit und Vielfalt des Denkens bezüglich all dieser Bereiche. Die Stellung des Menschen im Gesamtbe­reich des Denkbaren und Wirklichen. Glauben und Wissen, Sein und Sollen. Das Thema ist unerschöpflich und unabschließbar aufgrund der Sache selbst, der Sprache, sie zu besprechen und aufgrund der verschiedenen Gesichtspunkte, darüber nachzu­denken.

 

Die Beurteilung einer Lehre kann nur erfolgen, indem Wahres über [von der Lehre] als wahr Behauptetes ausgesagt wird. Die [unumgänglich] interpretierende Auffassung muss sich fra­gen, inwiefern sie durch ihre interpretatorischen Zusätze die Lehre unverfälscht erfasst. Aus­sagen wie „Hauptpunkte sind X, Y und Z“ sowie „die Zusammenhänge, auf die es ankommt, sind folgende: ...“ betreffen Wahrheitsfragen bezüglich der Richtigkeit des Verständnisses und des Aufgefassten. Wahrheiten über das als wahr Behauptete können sein: „Die Ansicht X ist überzogen, Y ist unerweislich, Z ist wahr cum grano salis, und eindeutig wahr ist folgen­des: ...“ Im Alltagsleben beurteilen wir natürlich Dinge, über die wir noch nicht genügend nachgedacht haben, und als Rezensenten der neueren Zeit beherrschen wir [nach Lichtenberg] die Kunst, Schriften zu rezensieren, bevor wir sie richtig gelesen haben. Selektivität und die Endlichkeit unserer Ressourcen an Aufmerksamkeit und Scharfsinn legen uns dies nahe.

 

Proteus ist ein antikes Fabelwesen, das sich in jeder anderen Gestalt, nur nicht in der unver­fälscht eigenen Gestalt zu zeigen vermag.. Ähnlich der wesentliche Gehalt einer Religions­lehre. Er vermag sich lediglich in der Gestalt deutenden Auffasst-Seins und interpretierender Tradition zu zeigen, die seinem inneren Wesen nur teilweise entsprechen.

 

Wenn innerhalb gewisser Traditionslinien Interpretation A und B, sowohl auch B und C ein­ander genügend ähnlich sind, um als Interpretation derselben Gehalte zu gelten, so muss zwi­schen A und C diese Relation „genügend ähnlich“ nicht bestehen. Das ist die Eigenschaft „Nicht-Transitivität“ in Bezug auf diese Ähnlichkeitsrelation.

 

[Allgemeingültigkeiten]

„Diese Wesen eilen und wandern dahin, scheiden ab und erscheinen wieder, es ist eben das ewig Gleiche.“

 

„Lange Zeit hindurch ist dieser Geist von Gier, Hass und Verblendung getrübt worden.“

 

Was andern geschieht, geschieht auch mir. Auch ich bin der Krankheit, dem Alter und dem Tode unterworfen.

 

Nicht zu ermessen ist der samsara, nicht zu erkennen ist der Ausgangspunkt der durch Nicht-Wissen [Verblendung] gehemmten, durch den Durst gefesselten Wesen, die den Lauf der Ge­burten eilend durchwandern. Und während so langer Zeit hat das Leid bestanden, hat das Weh bestanden, hat das Elend bestanden, haben die Leichenstätten sich angefüllt. Dies also genügt vollkommen, um aller Gebilde satt zu werden, es genügt, um die Lust daran zu verlieren, es genügt, um sich davon zu erlösen. [Digha-Nikaya XXIII, 1, 10]

 

„Alle Dinge sind das Nicht-Selbst.“

 

„Leer ist die Welt vom Selbst und vom Eigenen.“

 

„Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.“

 

„Aus Nichtverstehen und Nichtbegreifen der vier edlen Wahrheiten, ihr Jünger, ist dieser lange Weg durchlaufen und durchwandert worden, von mir wie auch von euch.“

