Buddhistische
Anklänge
Psychologische,
religiöse und philosophische Partikel
[versuchte
Kurzfassung des Ganzen]
Das
Leben ist uns um den Preis des Todes, das Glück, - wenn überhaupt -, um den
Preis seiner Unvollkommenheit [und Unbeständigkeit] gegeben. [Kontext,
1. Wahrheit] Damit sind zwei der drei vom Buddha angenommenen
‚Daseinsmerkmale’ genannt: Vergänglichkeit [anicca] und Leidunterworfensein
[dukkha].
Das dritte Merkmal, anatta, z. B. als ‚Ichlosigkeit’ oder ‚Selbstheitsermangelung’ übersetzt, ist schwerer zu verstehen. Es meint die Nicht-Existenz eines „wahren“ oder „eigentlichen“ Ich-Selbsts in der gesamten erfassbaren Wirklichkeit. „Alle Dinge sind das Nicht-Selbst,“ lehrt der Buddha. Und: „Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.“ [z. B. M 109]
Es gibt nichts [im gesamten Bereich des Wirklichen und des Denkbaren], in Bezug worauf ich sagen kann: „Das bin ich selbst“, 1. im Unterschied zu allen Inhalten meines Denkens, 2. im Unterschied zu alle dem, was mir an Eigenschaften zukommt, [im Unterschied zu allem,] was mir umstandsgemäß zugefallen ist, [im Unterschied zu allem,], was ich mir zueigen gemacht habe, [im Unterschied zu allem,] was ich mir [aus irgendwelchen Gründen] zurechne.
Die gesamte erfassbare Wirklichkeit [des bedingten Entstehens und Vergehens] enthält nichts, was ich mit dem inneren Ich meines Bewusstseins gleichsetzen kann. Sie unterliegt der Ermangelung an unbedingtem, reinen Selbst-Sein. Das eigentliche Ich ist kein Teil der Wirklichkeit. ‚Wirklich’ sind wechselnde ‚Gruppierungen’ [Aggregationen, khandas] vergänglicher Daseinsfaktoren und Konstellationen sowie Überlagerungen und Wechselwirkungen verschiedener Prozesse. Von all diesen Dingen und Geschehnissen aber gilt: „Das ist nicht mein Ich, das bin ich nicht selbst.“ Das gilt auch von meiner psycho-sozialen ‚Identität’ und Individualität. Es gilt auch von meinen relationalen Eigenschaften, z. B. davon, dass ich der Sohn meiner Eltern, der Bruder meiner Geschwister, der Freund meiner Freunde und der Schüler meiner Lehrer bin. – Soviel als Auftakt zur Anatta-Lehre, die ein Kernbestand der Buddha-Lehre ist.
Gleichbedeutend
mit der Rede von den „drei Daseinsmerkmalen“ [ti-lakkhana] ist die Rede von den
„drei [grundlegenden] Tatsachen“. 1. Vergänglichkeit des bedingt Entstandenen
2. Unvollkommenheit des Glücks [Mangel an „Beständigkeit des wahren Glücks“] 3.
Leerheit [sunnata] an substantiellem und unvergänglichem Dasein.
Die Daseinsmerkmale stehen in limitativ-komplementärem Gegensatz zu den [immerhin? lediglich?] denkbaren Merkmalen des Nirwahn. Un-vergänglich-sein, Un-bedingt-sein, Vollkommen-genug-sein, Wahrhaft-selbst-sein. Letzteres im Sinne des Denkens selbst [d. i. des absoluten Subjekts bezüglich] all dessen, was [von mir und allen andern auch] [als Denkinhalt] gedacht werden kann.
Ich
halte es der Erwähnung für wert, dass die „drei Merkmale“ drei Arten von
Wirklichkeit entsprechen, mit welchen der Mensch zu tun hat. Das erste Merkmal
ist naturphilosophisch und betrifft das bedingte Entstehen und Vergehen
natürlicher Gestaltbildungen in der raum-zeitlich ausgebreiteten, körperlichen
Wirklichkeit. Das zweite Merkmal ist psychologisch und betrifft z. B. die
Tatsache, dass wir mit ungestillten Trieben und Bedürfnissen [sowie Empfindungen
der Unzufriedenheit] schmachten müssen, und dass es einen dauerhaften Genuss
wahrer Freuden des Lebens nicht gibt. Das dritte Merkmal korrespondiert der
Tatsache, dass wir es nicht nur mit materieller und psychischer Realität,
sondern auch mit [ev. rein konjunktivischen bzw. kontrafaktischen] Denkbarkeiten
[mental Erfasstem] zu tun haben. Mehr oder weniger abstrakte Denkbarkeiten
halte ich nicht einfach für natürlich Gegebenes. Es gibt mancherlei Denkbares,
was niemals Wirklichkeit war oder sein wird. Dennoch spielen Denkbarkeiten
eine große Rolle im menschlichen Leben, nicht nur in Form von logischen und mathematischen
Modellen und Entitäten wie z.B. Zahlen, Zusammenhängen von Messergebnissen
oder dem Denkmodell „klassische Partikelmechanik“, sondern auch in Form von
Sorgen, Befürchtungen, Idealbildungen usw..
Die
Sorge betrifft z.B. Eventualitäten, die sich nach uns verfügbarer Erkenntnis
realisieren könnten, aber wegen dieses konjunktivischen Charakters „lediglich“
Denkbarkeiten darstellen. Außer der „Realität“ der Befürchtung selbst kann
unsere Befürchtung grundlos und gegenstandslos sein und doch sehr reale
Auswirkungen in unserem Leben haben. Manchmal sind wir so sehr auf bestimmte
Befürchtungen und Sorgen fixiert, dass wir andere, tatsächlich bestehende
Gefahren übersehen. Man bemerkt die Bedrohung durch die Skylla und gerät unversehens
in den Strudel der Charybde, deren Gefahr einem überhaupt nicht bewusst war.
Durch
Ansammlung verschiedener Bedingungen [Zusammentreten, Zusammentreffen, Gruppierung]
entstehen und vergehen verschiedene [prozessartige] Daseinsphänomene. Diese
Phänomene erschöpfen sich z. B. durch Alterungs- und Abnutzungsgeschehnisse
bzw. dadurch, dass der Zahn der Zeit mehr und mehr an ihnen nagt. Empfunden
wird das Ganze von den empfindungsfähigen Lebewesen nur zu einem geringen,
aber entscheidenden Teil als besonders lustvoll [bei der sexuellen
Fortpflanzung], überwiegend allerdings als nicht [völlig] bedürfnisgerecht.
Letztlich tritt der denkende Mensch mit seinem ungeheuren Abstraktionsvermögen
hinzu und sagt: „All dies endlos bedingte Entstehen und Vergehen, das ist nicht
mein wahres Ich.“ Die Befähigung zu dieser Loslösung gilt als höchste
Fähigkeit des Menschen. Sie befähigt ihn zur Besänftigung seines inneren
Drangs und zum Denken der Stille. Als letztes Ziel der Übung propagiert der
Buddha „Entwurzelung der Anhaftungen“, „Entsüchtung“, „Geistesruhe“,
„Triebversiegung“ und „Durchbrechung der Daseinsrunde“, „Loslösung“,
„Erlösung“ und „Nicht-Wiederkehr“.
[Dukkha]
„Dukkha“
bedeutet eher „Ungenügen“ als „Leiden“, mit dem wir es in der Regel übersetzt
finden. „Dukkha“ werden nicht nur alle Formen von Not und Bedrängnis genannt,
sondern auch alle Formen von schwer bestimmbarem Ungenügen. Alles, was uns
wurmt und nicht leicht zur Ruhe kommen lasst, ist dukkha. [Kontext,
1. Wahrheit]
Gleich zu Anfang treffen wir also auf eine für „weltanschauliches“ Denken typische Erweiterung der Anwendungssphäre eines alltagssprachlichen Ausdrucks. Der Ausdruck „Leiden“ im Kontext der Buddha-Lehre ist unspezifischer [allgemeiner, unbestimmter] als der alltagssprachliche Ausdruck und besitzt somit eine weitaus umfassendere Extension. Mit der Falsifizierbarkeit entsprechender [diesen Ausdruck enthaltender] Aussagen wie z. B. „das Leben ist dukkha“ wird es damit schwieriger. Die Aussage wird weitgehend immun für Widerlegungsversuche und für jedes Ja/Nein-Experiment. Wahrscheinlich ist sie dennoch eine Wahrheit bezüglich allen empfindsamen Lebens in der Natur.
Zu
entbehren, was man braucht, ist dukkha. Zu entbehren, was man zu brauchen
glaubt, ist ebenfalls dukkha.
„Nicht
erlangen, was man wünscht“, ist dukkha.
In
Umstände geraten, wie man sie sich nicht wünscht, ist dukkha.
Zu
erlangen, was man wünscht, was einem dann aber nicht zuträglich ist, ist
ebenfalls dukkha.
Es
gibt Fälle, in denen uns Schlimmes geschieht, wenn uns zuteil wird, wonach wir
schmachten.
Tun
müssen, was wir nicht wünschen und unterlassen müssen, was wir so gerne täten,
ist dukkha.
Zusammensein
mit denen, die uns gleichgültig sind und Nicht-Zusammensein mit denen, in deren
Gesellschaft wir gerne wären, ist dukkha.
Über
Dinge sprechen müssen, die uns gerade nicht interessieren und über Dinge nicht
sprechen zu dürfen, über die wir uns gerne bereden möchten, ist dukkha.
Von
denen nicht anerkannt werden, an deren Wertschätzung uns liegt und anstatt
dessen die Wertschätzung derer zu erhalten, an deren Meinung uns wenig liegt,
ist dukkha.
Wollen,
was man nicht kann, und müssen, was man nicht will, ist dukkha.
Lieben
und auf keine Gegenliebe treffen, ist dukkha. Geliebt-werden und nicht
wieder-lieben, ist ebenfalls dukkha.
„Zusammen-sein
mit Unliebsamem, Getrennt-sein von Liebsamen“ ist eine Definition des
raum-zeitlichen, psycho-somatischen In-der-Welt-seins der Lebewesen. - Raum ist
die Art des Zusammenseins von Gleichzeitigem. - Dazu ein anmutiges Zitat:
„Wenn
Unliebsames man erblickt,
erst
geistiges Leiden sich erhebt,
tritt
jenes aber nah heran,
kommt’s
auch zu körperlichem Leid.“
Also
ist dukkha jede Unzulänglichkeit, jegliches Ungenügen und jegliche
Unvollkommenheit in einem sehr weiten Sinn. Jede Diskrepanz zwischen Wunsch und
Realität, zwischen innerem Bedürfnis und äußeren Umständen, oder auch nur
zwischen schwer harmonisierbaren Bedürfnissen. Unzulänglich ist „das Gegebene“,
bzw. „das Gewordene“ oder „Entstandene“ respektiv irgendwelcher Bedürfnisse und
Erwartungen, die wir uns aus irgendwelchen Gründen nun einmal zueigen
gemacht haben. [Kontext, 1. Wahrheit]
Ein
„existentialistischer“ Gesichtspunkt: Bedürfnisse und Wünsche hat man, indem
man sie sich zueigen gemacht hat. Subjekt unseres Bewusstseins ist ein Vermögen
[eine Fähigkeit] des Sich-zu-eigen-machens oder Sich-nicht-zu-eigen-machens
[Annahme und Zurückweisung] von Bewusstseinsinhalten, des Festhaltens oder
Ziehenlassens der Gedanken- und Willensimpulse. [Kontext, 4.
Wahrheit]
Man
muss nach dem genannten „existentialistischen“ Gesichtspunkt nicht annehmen,
dass Stimmungen, Emotionen usw. willkürlich, bzw. in freier Selbsttätigkeit
produziert werden. - Die freie Selbstsetzung, um auf Fichte anzuspielen,
betrifft nur das innerste Ich, welches als nicht-physisch, nicht-psychisch,
a-historisch, a-individuell „bestimmt“ wird. - Das Subjektive, welches
individuell ist [„trotz“ sozial-psychologischer Abhängigkeit], wird durch die
Macht des unsichtbaren Geistes lediglich [immerhin?] [mehr oder weniger]
beeinflusst. Der Buddha geht davon aus, dass wir die Macht besitzen, unseren
inneren Drang [mehr und mehr] zu besänftigen. Er sagt nicht, dass wir, sozusagen
aus dem Stand heraus, die Herren und Kontrolleure unserer inneren Impulse
wären. Zügelung und Meisterschaft über den inneren Drang [zum Unheilsamen] ist
das Fernziel langer Übung. „Vollständige Geisteskontrolle“ u. dgl. sind
Aufgaben und ferne Ziele, die man nicht einfach durch Entschluss „unmittelbar“
verwirklichen kann.
Wir
sind nicht die Meister unserer Aufgeregtheiten. Wir können uns lediglich darin
üben, es mehr und mehr zu werden.