 

Dukkha Sacca: Erste der Vier Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche, ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, Zusammen-sein mit Unliebem ist Leiden, Ge­trenntsein von Liebem ist Leiden, Nichterlangen, was man wünscht, ist Leiden, kurz die fünf Anhaftungsgruppen (Upadana-Khandha).« (MV 1,6 und S 56,11)

 

Samudaya Sacca: Zweite der Vier Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche, ist die edle Wahrheit von der Ursache des Leidens: Es ist dieses Begehren (tanha), das zur Wiedergeburt führt, das mit Freude und Vergnügen verbun­den ist, das mal hier und mal da Gefallen findet, nämlich: Begehren nach der Sinnenlust, Begehren nach Dasein, Begehren nach Werden, Begehren nach Vernichtung.« (MV 1,6 und S 56,11)

 

Nirodha Sacca: Dritte der Vier Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche, ist die edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Es ist das vollständige, restlose Ende des Begehrens (Tanha), das Aufgeben, die Entsagung, die Befrei­ung, die Loslösung davon.« (MV 1,6 und S 56,11)

 

Magga Sacca: Vierte der Vier Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche, ist die edle Wahrheit vom Weg, der zur Auf­hebung des Leidens führt: Es ist der edle Achtfache Pfad (Magga), nämlich: Rechte Ansicht (Samma Ditthi), Rechtes Denken (Samma Sankappo), Rechte Rede (Samma Vaca), Rechte Handlung (Samma Kammanto), Rech­ter Lebenserwerb (Samma Ajivo), Rechte Anstrengung (Samma Vayamo), Rechte Achtsamkeit (Samma Sati), Rechte Konzentration (Samma Samadhi).« (MV 1,6 und S 56,11)

 

Zur Ergänzung der zweiten Wahrheit folgende prägnate Sätze aus Digha Nikaya, Nr 33, San­giti Sutta:

 

„Es gibt folgende Wurzeln des Unheilsamen: Gier, Hass und Verblendung; und es gibt drei Wurzeln des Heilsa­men: Gierlosigkeit, Hasslosigkeit und Unverblendung

 

Auch hier haben wir, ähnlich wie bei dem Wort „dukkha“ Überdehnungen der alltäglichen Wortbedeutung zu berücksichtigen:

Gier – Anhaften an, Anhängen an, Nicht-los-lossen-können, Nicht-aufhören-können.

Hass – heftiges Widerstreben, Sich-wehren-gegen, Sich-nicht-abfinden-können, Nicht-aufhören-können [wie bei der Gier auch].

Verblendung – Nicht-wahrhaben-wollen der Auswirkungen unseres Tuns für andere und uns selbst zu anderer Zeit, Nichts-wissen-wollen von dem, was wir andern und uns selbst antun.

 

Verkürzt sagt die zweite Wahrheit also: Wurzel der menschlichen Misère, wie wir sie kennen, ist mit unserer höheren geistigen Natur unversöhntes Streben [innerer Drang]. Dabei wird angenommen, dass der innere Geist in uns eine Moral der gleichen Freiheit aller beinhaltet. Gelänge es uns, in Einklang mit dieser Moral [der „ei­gentlichen“] zu leben, würden wir dukkha, die menschliche Misère, überwinden. Letzteres kann man „glauben“ oder [lediglich? immerhin?] als unerweislich und unentschieden offen halten.

 

 

„Das Unerschaffne, ihr Mönche, will ich euch weisen – die Wahrheit – das jenseitige Ufer – das Schwererkennbare – das Alterlose – das Beständige – das Jenseits aller Mannigfaltigkeit – das Todlose – das Heil – die Sicherheit – das Wundersame – das vom Siechtum Freie – das Leidlose – das Lautere – das Eiland – den Schutz die Zuflucht usw.“ [zitiert nach Visuddhi-Magga, VIIII, Friedensbetrachtung]

 

 

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003/2004