Die
Fähigkeit, sich etwas zueigen zu machen [oder nicht], ist nicht statisch
sondern veränderlich. Wir können uns auch Fähigkeiten aneignen. Es gibt also
Fähigkeiten höherer Stufenordnung, nämlich in Beziehung darauf, uns
irgendwelche andere Fähigkeiten zu erwerben. So kann man gewisser Maßen auch
lernen, wie man lernt. Man kann sagen: Fähigkeiten des Aneignens sind rekursiv
und bauen sich auf irgendwelchen grundlegenderen Fähigkeiten des Sich-Aneignens
auf. Die entstehenden Fähigkeiten selbst stehen also in Relation zu jeweils
vor- und vorvorgängigen Fähigkeiten. Dies ist ein auch in der
Existenzphilosophie wichtig gewordener Gedanke. Kierkegaard z. B., ein
Vorläufer dieser Denkweise, gab für den menschlichen Geist die sonderbare
Kennzeichnung, er sei ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. So
könnte man, genau genommen, auch den Buddha, vielleicht auch noch etliche
andere, zu Vorläufern dieser bedeutenden anthropologischen Einsicht machen. Man
kann diese Einsicht auch ausdrücken, indem man sagt, dass es uns nicht möglich
ist, uns nicht zu verhalten. Auch wenn wir uns manchmal lediglich als Opfer des
Verhaltens unserer Mitmenschen sehen, haben wir doch eventuell Eigenanteil am
Ergebnis der Wechselwirkung, indem wir uns Verhaltens- und Denkweisen zu eigen
gemacht haben, die zum Endresultat beigetragen haben. – Es hat uns z. B.
jemand Unrecht getan, aber es erhebt sich dann auch die Frage, wie wir damit
umgehen, und ob wir keinen vermeidbaren Zusatzschaden anhäufen. - Hier eröffnet
sich eine subtile Psychologie der selbstverantwortlichen Eigenanteile.
Der
Mensch erzeugt seine eigentümlichen Fähigkeiten in Wechselwirkungen und
Rückkopplungen mit anderen Menschen, mit den Dingen und auch mit sich selbst.
Kaum eine seiner Eigenschaften kommt ihm einfach nur statisch und in
unveränderlicher Weise zu. Er existiert zu einem erheblichen Teil als sich
selbst veränderndes Verhältnis zu sich selbst.
Wir
leben in einer von unseren Wünschen und Erwartungen weitgehend unabhängigen Ordnung
der Wirklichkeit. Unsere Absichten werden von den tatsächlichen Geschehnissen
oft durchkreuzt. [Kontext, 1. Wahrheit]
Es
gibt selten ein Ding oder eine Situation, die unseren [augenblicklichen]
Bedürfnissen zu 100 % gerecht werden. [Kontext, 1. Wahrheit]
Ein
einzelnes Bedürfnis für sich allein genommen gibt es wahrscheinlich gar nicht.
Es gibt veränderliche Bedürfniskonstellationen mit vielleicht einer bestimmten
typischen Art von Bedürfnisgruppierung, deren „wichtigste“ Wortführer gerade im
Vordergrund stehen. Unseren Bedürfnissen vermag also schon deshalb nichts
dauerhaft gerecht zu werden, weil sie selbst veränderlich sind. Nietzsche redet
in diesem Sinn vom „Gesellschaftsbau“ der Seele. [Auch Platon hatte dies getan
und z. B. die tyrannische Seele in Analogie zur Herrschaftsform „Tyrannis“
gesetzt.] Da gibt es vordergründig Einheiten des Unterschiedlichen bzw. zeitweilig
gelingende Einheitsbildungen. Es gibt „Parteiungen“ und „Fraktionen“, schlecht
repräsentierte Minderheiten, die nicht viel Gehör finden, vermeintliche und
tatsächliche Machtinhaber.- Zuviel oder zuwenig Starrheit und Verfestigung ist
sowohl im gesellschaftlichen als auch psychischen Bereich ein Problem.
Übertrieben:
Nichts entspricht unserem Geschmack. Alles ist voller Schrecken und Bedrückung.
[Kontext, 1. Wahrheit]
Es
ist bisweilen schwer auszuhalten in dieser Wirklichkeit. [Kontext,
1. Wahrheit]
Die
Gegenwart und Berührung von manchen Dingen und Situationen ist uns angenehm.
Von andern wiederum ist sie uns unangenehm und widerwärtig. [Drangentstehung,
Kontext, 2. Wahrheit] Vermittelst von Lust- und Schmerzgefühlen ist der
Geist in anhaftender oder in widerstrebender Weise mit der ihn umgebenden
Realität verbunden [und in ihr gefangen.]
Wir
streben nach dem Besitz von Dingen, Fähigkeiten, Verfügungsgewalt über Menschen
und Situationen, weil wir uns davon die Chance versprechen, uns diejenigen
Empfindungen zu verschaffen, die wir haben möchten. [Drangentstehung,
Kontext 2. Wahrheit]
Dass
uns ein Essen gut schmeckt, bedeutet u. a., dass wir es wieder essen möchten.
Da
wir nach andauernden und wiederholbaren Lebensfreuden streben, entstehen
Wünsche nach Besitzergreifung und „Anhaftungen“.
[Anhaftung, Pali: upadana, Kontext 2. Wahrheit]
Von
Lust und Schmerz gefesselt [theatralisch ausgedrückt] leiden wir die Leiden der
Anhaftung und die [mehr oder weniger entlegenen] Folgen unseres ungezügelten
Temperaments.
Platons in der körperlichen Wirklichkeit gefangene Seele entspricht dem in uns verborgenen Potential eines von Drang und Wiedergeburt abzulösenden inneren Ich. Er sagt, dass „Lust und Unlust gleichsam einen Nagel besitze und die Seele damit an den Leib annagelt, anheftet und körperlich macht.“ [Phaidon, 83d, 4 ff] „Infolgedessen gerät sie auch bald wieder in einen anderen Körper, wurzelt wie ein Samenkorn in ihm und bleibt unteilhaftig der Vereinigung mit dem Göttlichen, Reinen und Eingestaltigen.“ Man kann sagen: Zunächst ist unser wahres, geistiges Ich gefangen in Lust und Schmerzgefühlen, also in der psychischen Wirklichkeit, und in der Folge davon auch in der körperlichen Wirklichkeit, weil sie hier, gemäß einer Kette ausufernder Vorbedingungen, Mittel der Bedürfnisbefriedigung zu beschaffen hat. „Und infolge dessen fehlt es uns an Muße zur Philosophie.“ [66d, 1 f.]
Es geht mir hier nicht darum, darauf aufmerksam zu machen, dass Platon die Wiederverkörperung der Seelen anklingen lässt, wie sie auch von einem hinduistischen Guru gelehrt werden könnte. Es geht mir vielmehr um den Gedanken, dass das geistige Wesen der menschlichen Seele dem Körper ‚verhaftet’ ist durch Lust- und Schmerzgefühle, also vermittelst psychischer Realitäten. Die Psyche ist also das Bindemittel von Körper und Geist. Dabei enthält sie, jedenfalls im menschlichen Fall, eine Fähigkeit, sich ihrer hyperphyischen und hyperpsychischen „eigentlichen Natur“ [einer immateriell-geistigen Wesenheit] bewusst zu werden. Daher ihr Streben, physische und psychische Grenzen [durch Abstraktion, Loslösungs- und Unabhängigkeitsbewusstsein] zu überschreiten.
Platon lebte von 427 – 347 v. Chr, der Buddha nach alter Angabe 560 – 480 v. Chr.. Nach neuerer Angabe datiert man Buddhas Tod 30 bis 130 Jahre später. Wenn man davon ausgeht, dass der Buddha [wie Platon auch] 80 Jahre alt wurde, hat er z. B. zwischen 530 – 450 v. Chr. oder 430 – 350 v. Chr. gelebt, so dass er möglicherweise ein Zeitgenosse Platons war. Ein wichtiger Unterschied zwischen der Überlieferung Platons und der Überlieferung Buddhas besteht allerdings darin, dass der Pali-Konon nach mehrhundert-jähriger mündlicher Überlieferung erst im 1. Jahrhundert v. Chr. [auf Ceylon] aufgeschrieben wurde.
Ebenso wenig wie es Schriften des Jesus Christus gibt, gibt es Schriften des Buddha. Bereits mit dem Einsetzen der Überlieferung haben wir [neben reichhaltiger Legendenbildung] die Überhöhung von Buddha und Christus zu übermenschlichen Wesen. Sie übertreffen das übliche menschliche Maß. In weiteren Folgejahrhunderten kommt es jeweils zu einer komplizierten „Buddhologie“ bzw. „Christologie“ wegen der menschlichen und übermenschlichen Eigenschaften der beiden historischen Personen. „Wer ist der eigentliche Jesus?“, „wer der wahrhafte Buddha?“ Das sind Fragen, mit denen man die Gelehrten auf glattes Eis führt. Fragen von diffiziler Weitläufigkeit.
In allen genannten Fällen [Buddha, Platon, Christus] finden wir auch die Unterscheidung von sichtbarer [exoterischer] und unsichtbarer, „eigentlicher“ [esoterischer] Lehre. Es treten jeweils Anhänger auf, die behaupten, es gebe eine eigentliche, aber ungeschriebene Lehre. Die „Quintessenz“ von allem. Ich vermute in diesem Sachverhalt eine Art typischer, „hermeneutischer“ Illusion: Abschließend und endgültig, zudem auch noch unmissverständlich, kann niemand über „die Stellung des Menschen in der Welt und seine Aufgabe darin“ sprechen. Dennoch gibt es Passagen in den „heiligen“ Texten, wo das Unmögliche gelungen erscheint. Nahe liegend ist also der Versuch, diese Passagen besonders herauszustellen und die Fiktion eines Textes zu hegen, der in voller Länge bis in alle Einzelheiten hinein den „reinen Geist“ der eigentlichen Lehre zur Darstellung bringt. Faktisch kommt es aber zu Sprachverwirrung und ausufernden Diskussionen [unter Gelehrten und Nicht-Gelehrten gleichermaßen], ebenfalls ein typisch „hermeneutisches“ Phänomenen.
Das
Konzept der Anhaftung entspricht weitgehend dem psychoanalytischen Konzept der
seelischen Besetzung [von Objektvorstellungen mit subjektiver Energie]. Es
reicht vom Interesse an der Existenz bestimmter Situationen über Starrheit in
der Befolgung gegebener Regeln, über jegliche Art von Erwartungsprägung bis hin
zur Anhaftung des Geistes in uns an die individuelle Psyche und den
individuellen Körper.
Anhaften
ist, was uns am Loslassen hindert. Bei manchen Erwartungen, die wir uns [mehr
oder weniger willentlich] zu eigen gemacht haben, fällt uns das besonders
schwer.
Anhaftung
an Dinge, Menschen, Situationen usw. ist mit fixierten Erwartungsprägungen
gleichzusetzen. Weil die Dinge sich oft anders entwickeln, als wir glauben,
resultieren Situationen, die in dieser Form niemand gewünscht und gewollt hat.
Anhaften
heißt: krampfhaft versuchen, etwas festzuhalten oder zumindest zu
reproduzieren.
Blinder
Drang, mit unserer geistigen Natur unversöhntes Streben ist Ursache unserer
Misère. Weisen der Anhaftung sind [schlechte] Angewohnheiten, Gier und Sucht.
Augustins
Frage, wie das Böse in die Welt gekommen ist, erhält im Umkreis der zweiten
Wahrheit eine Antwort. Gier, und Verblendung werden als „Wurzeln“ [bisweilen
auch: „Entstehungsgründe“] des „Unheilsamen“ bezeichnet. Man könnte versucht
sein, einfach zu sagen: Gier, Hass und Verblendung sind die Ursachen des Bösen
sowie des Leidens, insbesondere sinnlich materielle Interessen, die sich für
uns aufgrund physischer und psychischer Dispositionen ergeben. Aber es
eröffnen sich Alternativen der Interpretation. Nicht die materiellen Motive,
die unseren Geist bewusst und unbewusst erfüllen, sind das Problem, sondern die
Tatsache einer „schuldhaften Bevorzugung“ [Kant] dieser Motive. Die
Verkehrtheit der menschlichen Natur besteht z. B. darin, kurzfristig
Vorteilhaftes dem Gerechten vorzuziehen und dadurch [verblendeter Weise] die
Möglichkeit einer Harmonie mit anderen [gemäß der Goldenen Regel] zu sabotieren.
Der Mensch besitzt die Anlage und Befähigung zum Guten, zieht es aber vor,
diese Anlage zu vernachlässigen. In der Folge davon findet man sich in einer
Welt weitgehend selbst geschaffener Übel, in der einem geschieht oder
[jedenfalls prinzipiell] geschehen kann, wie man mit andern verfährt.
Bei
Horaz heißt es: „quam temere in nosmet legem sancimus iniquam,“ d. h. wir
stellen durch unser Verhalten ein für uns selbst ungünstiges Gesetz auf.“ Wir
setzen also einen für uns selbst ungünstigen Standard und unter entsprechend
anderen Umständen, wenn ein anderer zynisch zu uns sagt: „Eines schickt sich
nicht für alle,“ wären wir sehr unzufrieden. Man verschlechtert also durch
Abweichung von der goldenen Regel zunächst die Standards. Erst mittelbar, wenn
sich die Situation einmal wendet, was der Gewaltmensch aber verhindern zu
können glaubt, merkt man, dass man auch selbst darunter zu leiden hat.
Aus
der Diskrepanz der menschlichen Situation, wie sie tatsächlich ist und wie sie,
gemäß der normativen Regel einer gleichen Freiheit aller, sein sollte, erhellt,
dass die Menschen insgesamt an einer Situation selbst geschaffener Übel
leiden.
Die Frage „welche Verhaltensweisen sind prinzipiell konsensfähig und welche nicht?“ ist der Kernpunkt des moralischen Problems von gut und böse. Faktisches Einverständnis und faktische Einwilligung in Bezug auf anzunehmende Verhaltensweisen können wir erfahrungsgemäß kaum erwarten. Deshalb müssen wir die prinzipielle Möglichkeit einer Einwilligung der Betroffenen [sogar in bezug auf zukünftige Generationen] ins Spiel bringen, um zu entscheiden, welche Verhaltensweisen unter dem normativen Aspekt der gleichen Freiheit aller zugebilligt werden können [denkbar erscheinen] und welche nicht. Die goldene Regel ist der überhistorische, „absolute“ Gehalt der „eigentlichen“ Moral. Faktisch bilden sich unter Menschen historisch veränderliche Regeln der sozialen und individuellen Kontrolle heraus, welche [u. a. auch] dem tatsächlichen Kräftespiel und den Machtverhältnissen zwischen den Menschen unterliegen und selten rein moralische Normen darstellen.
Die Verwirklichung moralischer Normen kann teilweise und in eingeschränktem Maße geschehen. So können z. B. manche Formen von Heuchelei als immerhin [!] äußerliche Anerkennung echter moralischer Normen gewertet werden, die der offenen Verachtung der entsprechenden Regeln vorzuziehen ist. Andererseits kann ein Verächter allgemein anerkannter Wertvorstellungen u. U. den moralischen Wert der Ehrlichkeit realisieren und insofern unsere Anerkennung verdienen. - Das tatsächliche, konkrete Verhalten eines Menschen ist nicht im Hinblick auf eine Verhaltensweise allein „tatbestandsmäßig" analysierbar. - Die tatsächlich getätigte Verhaltensweise kann nach der Feststellung des Tatbestands allererst im Hinblick auf moralisch geforderte Verhaltensweisen bewertet werden. Im alltäglichen Leben trennen wir die Fragen der Tatsachenfeststellung und ihrer Bewertung [nicht nur hinsichtlich moralischer Gesichtspunkte] nicht säuberlich. Alltagsunterredungen oder Überlegungen ohne jegliche wertende Stellungsnahmen gibt es vielleicht gar nicht.
Der
Buddha spricht von den „Wurzeln des Unheilsamen.“
Wurzeln im strengen Sinne des Bildes sind die Organe der Zubringung von nährendem Saft. Im Falle der Wurzeln des Bösen bzw. Unheilsamen versorgen bzw. vergiften Gier, Hass und Verblendung den menschlichen Geist mit „unheilsamen“ Inhalten und „unheilsamer“ Motivation. Die komplementären Wurzeln, Gierlosigkeit, Hasslosigkeit und Unverblendung nähren dagegen den Keim des Guten und langfristig Heilsamen.
Das Bild von Wurzel und Pflanze bedeutet natürlich auch, dass die blühende Pflanze des Unheilsamen sich solange wird regenerieren können, wie sie nicht effektiv entwurzelt wurde.
Redet man von „Heilsamkeit“ anstatt lediglich vom „Guten“ im Sinne des moralischen Gebotenseins, schwebt einem die Verbindung von geistigem Wesen und physisch-psychischer Bedürfnisnatur vor. Wiedergeburt heißt: ihr müsst damit rechnen, das zu erleiden, was ihr andern zufügt. Wenn wir auf lange Sicht alle lediglich tot wären und unser unversöhnter innerer Drang keine Wiederverkörperung erführe, könnte das moralisch Gute nicht mit dem langfristig Heilsamen gleichgesetzt bzw. verbunden werden. Erfolgreiches Streben zu Lasten anderer könnte während des Dauer eines individuellen Lebens als möglich erscheinen. Wer zur rechten Zeit stürbe, wäre der ausgleichenden Gerechtigkeit enthoben.
Wenn es also um die Lehre von der Wiedergeburt [Neuverkörperung des inneren Dranges] geht, sollte man nicht fragen:: „Was weist auf Wiederverkörperung hin?“ sondern: „Was wäre, wenn wir uns mit der Annahme begnügen würden, dass wir auf lange Sicht alle lediglich tot sein werden?“ Mit dem individuellen Tod wäre man dem menschlichen Dasein enthoben, einerlei welche Verhaltensweisen man in seinem Leben für sich angenommen oder verworfen hat.
Karma und Wiedergeburt stehen in besonderer Verbindung mit der Frage: „Was müssen wir befürchten, wenn wir unserem inneren Drang und Temperament folgen?“ Antwort: „Dass das, was wir andern antun, uns selbst angetan werden wird.“ Die komplementäre Hoffnung dazu zielt auf die Nicht-Wiederkehr in dieser „Daseins- und Wirkungsrunde“.
Man
kann sagen: Gier, Hass und Verblendung sich keine zeitlich vorangehenden Wirkursachen
böser Handlungen sondern eher so etwas wie typische Erscheinungsformen des
menschlichen Freiheitsgebrauchs, der demnach weitgehend einen Missbrauch
darstellt. Sofern der Mensch moralisch-verantwortlich böse ist, ist er es
aufgrund eines Fehlgebrauchs seiner Freiheit. Man wird von innerem Drang über
das Maß des Gebotenen hinaus getrieben, indem man zumindest mitschuldig daran
ist, weil man sich diesen Drang zueigen gemacht hat.
Dass
der Geist den Dämon der Unachtsamkeit besiegen muss, ist in diesem Zusammenhang
ein wichtiges Bild. In der Übung [Kultur] entsprechender Aufmerksamkeit für
das, was wir tun und denken, würde bisweilen offensichtlich, dass wir
angenommene Verfahrensweisen ändern müssten. Wenn wir also nicht wissen
möchten, was wir tun, so liegt dem eine Art Willen zum Nicht-Bemerken
bedenklicher Verhaltensweisen und tendenziöser Selektivität des Bewusstseins
zugrunde.
Unachtsamkeit,
Verblendung usw. sind interessanterweise auf die Gültigkeit der für maßgeblich
erachteten Wahrheiten bezogen. So übersieht man z. B. die Wahrheit vom
Ungenügen und Leiden, indem man denkt, durch den Besitz gewisser Dinge würde
man glücklich werden. Oder auch: man übersieht die Leiden, die man anderen
schafft. – Und man übersieht vor allem, dass allein das Handeln in
langfristiger Übereinstimmung mit andern und sich selbst zur Leiderlösung
führt. – Der eigentliche Glaubensinhalt über das Ethische hinaus besteht m. E.
darin, das moralisch Gute mit langfristig Heilsamen, das moralisch Verwerfliche
mit langfristig Unheilsamen gleichzusetzen. On man das mit Berechtigung tun,
lässt sich aus der Beobachtung des Laufs der Dinge im Grunde genommen nicht
herleiten. Aber man setzt es in der [oft nur implizit angenommenen] „Norm des
eigentlichen Sollens“ voraus.
Ein geniales, hinduistisches Bild ist folgendes: Shiva Nataraja tanzt auf Aspasmara, dem Dämon der Unachtsamkeit, inmitten einer Feueraureole, den kosmischen Tandava-Tanz. Arme und Beine sind in Bewegung, sein Haar flattert, der Gesichtsausdruck aber strahlt Ruhe aus. Die Einheit des Unterschiedlichen besteht hier in innerer Ruhe bei äußerer, „achtsamer“ Bewegung. Nach langer Übung triumphiert er tänzerisch über den Dämon der Verblendung und realisiert dadurch eine [zumindest prinzipielle] Harmonie [des Denkens und Handelns] mit sich selbst und andern. Insofern auch eine Einheit von Individual- und Allbewusstsein.
In tänzerischer Balance hält er den Dämon des Fehlwissens nieder, der fälschlich angenommenen Einstellungen bezüglich „wichtig“ und „unwichtig“. Man kann die spielerische Meisterung von Unachtsamkeit, Unwissenheit und Fehlwissen auch gleichsetzen mit der Überwindung selbst-schädigender, selbst-sabotierender und unheilsamer Geistestrübungen und Blockaden.
Ebenso könnte der Sieg des Buddha über den Dämonen Mara [Vergänglichkeit, Krankheit, Tod] dargestellt werden. - Es handelt sich um die Veranschaulichung von menschlich-ethischen Idealen, welche den Weg aus der Sphäre der von Menschen sich selbst geschaffenen Nöte und Leiden weisen.
Die Unachtsamkeit, die der Überwindung bedarf, ist die Unachtsamkeit bezüglich der Auswirkungen unseres Tuns auf die Betroffenen davon. Und letztlich auch uns selbst. Sofern es Auswirkungen unserer Handlungen auf Betroffene gibt, sollten sie konsensfähig bzw. einwilligungsfähig sein. Und wir sollten auch für den möglichen Konsens mit uns selbst zu ganz anderer Zeit sorgen, falls es uns einmal ganz anders ginge, als wir es jetzt gerade für selbstverständlich halten. Kann es uns doch einmal so gehen wie anderen auch.
Wer sich von der Entfaltung ethisch-moralischen Bewusstseins so weitreichende Dinge verspricht wie die Überwindung von Krankheit und Tod, setzt allerdings voraus, dass eine Welt der Krankheit und des Todes einem idealen, schuldlosen Menschen nicht angemessen wäre. Aber es steht uns sozusagen keine Beschwerde über die leidvolle Beschaffenheit unseres Daseins zu, weil wir niemals völlig im Einklang mit unserer geistig-moralischen Anlage gehandelt haben.
„Schlechte
Unendlichkeiten“, rastloser Drang nach Optimierung, Reparatur und Erneuerung
lassen uns nicht zur Ruhe kommen.
Nach
jüdisch-christlicher [aus Nahost kommender] Auffassung erleiden wir die Leiden
der Welt, weil wir infolge eines uranfänglichen Sündenfalls aus dem Paradies
vertrieben worden sind. [Die Vorstellung des Paradieses ist die Fiktion eines
Zustandes und einer Lebens- und Daseinsform, in welcher alles, was es gibt,
unseren Bedürfnissen zu hundert Prozent gerecht wird. Also nicht lediglich ein
Schlaraffenland, in dem es uns bald langweilig werden würde.] – Nach
fernöstlicher Auffassung besteht das Problem darin, dass der Geist [Purusha,
Shiva], d. i. das nicht-empirische Subjekt unseres Denkens, in erotischem
Verlangen nach der Vereinigung mit der Materie [Prakriti, Shakti] strebte. Man
kann sagen: Aufgrund innerer Triebhaftigkeit strebte der Geist nach
lustvoller Verkörperung. Er brannte vor Eifer, sich derart zur Geltung zu
bringen. Dass er danach so sehr in Bedrängnis geraten würde und nun, nach Erlösung
schmachtend, sich in leidvoller Wirklichkeit gefangen sieht, das hat dieser
Geist ganz einfach nicht vorausgesehen. Dennoch muss er die Misère sich selbst
zuschreiben, indem er sich diesen inneren Drang ohne Rücksicht auf die Folgen
zu eigen gemacht hat.
Wer
hier Gleichsetzungen vornimmt von „Geist“ und „männlich“ einerseits, „Materie“
und „weiblich“ andererseits, hat eine patriarchalisch-sexistische Komponente in
den Religionsglauben eingeführt. Das „reine Ich“, d.i. der Geist für sich
selbst genommen, entbehrt selbstverständlich der „nur“ empirischen
geschlechtlichen Eigenschaften und ist in Körpern verschiedenen Geschlechts
gleichermaßen [als Fähigkeit der Erkenntnis und selbstbewussten
Aufmerksamkeit] inkarniert [materialisiert, objektiviert, verkörpert].
Ich
halte es für erwähnenswert, dass der nahöstliche und der fernöstliche Mythos
gleichermaßen zu sexualisierten Lesarten Anlass gegeben haben.
Eine
orphische Inschrift, also westlichen bzw. abendländischen Ursprungs, lautet:
„Ich bin das Kind der Erde und des gestirnten Himmels.“ Auch hier geschieht
eine Gleichsetzung von ‚Himmel‘, ‚Geist‘ und ‚männlich‘ einerseits und ‚Erde‘,
‚Natur‘ und ‚weiblich‘ andererseits. Auf den ersten Blick ist der Sexismus in
dieser Variante harmloser als der Sexismus eines Mythos, welcher den patriarchalisch
männlichen Geist eine Verführung durch weiblich Materielles [fast willenlos]
erleiden lässt. Frauen werden dadurch, einer ironischen Bemerkung O. Wildes
zufolge, zum Sinnbild des Sieges der Materie über den Geist. Da die metaphorische
Ausdrucksweisen „himmlich-männlich“ und „irdisch-weiblich“ zwangsläufig mit
wertender Konnotationen verbunden sind, handelt es sich auch hier um
sexistische Ausdrucksweisen und Fälle von verunglückter Metaphorik. Solche
Fehlgriffe fallen ganz offensichtlich dem gesamten geistige Erbe der
Menschheit zur Last und nicht lediglich z. B. der buddhistischen oder
christlichen Tradition..
Ihrem
innersten Gehalt gemäß ist die Sittenlehre des Buddhismus universalistisch und
eine Moral der gleichen Freiheit aller. Dies ergibt sich aus der Anerkennung
der Goldenen Regel.
„Ein
Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, soll es auch nicht
für ihn sein; und ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist,
wie kann ich ihn einem anderen zumuten?“
Samyutta
Nikaya V, 353.35 – 354.2
Eine weitere interessante Stelle, welche die goldene Regel mit einem All-Einheits-Denken in Verbindung setzt ist folgende:
„Klar und sichtbar ist diese Lehre: jedem verständlich. Sie heißt: ‚Komm und sieh’. So wie ich bin, so sind jene. Wie jene sind, so bin ich. Wer sich selbst zum Gleichnis macht, tötet nicht mehr und lässt nicht mehr töten.“ Wir achten [berücksichtigen] per goldener Regel wechselseitig das höhere Selbst in uns allen, das sich in jeweils unterschiedlichen Denk- und Verhaltensweisen individualisiert hat.
Die
goldene Regel findet sich auch in der nicht-buddhistischen, altindischen
Tradition:
„Man
sollte sich gegenüber anderen nicht in einer Weise benehmen, die für einen
selbst unangenehm ist; das ist das Wesen der Moral.“ - Interessant ist hier
die Behauptung, die Goldene Regel stelle das wesentliche und einzige
Moralprinzip dar, also den Kernbestand „wahrer“ und „echter“ Moralität.
Mahabharata
XIII, 114,8
Dem
grundsätzlichen Eigenschaft der menschlichen Freiheit gemäß sind wir alle
gleich. Den erworbenen Rechten nach kann es allerdings große Unterschiede
geben. Der Erwerb der erwerbbaren Rechte kann der Goldenen Regel gemäß legitim
sein, indem willkürliche und von Menschen zu verantwortende Benachteiligungen
anderer [beim Erwerb erwerbbarer Rechte] mehr und mehr [im Zuge
zivilisatorischer Entwicklung] ausgeschlossen werden. Die Frage, welche
Verhaltensnormen aus der Goldenen Regel folgen und welche nicht [als moralisch
geboten, verboten usw.] erfordert eine moralphilosophische Diskussion, die
viel mit Kants Versuchen der „Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten aus
dem kategorischen Imperativ“ [in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten]
gemein haben dürfte.
Die
goldene Regel gehört zum Kernbestand [der ethischen Lehre] aller großen und
wahrscheinlich auch anderer Religionstraditionen. Das heißt natürlich nicht,
dass wir eine Tradition finden würden, die sie auch tatsächlich, konsequent
und umfassend verwirklicht hätte. Buddhismus, Judentum, Christentum können dies
nicht für sich beanspruchen und tun dies in der Regel auch nicht. In diesem
Punkt gilt generell: Tatsächliche menschliche Praxis ist nur aus der Diskrepanz
von Anspruch und Wirklichkeit zu begreifen.
Ich
bin nicht Altphilologe genug, um beurteilen zu können, ob das christliche Wort
„liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ [Matth. 22, 37] nicht auch mit „achte
deinen Nächsten wie dich selbst“ übersetzt werden könnte. Verwendet ist im
griechischen Text das Wort „agapao“, dessen Bedeutung reicht von „liebevoll
aufnehmen“ bis „schätzen“. [Die Flexionsform ist „agapeseis“, also Futur: „Du
wirst deinen Nächsten wertschätzen wie dich selbst.“] Mildern wir den Imperativ
„liebe!“ in „schätze“, „wertschätze“ „anerkenne“ oder „respektiere“ hätten wir
eine Konkordanz von Christentum und Buddhismus bezüglich eines [des?]
ethischen Fundamentalprizips. Man kann erläuternd hinzusetzen: Die
Wertschätzung bezieht sich auf den Menschen als [potentiellen] Träger ethischen
Normbewusstseins und eines inneren Selbst. Das macht seine psycho-physische
Existenz zu einer Art Gefäß für den ethischen Geist.
Es
gefällt uns vieles nicht. Aber wir müssen einander mit Respekt ertragen.
Die goldene Regel als moralphilosophischer Kernbestand des Christentums wird auch in Matth. 7,12 ausgesprochen: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch; das ist das Gesetz und die Propheten.“
Zurück
zur Welt des Werdens und der unseligen Daseinskreisläufe:
Ständig
wechselnde, meist sogar fremdbestimmte Bedürfnisse halten uns in Anspannung.
Körperliche und geistige Unruhe entspricht unserer Natur.
Es
kommt oft vieles zusammen.
Ein
Gewirr [verworrene Geflecht] von Wirkungszusammenhänge bringt typische, aber
dennoch unerwartete Situationen hervor.
Im
Grunde genommen lässt sich nichts festhalten oder [wirklich identisch]
wiederholen, weil die Wirklichkeit unablässigen Veränderungsprozessen
unterliegt. Durch die Komplexität der Geschehnisse entzieht sich die
Wirklichkeit weitgehend dem planenden Denken.
Wir
vermeinen [in einer sonderbaren Art von Fortschrittsoptimismus], so ziemlich
alle menschlichen Angelegenheiten wissenschaftlich, verwaltungsmäßig und
bürokratisch unter Kontrolle bringen zu können. [Weitgehend verschwiegene
Potenz- und Machbarkeitsprobleme sprechen aber eine ganz andere Sprache.] Was
herauskommt, sind aber, jedenfalls allzu oft, unerfreuliche und verkrampfte
Situationen, die unserer Planung und unseren Machbarkeitsvorstellungen Hohn
sprechen. Wirklich funktionstüchtige Arrangements des friedvollen
Zusammenlebens größerer Menschenmengen gibt es [nur?, immerhin?] ansatzweise.
Nicht
nur der Besitz kostbarer Dinge ist erstrebenswert, das Loslassenkönnen ist
bisweilen erstebenswerter. Erforderlich ist das Festhalten und Loslassen zur
rechten Zeit. [Kontext, 3. u. 4. Wahrheit]
Ich
plädiere dafür, das Wort „loslassen“ gelegentlich durch den Ausdruck „ablassen
von ...“ zu ersetzen, um klarzumachen, dass das Phänomen „anhaften und
loslassen“ nichts spezifisch Buddhistisches, Fernöstliches, Esoterisches oder
Religiöses ist. „Lass ab von deinem Übereifer, von deinem Zorn,“ und ähnliche
Wendungen sind durchaus alltagstauglich. „Anhaften“ wäre demnach ein
„Sich-Verbeißen“, ein „Sich-Fixieren“, „Anhaftung loslassen“ wäre ein „Ablassen
von ...“. Und es ist klar, dass wir letztlich auch von liebgewonnenen Gewohnheiten,
von unseren jugendfrischen Körpern und unserem hochgebildeten Geist ablassen
müssen, weil all dies kein dauernd beständiges Etwas ist. Glückliche Stunden
kann man trotz ihrer Einmaligkeit und Vergänglichkeit schätzen, die Versuche
aber der krampfhaften Reproduktion des Gewesenen sind problematisch.
Der
Buddha schätzt besonders die Freude, die aus dem Bewusstsein der Alleinheit und
Allverbundenheit der Wesen entspringt. [Kontext, 3. u. 4. Wahrheit]
Das
innerste Ich meiner Subjektivität ist vom innersten Ich Deiner Subjektivität
ununterscheidbar. Unser aller Trachten und Denken ist bezogen auf ein an sich
selbst ununterscheidbares Subjekt des Denkens überhaupt. Es muss von allem
Inhalt des Denkens, von dem, was wir inhaltlich denken, unterschieden werden.
Insofern ist dieses Innerste ‚der’ Inhalt völliger Inhaltslosigkeit.
Das
Nicht-hinweg-Denkbare in meinem Denken [die Existenz eines Bewusstseins
überhaupt] ist reine Leerheit.
[Kontext,
3. u. 4. Wahrheit]
Man
muss lernen, das alle Dinge nicht unser Ich sind. „Das gehört mir nicht, das
bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst.“ [Samyutta-Nikâya] Unser wahres Ich
ist demnach nicht individueller Geist, individuelle Seele oder Subjektivität,
sondern nicht-empirisches, eigenschaftsloses Bewusstseinszentrum. Reine
Denkbarkeit ohne Inhalt. [Kontext, 3. u. 4. Wahrheit]
An diesem Punkt besteht ein bedeutender Unterschied zwischen Theravada- und Mahayana-Buddhismus. Wenn ich ein wahres Ich in limitativer Denkfigur dadurch bestimme, dass ich sage, was es [für sich selbst genommen] nicht ist [bzw. nicht sein kann], dann bestimme ich das eigentliche Ich durch negative Prädikate wie „nichtphysisch“, „nichtpsychisch“ usw.. Demnach bleibt eventuell die Tatsache festzuhalten, dass es als das Jenseits-von-allem-diesem existiert. Die Theravada-Buddhisten lehnen das Ich der reinen Denkbarkeit als illusionäres Etwas ab. Der Buddha selbst hat den altindischen Atman-Unsterblichkeits-Glauben abgelehnt, aber es ist nicht klar, ob seine Ablehnung auch die Existenz des nicht-empirischen Bewusstseinsinneren betrifft [unabhängig von der Frage ‚sterblich oder nichtsterblich‘]. Infolge seiner eigenartigen Eigenschaftslosigkeit ist das innere Zentrum der Geistesinhalte, für sich selbst genommen, „nirvana-artig“, unbewegt, eventuell „todlos“ usw..
Stichwort
„Theravada“: die „Lehre der Alten“ [bzw. der „Ordensälteren“] ist eine konservative
Ausprägung des Frühbuddhismus, die sich auf den Pali-Kanon als Quelle der Lehre
beruft. Sie überlebte als „südlicher Buddhismus“ z. B. in Sri Lanka. – Andere
Richtungen des Buddhismus haben darüber hinaus bzw. sogar vorrangig andere
Quellen. Es gibt kein Einverständnis über eine allgemein anzuerkennende,
‚kanonische’ Schriftensammlung, wie sie z. B. das Christentum in der Bibel oder
der Islam im Koran anerkannt hat. Zunächst könnte man denken, die eigentliche
und „reine“ Lehre sei in der Ur-Lehre am besten verkörpert. Bei genauerem
Nachdenken aber wird eine solche Voraussetzung fraglich, denn nach welchen Kriterien
will man den ‚eigentlichen’ Gehalt der reinen Lehre bestimmen? Hier kann man
sich an die ironischen Worte in Goethes Faust erinnern:
„Mit
Worten lässt sich trefflich streiten,
mit
Worten ein System bereiten,
an
Worte lässt sich trefflich glauben,
von
einem Wort lässt sich kein Jota rauben.“ [Faust I, 1997 ff.]
Wir
befinden uns also auch beim buddhistischen Quellenstudium in einer
hermeneutischen Situation, obwohl diese Quellen nicht mit dem Anspruch auf
übernatürliche Offenbarung auftreten. Durch den Wahrheitsanspruch der Lehre
werden wir allerdings unvermeidlich auf Versuche zu einer dogmatischen
Verfestigung der ‚eigentlichen’ Lehre getrieben. Andererseits führt die
Annahme, dass ein ‚eigentlicher’ Inhalt existiert über jede historisch gegebene
Verfestigung hinaus, weil eine Beurteilung unternommen wird, ob diese
Verfestigung dem „eigentlichen“ Gehalt entspricht. Jede Rezeption in solchen
Dingen ist zwangsläufig Interpretation. Dies gilt im besonderen Maße dann,
wenn der Lehrer sagt: „Kommt und seht selbst!“ Dies ist beim Buddha tatsächlich
der Fall gewesen.
Er
erscheint mir besonderer Erwähnung wert, dass ein Wörterbuch des Theravada
[Nyanatiloka, Buddhistisches Wörterbuch] das Stichwort „Todlosigkeit“ [amata]
enthält: „Amata ist ein Name für das Nirwahn, das restlose Erlöstsein vom
Kreislauf der Wiedergeburten, und damit auch von dem sich immer wiederholenden
Sterben.“ Das impliziert in meinen Augen, dass ein Etwas außerhalb der
raum-zeitlichen Daseinsrunde zumindest etwas Denkbares ist und dass uns mit dem
Gedanken des reinen Ich eine derartige Transzendenz vorschwebt. Die körperliche
und psychische Individualität besteht aus Gruppen veränderlicher und
hinfälliger Beilegungen, aber das nicht-empirische Ich, auf das sich all unsere
Geistesinhalte beziehen, muss ex negativo als „ein anderes von alle dem“
gedacht werden. In diesem Kontext steht der Gedanke: „Was unbeständig ist, das
ist unbefriedigend; was unbefriedigend ist, das hat man der Wirklichkeit gemäss
so anzusehen: Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich.“
Nirwahn steht also nicht für ein Nichts schlechthin, sondern für denkbare Transzendenz,
und es scheint ein Gedanke des Buddha gewesen zu sein, dass der Mensch sich in
Bezug auf dieses Etwas der leeren Form des Denkens, vielleicht sogar aus der
Transzendenz heraus, zu verstehen habe. – Würde das nicht-empirische Ich in
seiner Denkbarkeit schlicht negiert, hätten wir im Grunde genommen einen erkenntnistheoretischen
Materialismus. Es wäre außerhalb des Daseinsstroms in Raum und Zeit nicht
einmal mehr etwas denkbar.
Wir können in diesem Zusammenhang auf Kant mit seiner Kritik an der rationalen Seelenmetaphysik hinweisen, die er [naturwissenschaftlich] für unentscheidbar hielt. Er hielt sie dennoch nicht für abwegig. Das geistige Zentrum des Bewusstseins ist demnach ein denkbares Etwas, aber dieser Gesichtspunkt reicht nicht aus, um ihm in einer sachlich begründeten Aussage objektive Realität zuzubilligen. Der Begriff eines derart spirituellen Wesens ist metaphysisch und transzendent, weil er den Bezug auf Raum-Zeitliches gemäß seiner limitativen Rezeptur ausschließt: Es soll sich um etwas Nicht-Räumliches und Nicht-Zeitliches handeln, nicht um einen Inhalt des Bewusstseins, sondern um die Form des Bewusstseins selbst und allein. Kant spricht in diesem Fall von einer Denkbarkeit, sogar von einer notwendiger Weise anzunehmenden Denkbarkeit. Aber dennoch handele es sich nur um ein ens rationis, ein „bloßes“ Etwas der Denkbarkeit und nicht um ein objektiv bestehendes Etwas. Diesen Standpunkt bezeichnet er als eine mittlere Position zwischen „seelenlosem Materialismus“ und „grundlosem Spiritualismus“ [B 412].
Sowohl
unter empirischen-objektivem als auch unter psychologisch-subjektivem Gesichtspunkt
gibt es kein eigenständiges Ich. - Ein einzeln, scheinbar Individuelles ist nur
im Kontext mehr und mehr umfassender Zusammenhänge zu begreifen.
Von
der Unterschiedlichkeit unserer Stimmungen, Bedürfnisse und Neigungen her
gesehen erscheint uns Einheit, Dieselbigkeit unserer individuellen Person zu
unterschiedlichen Zeiten und Orten als gewagte Hypothese. Einheit und
Dieselbigkeit der individuellen physischen und psychischen Person entspricht
einer nur oberflächlichen der Wirklichkeit. In hintergründiger Auffassung
entpuppt sich das Tun des einen als Tun des andern, Täter als Opfer und Opfer
als Täter. [Kontext, 1. Wahrheit, spezieller: Anatta-Lehre]
Aus
westlicher Sicht gesehen, schlägt sich die buddhistische Lehre auf die Seite
des Heraklit und erteilt der Spekulation des Parmenides über die Einheit des
unveränderlichen Seins eine Absage. Nicht einmal unveränderliche Atome, die
durch ständig sich umgruppierende Aggregationen [Ansammlungen, Anhäufungen]
eine Wirklichkeit des Veränderlichen hervorbringen könnten, werden anerkannt.
Lediglich den dahin fließenden Bewusstseinsstrom, mit ständig sich erneuernden
und dann auf immer versiegenden Bewusstseinsinhalten, scheint der Buddha gelten
zu lassen und nähert sich derart einerseits einer nominalistischen Position,
die alles Abstrakte und Wiederkehrende als bloß scheinbar und als facon de
parler ablehnt, andererseits einer Konzeption des „wirklich bewusstseinsmäßig
Gegebenen“ analog D. Hume, E. Mach usw.. Gerade in diesen Punkten gibt es
allerdings erkenntnistheoretische Diskussionen innerhalb der buddhistischen
Traditionen, die viel gemeinsam haben dürften mit unseren westlichen
Endlosdiskussionen über Materialismus, Idealismus, Realismus und Nominalismus
in der Erkenntnistheorie.
[Karma]
Wir
sollten damit rechnen, dass das, was wir andern antun, uns selbst angetan
werden könnte.
Die
Konzepte von Karma und Wiedergeburt sind altindischen, vorbuddhistischen
Urprungs. Sie finden sich z. B. in der Brihadaranyana-Upanishad, einer der
ältesten Upanishaden und sind insofern einige hundert Jahre älter als die
Buddha-Lehre. Dabei ist der Gedanke der Wiedergeburt vom Erfahrungsdenken her
gesehen deutlich überschwänglich und spekulativ. Wir können nichts von unserer
Existenz nach unserem Tod wissen, nicht einmal ob es eine solche Existenz
überhaupt in irgendeiner Weise gibt. Weil aber auch niemand Gegenteiliges
wirklich wissen kann, vermag der Glaube an Karma und Reinkarnation eine
religiöse Funktion wahrzunehmen, die der Rolle einer letzten, höheren
Gerechtigkeit entspricht.
Dieser
religiöse Glaube veranschaulicht den ethisch-moralischen Impuls, andern nur
das anzutun, wovon man selbst [reziprok] betroffen sein wollte, wenn man sich
auch einmal in entsprechend anderen
Lebenslagen befände. Es ist eine Illusion, wenn man nicht bedenkt, dass es auch
einmal ganz anders kommen könnte. Dass man sich in Zuständen der Schwäche und
Bedrängnis wieder finden könnte, wie sie im Augenblick triumphierender Stärke
unverstellbar erschienen.
[Die
Vorstellung der Wiedergeburt ersetzt den Konjunktiv irrealis in der Vorstellung
der „anderen“ Lebenslagen durch einen einfachen Indikativ.]
Die
Vorstellung einer Folge von Wiedergeburten, in denen allen alles geschehen
kann und auch tatsächlich geschieht, bringt dem Gefühl den Gesichtspunkt nahe,
dass man sich im Grunde genommen selbst antut, was man anderen antut. Insofern
veranschaulicht der Vorstellungskomplex von Karma und Wiedergeburt die
moralische Forderung einer universellen [moralphilosophischen]
Verhaltensharmonie der vernünftig handelnden Wesen.
Wer
Böses tut, hat mit einem zukünftigen Leben zu rechnen, das seinen Taten
entspricht.
Bei
unverantwortlichem Lebenswandel, selbst wenn er vordergründig erfolgreich
erfolgt, droht entsprechend unerfreuliche Wiedergeburt. Wir büßen unsere Schuld
in diesem und in zukünftigen Leben.
Die
ungewollten, aber zu befürchtenden Folgen unserer Taten sind bedrückend.
Diese
Vorstellungen wirken für den westlich sozialisierten Menschen phantasievoll und
exotisch. Vom Standpunkt naturwissenschaftlicher Erfahrung sind sie ähnlich
unplausibel wie die Vorstellung der Auferstehung weitgehend verwester
menschlicher Leichname in näherer oder ferner Zukunft, die unserem
christlich-religiösen Gedankenkreis zugehört . In religiöser Denkweise ergibt
sich hier wie dort die Option für empirisch unerweisliche Sachverhalte insofern,
als man die Konsequenz letztlicher Irrelevanz moralbestimmter Denk- und Verhaltensweisen
[wozu man vielleicht durch Erfahrungsbeispiele sich gedrängt sehen möchte] abwehren
will. Insofern optiert man für einen Standpunkt in objektiv unentscheidbaren
Fragen.
Der
Kern buddhistischer Sittlichkeitslehre ist in seinen grundsätzlichen Gehalten
dem der westlichen moralphilosophischen Tradition durchaus analog:
"Niemanden schädigen!" ist leicht mit dem lateinischen "neminem
laede!" zu übersetzen, "nichts nehmen, was einem nicht gewährt
wurde!" erinnert an "suum cuique!". [Im Verhältnis zum Verbot widerrechtlicher
Aneignung erscheint es mir allerdings übertrieben: eine Inbesitznahme von
herrenlosem Gut, die uns aber missgönnt wird, erscheint danach nämlich
ausgeschlossen.] Auch für das Gebot, am Wohlergehen anderer zumindest kein
prinzipielles Desinteresse zu hegen ["quantum potes, iuva!], finden sich
die Entsprechungen.
Für
die Buddha-Lehre besteht die Besonderheit, dass der Glaube an einen den Tod
überdauernden und sich wiederverkörpernden Seelenkern abgelehnt wird. Was hier
reinkarniert, ist lediglich ein über das Leben hinausgehender unpersönlicher
Drang, typische menschlich/ unmenschliche Denk- und Verhaltensmuster, welche
dem endlosen Lied von Vergänglichkeit und Unvollkommenheit der menschlichen
Dinge zugrunde liegen. Der letzte Zweck moralgemäßen Verhaltens, auch das
höchste Ziel aller buddhistischer Übung und Geistesanstrengung ist schlicht
die Nie-Wiederkehr [in dieser Daseinsrunde]. Die Abkehrung des menschlichen
Geistes von Anhaftung, Verblendung, unheilvollem inneren Drang, Karma und
Wiederkehr, ein Konzept der Erlösung vom Dasein schlechthin.
In
der Buddha-Lehre wieder-verkörpert sich nicht die [angeblich] unsterbliche
Einzelseele [die der Buddha ablehnt], sondern der innere Drang, der von der
Wirklichkeit nicht genug haben kann. Die Illusion, die dieser Drang hervorruft,
besteht in der Vorspiegelung, die Lust des Lebens genießen zu können, ohne
seinem Leid anheim zu fallen. Liebe ohne Leid, Macht ohne Kampf, Reichtum ohne
Sorge, dauernde Freude ohne Betrübnis usw. sind aber illusionär. – Es ist
jedenfalls nicht die nüchterne Erfahrung, die uns lehrt, dergleichen könne es
geben. [Man tue so nüchtern, wie man will: wir alle leben von der Hoffnung und
bei weitem nicht allein von der Erfahrung. Ein Zustand völliger
Hoffnungslosigkeit ist wahrscheinlich unerträglich. Es gibt also auch die
Illusion der Illusionslosigkeit.]
Wer
Triebe hat, der hat auch Illusionen.
Das
Konzept des Karma ist weitgehend identisch mit dem psychoanalytischen Konzept
des Wiederholungszwangs oder mit E. Bernes Konzept des Psychoskripts [Transaktionaanalyse]
usw.. Weniger geheimnisvolle Begriffsversuche scheint es in diesen
Angelegenheiten nicht zu geben.
Wir
nehmen an, dass es für die Selbsterkenntnis vorteilhaft ist, davon auszugehen,
dass von uns selbst weitgehend unerkannte, aber dennoch für uns selbst typische
Muster des Erlebens und Handelns existieren.
Dabei
darf man durchaus vor oberflächlichen Selbst- und Fremdzuschreibungen warnen.
Das Karma entspricht eher dem heuristischen Gesichtspunkt, nach wirklich
zutreffenden Mustern des Denkens und Verhaltens zu suchen, aus denen
erfahrungsgemäß Konfliktstoff und Bedrängnis entsteht.
Alle
Menschen sind den Weisungen ihres Karma unterworfen.
Karma
heißt zunächst Wirken oder Tat, dann das durch die Tat Gewirkte und letztlich
auch die vielleicht primär ungewollten, uns entgleitenden Folgen unserer Tat. -
Mit unserer Tat mag die Illusion verbunden sein, dass uns vielleicht
entferntere Folgen erspart bleiben möchten, aber auch hier sollten wir danach
fragen, was in der Regel oder oft wirklich geschieht.
Ein
propagiertes gedankliches System anzunehmender Verhaltensweisen, das sich auf
die rechte Motivation beruft und nach den Folgen nicht fragt, nennt man
bisweilen „Gesinnungsethik“. [Max Weber hat in einem berühmten Vortrag,
„Politik als Beruf“, 1919, eine Gegenüberstellung von „Gesinnungs-„ und
„Verantwortungsethik“ vorgeschlagen.] Das kann zu sehr verwirrenden
Diskussionen führen. Tatsächlich ist es wider die ethische Gesinnung und
ausgesprochen unmoralisch, nach den wahrscheinlichen Folgen unseres Handelns
nicht zu fragen. – Es gibt allerdings einen Sinn, in welchem die Ethik
Gesinnungsethik sein muss, wenn sie Verantwortungsethik sein will. In Fragen
der moralischen Motivation, wo es darum geht, „wozu“ der Mensch letztlich frei
ist und „wovon“, „ergibt“ sich, dass allein die Qualität ernstlichen Wollens
zweifelsfrei in unserer Macht steht. Es „zeigt sich“, bzw. es wird uns klar,
dass wir das voraussetzen müssen. Aber auch hier gilt, dass es
vorantwortungslos wäre, eine Handlungsweise ohne Rücksicht auf die damit verbundenen
Folgen zu beschreiben und zu bewerten, nur weil die Folgen nicht derart
zweifelsfrei in unserer Macht stehen wie die Motivation selbst. Es ist für
unmoralisches Verhalten geradezu charakteristisch, die beabsichtigten Ergebnisse
unseres Handelns von unbeabsichtigten Folgen zu trennen. Die Illusion dieser
„Trennbarkeit“ [eventuell im Widerspruch zu vielen Erfahrungen] ist eine
typische Form von „Verblendung“. – Bestes Beispiel in diesem Zusammenhang ist
natürlich der Versuch, die Liebeslust ohne die Erzielung einer Schwangerschaft
zu genießen.
Karma
ist derjenige Anteil unserer Bedrängnisse, der aus den uns eigentümlichen
Verhaltensweisen resultiert. Was man sich im Grunde genommen selbst angetan
hat, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Es ist der Eigenanteil
selbstgeschaffener Not. Karma-Forschung wäre demnach psychologische Reflexion
auf Denktypisches und Verhaltenstypisches, wie es wirklich in uns wirkt. - Aus
diesem Grund ist die zurückzuweisende Übersetzung von "Karma" mit
"Schicksal" nicht völlig abwegig. Es ist sozusagen das
selbstgeschaffene Schicksal.
Karma
ist ein selbstgeschaffenes Gefängnis erprobter und eingeschliffener Denk- und
Verhaltensweisen, die typische Folgen zeitigen.
Karma
ist eine seelische Prägung und subjektive Energie [subjektive
Gestaltungskraft], die in unserem Leben [vom Subjektiven her] wirkt. Und qua
Unersättlichkeit über das Leben hinaus.
Der
Karma-Gedanke enthält zu allem andern den Gesichtspunkt, dass wir über unser
individuelles Leben hinaus begehren. Über unsere wirkliche Genussfähigkeit
hinaus usw.. So z.B. mehr essen, trinken und Lust genießen wollen, als uns gut
tut. – Unter diesem Gesichtspunkt ist Karma ein über das individuelle Leben
hinaus-schießender innerer Drang.
In der Brihadaranyka-Upanishad heißt zu diesem Aspekt:
„Der Mensch ist ... gebildet aus Begierde; je nachdem seine Begierde ist, danach ist seine Einsicht, je nachdem seine Einsicht, danach tut er das Werk, je nachdem das Werk, danach ergehet es ihm.“ – Dieser Gedanke verfeinert sich dann zum Gesichtspunkt des Über-das-Leben-hinaus-Begehren und den entsprechenden Folgen:
„Dem hängt er nach, dem strebt er zu mit Taten,
wonach sein innrer Mensch und sein Begehr steht.
Wer angelangt zum Endziele der Werke, die er hier begeht,
der kommt aus jener Welt wieder zu dieser Welt des Werks zurück.
So geht es mit dem Verlangenden.“ [Brihadaranyaka-Upanishad, 4,4, 5 – 6]
[Eine andere Quelle des Karma-Gedankens ist die Chandogya-Upanishad (V, 3 – 10). Ausgleichende Gerechtigkeit qua Wiederverkörperung ist auch hier die unmittelbare „Absicht der Lehre“.]
Negatives
Karma: selbstverschuldete psychische Not, schlechte Einfälle, Ressentiment und
bitteres Gefühl.
Ein
Selbst [Ich] hat man nicht einfach, man hat sich etwas zurecht gemacht. – Das
setzt letztendlich ein anderes Selbst [Ich] als Fähigkeit des Sich- etwas- zu-
eigen- machens voraus.
Das
Selbst [empirisch-persönliches Ich] erzeugt sich selbst in komplexen
Wechselwirkungen mit anderen, anderem und sich selbst [auch dem inneren,
nicht-empirischen Ich]. Es bilden sich Prägungen des Denkens, der Motivation
und des Handelns. - Das nicht-empirische Ich, unser metaphysisches
Bewusstseinszentrum ist unsere innere Buddha-Natur und macht uns zu
erlösungsfähigen Wesen.
Mit
sachdienlichen, treffenden Begriffen und den richtigen Fragen im richtigen
Zusammenhang würden wir manche Dinge so erkennen können, wie sie wirklich
sind.
Der
psychologischen Selbsterkenntnis steht eine tiefverwurzelte Neigung zu
Verblendung und Fehlwissen entgegen. [Kontext, 2. Wahrheit]
Die
Verkennung der wahren Natur unserer Ziele beruht auf willentlicher Ausblendung
unvermeidbarer Begleitumstände [und der effektiven Motivation] unseres
Handelns.
[Verblendung,
Illusion]
Kennzeichnend
für unser Glücksverlangen ist die weitgehende Ignoranz von Begleiteffekten der
von uns favorisierten Verhaltensweisen. Wir denken, wir könnten unseren Vorteil
auch ohne unerwünschte Nebenwirkungen erzielen.
Ein
sehr interessanter Gesichtspunkt ist die Annahme von Verblendung als
Entstehungsgrund menschlichen Handelns. Wir handeln oft aus Unwissenheit,
aufgrund mangelnder Information, aber in vielen Fällen handeln wir auch aus
Gründen, die keine arglose Unwissenheit, sondern gewollte Unwissenheit darstellen.
Aufgrund
von Verblendungen denken und handeln heißt: in gewissen Belangen nicht wissen
wollen, was man sich selbst und anderen antut.
Verblendung
ist z. B. Zuträglichkeitsillusion. Dass wir z. B. etwas begehren, was uns eine
Menge Ärger bereiten würde, wenn wir es erhielten. Verblendung ist auch, wenn
man denkt, man könnte die angenehmen Seiten einer Sache von den weniger
angenehmen abgetrennt erhalten, obwohl man nicht weiß wie. In diesem Falle
hätten wir eine Verfügbarkeitsillusion.
Aus
unbeherrschten Emotionen und sonderbar unruhigen Stimmungen entstehen seltsame
Gedanken und Handlungen.
Moralphilosophische
Version der Verblendung: Derjenige handelt verblendet, der nicht berücksichtigt,
dass das, was er andern antut, im Grunde genommen sich selbst antut.
In
der Chandogya-Upanishad, einer wichtigen Schrift der altindischen Tradition,
wird das „tat twan asi“ – „dieses Lebendige bist du“ ganz allgemein, d. h. auch
in theoretischer Absicht, ausgesprochen. Alles Gegebene im Kosmos, insofern es
eine denkbare Gegebenheit darstellt, besitzt einen Bezug auf die Mitdenkbarkeit
eines nichtempirischen Ich, auf eine geistig-inneres Zentrum unseres
Bewusstseins. Das heißt: In verborgener Weise ist das Subjekt universell
präsent. In moralphilosophischer Variante unterliegt der menschliche Geist
einem Anspruch prinzipieller Wechselseitigkeit anzunehmender Verhaltensweisen
in Bezug auf alle Freiheitswesen, deren Verhalten ebenfalls unter dem
Gesichtspunkt der Verantwortung steht. „Tat twan asi“ nimmt hier die Bedeutung
an, sich selbst im anderen Freiheitswesen wiederzuerkennen.
Was
der Verblendete [d.h. wir alle im Zustand der Nicht-Erleuchtung] nicht
berücksichtigen will, ist die Möglichkeit, dass er das, was er andern antut,
sich selbst antut. Er setzt in der menschlichen Welt sozusagen
menschenfeindliche Standards selbst geschaffener Leiden.
[Meditation]
Es
gibt kein Thema und kein Problem, bei dem es nicht möglich und oft sogar
zweckmäßig ist, sich davon zu distanzieren.
In
der Meditation achtet man auf die Atmung und suggeriert sich
Gedankenbesänftigung. Mehr und mehr von Ruhe erfüllt, sieht man zu, dass
möglichst wenig passiert.
Loslassen
aller empirischen Identifikationen. Wir sind reines Subjekt des Denkens, im
Unterschied zu allen Denkinhalten, die wir uns zu eigen machen. Im Unterschied
zu allen inneren Impulsen, die wir verspüren.
Der
Buddha identifiziert sich weder mit seinem Körper, noch mit seiner Psyche,
nicht mit seinen Affekten, Gefühls- und Willensregungen, noch mit seinen
Geistesinhalten. Er hat sozusagen, nach einem zen-buddhistischen Koan, nichts
in Händen und lässt alles los.
Körper
und Psyche gehören der Wirklichkeit des bedingten Entstehens an. Sie sind
vergänglich und unterliegen nach kurzer Dauer ihres Bestehens der Auflösung in
[wiederum vergängliche] Daseinsfaktoren. Vergänglichkeit sowie bedingtes
Entstehen und Vergehen sind gleichbedeutend mit Leerheit [pali: sunnata],
nämlich Leerheit an Unvergänglichkeitsgehalt, an Beständigkeitsgehalt, Leerheit
an „inhärentem Sein“, auch Leerheit an „wahrem Glücksgehalt“, Leerheit an
„Selbstheitsgehalt“. – Das „Andere“ von allen diesen „Daseins- und
Leerheitsgehalten“ wäre das wahre Ich, das eigentliche innere Selbst, von dem
wir nicht wissen können, ob es existiert. Es ist ein lediglich [immerhin?]
Denkbares.
Das
Pali-Wort für Meditation heißt „bhâvanâ“, eig. „Insdaseinrufen“, „Erzeugen“,
speziell „Geistesentfaltung“, „Geistesübung“ [„Geisteskultur“] usw..
Unterpunkte sind „Entfaltung der Gemütsruhe“, „Entfaltung des Hellblicks“
[bezüglich der Daseinsmerkmale dukkha, Ungenugsein, anicca, Vergänglichkeit
und anatta, Nicht-Ich-Artigkeit]. – Interessanter Weise und in der westlichen
Philosophie fast unbemerkt, haben wir hier eine starke inhaltliche Übereinstimmung
mit Descartes Denkübung der Meditation [über die Grundlagen der Philosophie und
der menschlichen Erkenntnis.] Reflexionen über das Wesen der denkenden Ich,
seine nicht-empirische Natur, Immaterialität usw. stehen sowohl an der Wiege
der östlicher Mystik sowie des abendländischen Rationalismus.
Der
Ich-Gedanke ist ein sprachliches und gedankliches Phänomen besonderer Art.
Garantie der Bezugnahme, Verwechslungsunmöglichkeit, besondere
Gewissheitsfähigkeit, nicht-empirischer Charakter, Grenze der Abstraktion u.
a. sind kennzeichnend für die Eigenart dieses Phänomens.
Für
alle Geistesinhalte gilt: das ist nicht mein Ich, das bin ich nicht selbst. –
Mein Ich ist nicht dasjenige, was ich zunächst davon glaube. – Bzw.: ich bin
nur konventionell und per facon de parler [facon de penser] der- oder dasjenige,
was ich zu sein glaube.
Der
Buddha rät dazu, die Sinnenpforten zu bewachen, den Emotionen und Stimmungen
standzuhalten, sich des Entstehens und Vergehens der Gemütsbewegungen bewusst
zu sein und derart den inneren Drang zu besänftigen. Die meditativ bemeisterte
Geist vermag die Inhalte seiner selbst [„Geistesinhalte“] dahinschwinden und
versiegen zu lassen, vermeidet Fixierung auf diese Inhalte, vermeidet
Anhaftung und beunruhigte Sorge und erreicht dadurch zeitweilig eine Art
Loslösung des Geistes von Physis und Psyche. Man kann sagen: er strebt nach
einem exkarnierten Geist. Und überwindet derart die Wirklichkeit des
Unbeständigen und Leidvollen. Zuerst ansatzweise, dann mehr und mehr. Das ist
ein stoischer Zug in dieser Lehre.
Den
Stoikern gegenüber gab es die Frage, ob der Weise, also der ideale Stoiker,
auch auf der Folter glücklich sei und sich am Bewusstsein seiner freien
Unabhängigkeit genügen lasse. Nach einer solchen Reflexion stellt sich die
Frage, ob das stoische Ideal den tatsächlichen Menschen nicht hoffnungslos
überfordert. – Der meditierende Buddha muss nicht derart überhöhte Ansprüche
verfechten. Die Meditation hat lediglich Übungscharakter für den Weg der
Geistesruhe und Gelassenheit und kann z. B. als selbstsuggestives Verfahren für
die Erzeugung eines Bewussteins angesehen werden, das die Fähigkeit zur
Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit betrifft. Zunächst wird das Bewusstsein
erzeugt, dass es zumindest einen Bereich der subjektiven Freiheit gibt. Z. B.
dass man die Atmung verzögern und beruhigen kann. Von der richtigen Entfaltung
dieser Anlage, welche in der Aufmerksamkeitsübung bewusst wird, verspricht
sich der Buddha letztlich auch große Dinge wie Leiderlösung, Weltüberwindung
usw..
Die
hohe Wertschätzung der meditativen Übung ergibt sich durch den Gesichtspunkt,
dass wir selbst es sind, vermöge unseres Geistes und Bewusstseins, die
bestimmte Gedankeninhalte [mehr oder weniger] festhalten, verknüpfen oder
loslassen können. Für unsere Handlungsmotive speziell heißt das: wir selbst
sind es, die sich bestimmte Motive als Geistes- und Bewusstseinsinhalte mit
handlungs-lenkender Kraft [mehr oderweniger] zueigen machen. Oder eben: wir
können sie in ihrem Drang und ihrer Dringlichkeit abschwächen, eventuell sogar
loslassen und ziehen lassen. – Zunächst beginnt die „Übung“ mit
Aufmerksamkeitslenkung [bezüglich dem subjektiven Wahrnehmungsbewusstsein] und
erzeugt damit auch das Bewusstsein der entsprechenden Einfluss- eventuell
sogar Lenkungsfähigkeit. Man kann sich z. B. klarmachen, dass man den
Atemvorgang verspürt und [in gewissem Maße] beeinflussen kann. Im Fokus der Aufmerksamkeit
steht dabei das subjektive Verspüren und nicht die objektive Tatsache, dass es
eine Nase gibt, durch die der Atem in den Körper eintritt. Von der Lenkung der
subjektiven Aufmerksamkeit her weitet sich das Bewusstsein aus bis hin zum
Bewusstsein der Fähigkeit, Geistesinhalte anzunehmen, abzuschwächen oder im
Bewusstseinsstrom dahin ziehen zu lassen. – Die Fähigkeit, bejahend oder
verneinend zu einem Aussageinhalt Stellung zu nehmen, ist möglicher Weise ein
Sonderfall davon [von der Fähigkeit, Inhalte festzuhalten oder loszulassen],
ebenso wohl auch die Fähigkeit, einen Willensimpuls aufzunehmen, ihn
zurückzuweisen, abzuschwächen oder verlöschen [oft auch „versiegen“] zu lassen.
Das alles läuft m. E. darauf hinaus, dass sich der Meditierende in seiner
Besinnung zumindest ansatzweise der Existenz eines nicht-empirischen,
nicht-physischen und nicht-psychischen Subjekts bewusst wird, das er im Grunde
genommen selbst ist:
Diese
Fähigkeit selbst ist das ‚wahre’ Subjekt, das innere Ich, das unter den
Geistesinhalten nicht zu finden ist.] Reines Bewusstsein, das Inhalte
[Geistesinhalte] verknüpft, sich aneignet, sich darauf konzentriert, sie wieder
loslässt usw.. Erzeuger dieser Inhalte ist diese sonderbare Fähigkeit nicht.
‚Inhalte’ sind mit Bezug auf diese Fähigkeit gegeben und werden untereinander
und im Hinblick auf dieses zentrierende Bewusstsein in Bezug gesetzt. – Soviel
in erläuternder Anspielung auf Kants Lehre von der reinen Apperzeption. –
Cartesianische Meditation, Kants transzendentale Reflexion [auf
nicht-empirische Voraussetzungen] und fernöstliche Meditation auf das wahre,
innere Selbst lassen sich leicht in Beziehung zueinander bringen, obwohl man
solche Vergleiche kaum findet. [Es gibt sie möglicher Weise bei japanischen
Zen-Mönchen, die auch westliche Philosophie rezipiert haben.]
Gesegnet
die Stunden, die uns über uns hinaus führen.
Es
gibt Auswege aus den menschlichen Konfliktsituationen. Aber diese Auswege sind
oft nicht dort, wo man sie sucht.
[Erlösung,
pali: vimokkha, sanskrit: mokksha]
Die
Erlösung ist zunächst Erlösung von Geistes- und Gewissensunruhe, die
Besänftigung äußerer und innerer Ruhelosigkeit. Im Endeffekt aber hat der
Buddha eine emphatische Erlösungskonzeption: Erlösung von den Schrecken der
Geburt, des Alterns, der Krankheit, des Todes und vor allem der Wiedergeburt.
Seine Zuversicht heißt: „Ich kann der Misère entrinnen.“
Wer
Wind sät, wird Sturm ernten, heißt es im christlichen Evangelium. Das ist das
erfahrungsmäßige Prinzip der Eskalation von Konflikten. Wer den inneren Drang
ernstlich zu besänftigen versucht, der wird diesen Drang zügeln und letztlich
tatsächlich besänftigen. Dann ist er drang- und leiderlöst in einem.
Unerlöst
und ohne dem Gesichtspunkt ausgleichender Gerechtigkeit genug getan zu haben,
kann man dieser Daseinsrunde nicht entkommen. – Erlösbarkeit trotz
vorangegangenen, selbstverschuldeten Leidens wird vorausgesetzt und nicht von
theologischen Prämissen her dem Verständnis näher gebracht. Auch hier [ähnlich
wie bei Luther und Paulus] wird der Erlösungssuchende trotz der Unbegreiflichkeit
eines Auswegs „nach alle dem“ auf seine Motivation vertrauen.
Das
Ziel: Überwindung leidbringender Emotionen. In esoterischer Sprache:
„Veränderungen im Fluss innerer Energie herbeiführen.“ Als moralischer
Imperativ: „Wendet Euch ab von Gier, Hass und Verblendung!“ – Dies ist wieder
der Gedanke: „So, wie es ist, ist es nicht in Ordnung. Unserer geistigen Natur
gemäß sollte und könnte vieles anders sein.“ Dabei liegt es an uns selbst, uns
von selbstverschuldetem Leiden nach und nach zu befreien.
Erlösung
im Christentum ist Erlöstwerden von Sünden und Leiden [zu einer freien,
selbstbestimmten Existenz hin] durch ein spezifisches Arrangement Gottes
[Kreuzestod Christi usw.]. Erlösung im Buddhismus ist [weitgehend]
Sich-selbst-erlösen. Christus betont das passive Moment der Erlösung, Buddha
das aktive. Im Christentum haben wir eine Theologie der Rechtfertigung und
Erlösung, ausgehend von der Tatsache, dass sich der Mensch hoffnungslos in
selbst geschaffene Not verstrickt hat, wenn es allein auf ihn selbst ankäme,
all das angerichtete Böse wieder gut zu machen. Auch der Buddha sagt: „Lange
Zeit hindurch ist dieser Geist von Gier, Hass und Verblendung getrübt worden.“
Wer nun ernstlich nach Erlösung strebt, wird sich nicht durch die Erfahrung der
menschlichen Verkehrtheit entmutigen lassen, obwohl das Problem, wie die
‚Rechtfertigung’ gedacht werden könnte, tatsächlich besteht. Aus diesem Grund
hat der Mahayana die Übertragung von gutem Karma von selbstlosen Bodhisattvas
auf den erlösungsbedürftigen Menschen erwogen und kommt damit der christlichen
Erlösungslehre sehr nahe. Bei alle dem aber sollte man bedenken, dass man damit
keine regelrechte ‚Erklärung’ der Rechtfertigung hat, da man ignotum per
ignotum ‚erklärt’. Kann man es wirklich wissen, oder setzt man es einfach
voraus?
An
einem Vers aus Faust II, 11936 ff., kann man den Unterschied der Erlösungsvorstellung
illustrieren. Die Engel singen, „Faustens Unsterbliches tragend“:
„Wer
immer strebend sich bemüht,
den
können wir erlösen.“
So
könnte auch der Buddha reden. Im Gefolge paulinischer und lutherischer
Theologie allerdings würde es heißen: „Nur wer erlöst ist, vermag immer
strebend sich zu bemühen.“
Ganz
im Kontrast zu der oft geäußerten Annahme, der Orient sei mehr der Passivität
zugetan als der Okzident, vertritt der Buddha mehr eine aktive, das Christentum
mehr eine passive Version des Erlösungsgedankens. Kern des Konzepts ist jedoch
in beiden Fällen eine Erlösungszuversicht in der Art eines „surge et ambula“.
Anders gesprochen: „Du kannst, denn du sollst,“ sofern es um „eigentliches“
Sollen [und nicht lediglich um sozial-psychologisches Regelwerk] geht. Und dies
trotz der niederschmetternden Erfahrung der gesamten Menschheitsgeschichte.
Damit sind wir wieder bei dem „utopischen“ Kern des Normativen angelangt.
Der
spezifische Religions“gehalt“, der Standpunkt, in dem die „Lehre“ hinausgeht einerseits
über ethisch-moralisches Gebotensein, andererseits über die ethische
Beurteilung des tatsächlichen menschlichen Wirkens, ist das Erlösungsdenken.
[Nirwahn]
Nirwahn
[sanskrit ‚nirvana‘, pali ‚nibbana‘] ist eine Bezeichnung für Wahnlosigkeit,
Un-wahn [wagerisch ‚Wahnfried‘] oder Un-Verblendung. In dieser Bedeutung ist
Nirwahn ein Bewusstseinszustand mit einer besonderen Art von Klarsichtigkeit.
Er zeichnet sich aus durch die Abwesenheit von Illusionen der Begehrlichkeit.
Nirwana
steht auch für „Nicht-Sein“. Nicht für das Nichts schlechthin, bzw. nicht für
das ‚absolute‘ Nichts, nicht für das schlechthin Undenkbare. Anders
gesprochen: Eisen, das Holz ist, oder auch ein Kreis, der ein Viereck ist, sind
Undenkbarkeiten, nihil negativum. Ein schlechthin nicht-empirisches Geistwesen
dagegen ist zwar ein denkbares Etwas, der Begriff eines solchen Wesens enthält
nichts Widersprüchliches, ist aber ein leerer Begriff, ein Begriff ohne
zugehörigen Erfahrungsgegenstand. Genau genommen: ohne möglichen Erfahrungsgegenstand,
denn ein raum-zeitliches Etwas kommt hier nicht in Frage. Man kann nun in
problematischer Weise von der Denkbarkeit nicht-empirischer Realitäten
sprechen und sagen: „So etwas kann es gemäß Prinzipien der Denkbarkeit durchaus
geben“ oder man versteigt sich sogar zur Behauptung: „So etwas gibt es
tatsächlich, die Art seiner Wirklichkeit ist noumenal.“
Im
zweiten Fall behauptet man mehr als man wissen kann. Diese gilt jedenfalls
dann, wenn man mit Kant davon ausgeht, dass lediglich die Bedingungen einer uns
möglichen Erfahrungserkenntnis als Thema nicht-empirischen Denkens berechtigt
sind.
Nirwahn
[in der Bedeutung „Nicht-Sein“] gehört also in den Bereich der Denkbarkeiten,
ist aber kein Teil der uns umgebenden Wirklichkeit. Übrigens auch keine
psychischer Realität. Es ist eine positiv bewertete Transzendenz, im Gegenzug
zu einer übermenschlichen Hölle des Entsetzens, die ebenfalls eine transzendente
Denkbarkeit darstellt, nach dem Muster der uns tatsächlich umgebenden Wirklichkeit
allerdings leicht zu erdichten. Nirwahn also wird gleichgesetzt mit dem
Tushita-Himmel, dem Himmel der Stillzufriedenen, die im Einklang mit der
höheren, wahren Natur ihres inneren Selbst leben. Sie sind den empirischen
Daseinsmerkmalen ‚Vergänglichkeit‘, ‚Ungenügen‘ und ‚Selbstentfremdung‘
[Nicht-Ich-Artigkeit] entrückt. Selbstfindung durch Geistesbesänftigung ist
der Weg zum Ziel der Leidbefreiung. Dabei ist die höhere Natur des inneren
Selbst reine Leerheit an empirischem Inhalt jeglicher Art. Was uns dabei
auffällt, ist folgendes: der Buddha verallgemeinert die Daseinsmerkmale der
uns umgebenden menschlich-unmenschlichen Wirklichkeit zu Daseinsmerkmalen
schlechthin, so dass für das geistig-innere Subjekt, sei es nun
nicht-empirisch-logisch oder nicht-empirisch transzendent angesetzt, nur reine
Leere [an jeglicher Realität] anzusetzen bleibt.
[Magie
der Verwandlung]
Im
Religionsglauben fast aller Traditionen finden sich Vorstellungen von magischen
Wirkungszusammenhängen und Aberglauben. Z. B. dass man nicht von einer
Schlange gebissen werden kann, wenn man regelmäßig in ausreichendem Maß
meditiert. Oder dass man durch Gebete allein körperliche Erkrankungen heilen
kann. Oder dass man einen Arbeitsplatz erhalten wird, wenn man arbeitslos ist,
aber betet. In diesen Fällen gibt es m.E. aber wichtige andere Zusammenhänge,
denen man Rechnung tragen sollte.
Stutzen
wir Vorstellungen von der Macht des Glaubens, der Macht der Selbstbeeinflussung
und der pflegenden Übung auf ein vernünftiges Maß zurück, so bleiben uns dennoch
legitime Bereiche für die Selbstbeeinflussung und den autosuggestiven Umgang
mit der eigenen Subjektivität, die wir nicht allzu sehr in Frage stellen
sollten. Nicht die mit Glauben tatsächlich versetzten Berge, übernatürliche
Bewusstseinskräfte u. dgl. sind das Entscheidende, sondern die schlichte
Tatsache, dass es menschliche Angelegenheiten gibt, in denen subjektive Entschlüsse,
„Arbeit“ am Subjektiven [z. B. Trauer- und Erinnerungs“arbeit“], Erzeugung von
inspirierenden Stimmungen und autosuggestiver Bezug auf die eigene Subjektivität
legitim sind. Was hier zuviel und zuwenig ist, kann nur vom Standpunkt
ehrlicher und „unideologischer“ Alltagserfahrung her [auch nicht z. B. rein
„naturwissenschaftlich“] beurteilt werden. Eine ganz scharfe Abgrenzung von
Glaube und Aberglaube, sinnvoller Übung und Brimborium, gibt es wahrscheinlich
nicht. Vielleicht aber eine in vielen Fällen hinreichend scharfe.
Die
„Magie der Verwandlung“, wo sie angenommen werden darf, ist subtil und betrifft
zunächst nur die Lenkung der Aufmerksamkeit. – Man fängt z. B. mit dem Ein-
und Ausatmen an, das man nicht vermeiden, aber probeweise verzögern oder
beschleunigen kann. Es geht ja nicht darum, den Menschen aus natürlichen
Zusammenhängen herauszureißen, sondern ihn auf eine Fähigkeit der [zunächst]
geringfügigen Modifikation des Gegebenen hinzuweisen. - Erstrebenswert ist die
Steigerung des Bewusstseins der [nur vordergründig zwangsläufigen,]
gefühlsmäßigen Reaktionen. Zudem ist erstrebenswert: ein wachsendes Distanzierungsvermögen
bezüglich unserer Gewohnheiten und Leidenschaften, wenn sie unsere Freiheit ungünstig
belasten. Bedrückende Gedanken und Emotionen können in der Zwangsläufigkeit
ihres Auftretens geschwächt werden, selbst-sabotierende, schlechte Angewohnheiten
ebenfalls. Wir sind fähig, blindes Ausagieren mehr und mehr zu verhindern.
Dies alles fällt unter den Stichpunkt „Magie der Verwandlung.“
Wir
sind vielleicht bis über den Hals hinaus in schlechte Angewohnheiten
verstrickt. Dennoch ist es keineswegs undenkbar, dass wir den Anteil selbst
geschaffener Not durch geeignete Verhaltensänderung verringern. Die Anfänge
dazu sind oft unscheinbar.
B.
Russell sagt im 1. Kapitel seiner „Denker des Abendlandes“: Magie ist „ein
Versuch, durch gewisse streng bestimmte Riten die Wirklichkeit zu
beeinflussen.“ „Bevor man die Wissenschaft entdeckte, wurde dies der Magie
anvertraut.“ Ich greife diese Bemerkung auf, um darauf aufmerksam zu machen,
dass im Falle des menschlichen Verhaltens selbst, als einem ganz besonderen
Phänomen, der „Versuch, durch Riten die Wirklichkeit zu beeinflussen“, keinen
Aberglauben darstellt. Menschliches Verhalten ist im Normalfall mental modifizierbar
und der Zurechnung fähig. Wir setzen das in vielen alltäglichen Situationen, in
denen es um Zurechnung, Schuld und Verantwortung geht, einfach voraus und
halten umgekehrt Zustände der Willensbeeinträchtigung, der
Unzurechnungsfähigkeit und des Nicht-Vermögens für begründungsbedürftig. –
Zugegebener Maßen zum Teil auch unberechtigter Weise. Manchmal macht man
jemanden für etwas verantwortlich, für das dieser gar nichts kann. Im
Einzelfall mag dies zu diffizilen Endlosdiskussionen führen.
Wir
beeinflussen uns selbst durch die Art, wie wir reden und handeln, durch die
Auswahl unserer Kleidung, durch angenommene Rituale, durch das Hören
entsprechender Musik, durch das Betrachten entsprechender Bilder, durch Gebete
und Beschwörungsformeln. Bei all diesen Dingen spielt die Erzeugung
beabsichtigter Stimmungen, also der [auto]suggestive Umgang mit der eigenen
[und fremden] Subjektivität, eine wichtige Rolle. Sofern wir dabei nicht
übertreiben und z. B. allein durch Gedankenkraft den natürlichen Lauf der Dinge
ändern möchten, handelt es sich um eine legitime Form von Magie und
„Ideokinese“. – Negativ zu bewertende Fälle in diesem Bereich, die ebenfalls
reichlich anzutreffen sind, sind „Stimmungsmache“, „Alarmismus“ und
„Propaganda“. Welche dies im einzelnen sind, ist naturgemäß stark umstritten.
So sagt man seinen politischen Gegnern in der Regel so schlimme Dinge nach,
dass die eigenen Handlungsweisen jedem Außenstehenden als Muster an Mäßigung,
Ausgeglichenheit und sachgerechtem Tun erscheinen müssen.
[Ausgleichende
Gerechtigkeit, Karma und Wiedergeburt]
Der
Gedanke einer erforderlichen ausgleichenden Gerechtigkeit [bezüglich des
menschlichen Lebens] [mit entsprechenden Anforderungen an Weltlauf und
Welteinrichtung] tauchen in verschiedenen Religionen in unterschiedlicher
Gestalt auf. Z. B. Karma versus jenseitiges, „letztgültiges“ Gericht. Dem liegt
der Befund zugrunde, dass es eine gewisse menschliche Misère gibt, dass es
„wirkliche“ Gerechtigkeit und zweifelsfrei „gültige“ Rechtsprechung unter
Menschen nicht gibt, dass vieles nicht so ist, wie es sein sollte und deshalb
auch sein könnte. Ultra posse nemo obligatur, aber wir haben „nicht wirklich“
das Mögliche getan.
Dabei
sollten wir allerdings „echte“ Verpflichtungen nicht durch lediglich
konventionelle oder durch irgendwelche „Aufsätze“ und mindere Verbilndlichkeiten
ersetzen. Ein Mensch kann seinen Beruf z. B. mit minderem Geschick ausüben und
mag auch Schaden dadurch leiden, aber das hat u. U. wenig damit zu tun, ob er
wirklich essentielle Verpflichtungen beachtet.
Wir
sind obenauf und glauben, alles fest im Griff zu haben. Aber wir müssen damit
rechnen, dass das, was wir andern antun, uns auch selbst angetan wird.
[Atman
und geistiges Inneres]
Der
Buddhismus besteht in einer heterodoxen Aneignung altindischer
Traditionslinien. Spekulativen Erwägungen einer für sich selbst [unabhängig
von physischen, psychischen und geistigen Ansammlungen [„Aggregaten“,
„khandas“] bestehenden immateriellen und hyperphysischen Seele [Atman] erteilt
er eine Absage.
Der
Buddha sagt z. B. in seiner entwaffnenden Art: „Wie es sich mit ... verhält,
das wollen wir auf sich beruhen lassen. Worauf es mir vor allem ankommt, ist
die Befreiung von ...“ Damit klingt an: „Kann ich es wissen? Muss ich es
wissen?“
Der
Atman wird oft als substantielles, aber dennoch individuelles Etwas jenseits
von Entstehen und Vergehen angesetzt, also als individuelles,
nicht-sterbliches Etwas im einzelnen Menschen. In diesem Sinn wird der Atman
von der Buddha-Lehre verworfen. Wenn wir aber sagen, der Atman sei ein
nicht-empirisches, also ein nicht-physisches und nicht-psychisches Etwas,
dessen sich der einzelne Mensch in seinem Denken bewusst zu werden vermag, dann
wäre der Atman kein Bestandteil des historisch-konkreten Menschen, sondern nur
die Leerheit des nicht-empirischen Bewusstseins, an die wir zu denken
vermögen. Auf diese Weise kann die Aussage rezipiert werden: „Im Geist ist der
Geist nicht zu finden; die Natur des Geistes ist klares Licht.“ – Wir
versuchen sozusagen etwas denkend zu bestimmen, was eigentlich kein
Denkinhalt ist, sondern allgemeine Beschaffenheit „meines“ denkenden Bewusstseins
und insofern „reine Form“. – Die Inhalte zu dieser Form sind bedingt
entstehende Geistesinhalte, im zeitlichen Fluss des Bewusstseins auftauchend
und versiegend. Durch die Denkrezeptur [zur Entdeckung] dieses
nicht-empirischen Subjekts schließen wir übrigens auch aus, dass es ein im
Fluss des Bewusstseins befindliches Etwas ist. Die von allem Inhalt des
Bewusstseins abzusondernde Bewusstseinsform ist auch un-zeitlich. Nur die
Inhalte darin, sie fließen. – In diesem Sinn sagt auch Kant: „Es kann kein
stehendes und bleibendes Selbst in diesem Fluss innerer Erscheinungen geben“ [A
107] – Man muss es hinzudenken.
Ich,
als konkreter Mensch in der Historie bedingten Entstehens, bin nicht mein
wahres und eigentliches Ich. Eine vorauszusetzende Fähigkeit des Denkens
überhaupt [mit Einschluss des handlungsnormierenden Denkens] ist das
eigentliche Subjekt selbst. – Der konkrete Mensch besitzt nicht die Fähigkeit
nicht-empirischen Denkens, sondern in seinem Denken manifestiert sich diese als
vorauszusetzende Fähigkeit.
Der
Buddha selbst lehnte den Atman aus folgendem Grund ab: Er sah in der
behaupteten Nicht-Sterblichkeit des Atman, wenn diese Nicht-Sterblichkeit eine
Tatsache wäre, ein Erlösungshindernis. Es käme der Unentrinnbarkeit des Seins
gleich, wenn der Atman nicht versiegen oder verlöschen könnte. Diese Ablehnung
funktioniert offensichtlich vor der Hintergrundannahme, dass ‚Sein’ generell
nach dem Muster der uns erfahrbaren Wirklichkeit als ‚dukkha’ angenommen wird.
Genau genommen könnten wir aber, ex negativo, den Begriff einer
nicht-empirischen Wirklichkeit einführen. Die Existenz des nicht-empirisch
Transzendenten wäre damit zwar empirisch unentscheidbar, trotzdem denkbar und
nicht einfach gleichzusetzen mit ‚Nichts schlechthin’. Das wäre der Schritt vom
limitativen ‚Nicht’ [‚Nicht-Empirisch’, ‚Nicht-Materiell’ usw.] zum ‚Über’
[‚Über-Empirisch’, ‚Hyper-Physisch’ usw.]. Ob auch diese überempirische
Realität „dukkha“ ist, können wir nicht wissen. Diese überempirische Realität
könnte ja auch mit vollkommener Glückseligkeit verbunden sein. In diesem Fall
müssten wir uns nicht davor ängstigen, wenn der Atman in einer solchen Art von
Dasein aufgehoben wäre. Die Unentrinnbarkeit des Seins wäre nicht
befürchenswert.
Es
sind, ähnlich wie bei Fichte, anstrengende Unterscheidungen zwischen absolutem
und empirischem Ich [empirisch = physisch und psychisch!] nötig, um uns aus
dem Problemkreis von Ich und Nicht-Ich herauszuhelfen. Die Persönlichkeit, die
sich aus den khandhas [‚Daseinsgruppierungen’] aufbaut, ist ein empirisches
Phänomen. Wird sie sich aber ihres wahren inneren Selbst bewusst, sagt sie:
„Das alles bin ich gar nicht selbst.“ Im Bewusstseinsstrom der Person, wie er
empirisch subjektiv für diese Person selbst gegeben ist, findet sich das
nicht-empirische Ich nicht. Insofern ist die Konzentration auf das
„eigentliche“ Ich in Wahrheit ein Prinzip der Selbstlosigkeit. Jegliches
empirische Etwas, sei es subjektiv, sei es objektiv gegeben, ist also immer
Nicht-Ich im Sinne ‚Nicht-Reines-Ich’. Umgekehrt ist das reine Ich ein
empirisches Nichts. – Man kann sich dem Phänomen auch in folgender Weise
nähern: In der empirischen Leere liegt die „Fülle“ der nicht-empirischen
Evidenz. Anders ausgedrückt: Nicht-empirische Evidenz kann nicht etwas Empirisches
betreffen.
„Anatta“
wird bisweilen mit „Unpersönlichkeit“ wiedergegeben. Ich halte das für missverständlich.
Es geht nicht darum zu sagen, Persönlichkeit sei illusionär. Es geht darum zu
sagen, die individuelle Persönlichkeit sei nicht das wahre und eigentliche Ich.
Aussagen der Art „sechs Personen sind anwesend“ sind empirisch und
unproblematisch. Personen sind Bestandteile der bedingten Wirklichkeit. Sie
gehören in den Bereich des bedingten Entstehens und Vergehens. Sie sind
zeitweilig dauernde Gruppierungen [organische Anhäufungen] physischer und
psychischer Daseinsfaktoren im Strom des Werdens. Von all dem aber gilt: „Alle
Dinge sind nicht das Ich.“ All dies ist nicht das wahre, eigentliche Ich. – In
der Hauptsache lehnt der Buddha also die Unsterblichkeit des individuellen Ich,
also der Einzel-Seele, ab. Für die All-Seele, das wahre Ich, die allerdings
völlige empirische Leerheit ist, gilt dagegen Todlosigkeit, Unveränderlichkeit
usw., in limitativer Denkfigur: man kann nur sagen, was das wahre Ich nicht
ist.
Der
Buddha optiert nicht für die Existenz einer singulären Personenseele. – Er sagt
zunächst: Es gibt keine individuelle Einzelseele, die unsterblich ist. Unsere
Individualität, sie sei körperlicher, psychischer oder geistiger Art ist
Kompositum verschiedener Daseinsfaktoren [Guppierungen, khandas] Darüber hinaus
gibt es nichts Feststellbares. Darüber hinaus „gibt“ es aber [denkbarer Weise]
Denkbares, von dem wir nichts wissen können. Und darauf „beziehen“ wir uns mit
dem Gedanken des wahren Ich. – Es ist ein Scheinbezug.
Genau
genommen können wir vom wahren Ich nicht einmal sagen, dass es existiert. Ein
Satz der Art: „der Begriff des wahren Ich trifft aufgrund der Kriterien XYZ auf
den gegebenen Anwendungsfall A zu“, ist gemäß der Raum-Zeit-Verhaftung
gegenstandsbezogener Erkenntnis völlig leer [an Inhalt]. Insofern kann man
eigentlich auch nicht behaupten, der Mensch sei auf eine transzendente
Wirklichkeit bezogen. Er kann lediglich Nicht-Empirisches denken, aber selbst
mit der bloßen Existenz-Aussage bezüglich angeblich transzendenter Sachverhalte
behauptet er mehr, als er wissen kann. Diese gilt allerdings auch für die
verneinte Existenzaussage. Die Lösung heißt: Unwissbarkeiten offen und
unentschieden lassen, entsprechenden Aussagen wegen [wissbarer]
Unentscheidbarkeit [Unwissbarkeit] den behauptenden Wissbarkeitsanspruch zu
entziehen.
Die
Existenz des denkenden Ich ist etwas, wovon ich nicht abstrahieren kann. Und
doch kann ich nicht wissen, ob ein geistiges Ich als nicht-empirisches Wesen
außerhalb der raum-zeitlichen Wirklichkeit existiert.
Wahrscheinlich
erreichen gewöhnliche Sterbliche, die wir ja alle sind, nur gelegentlich Gefühle
eigenständigen Denkens und geistiger Unabhängigkeit. Der Buddhist erkennt in
tiefgründiger Denkübung, dass all das, was er von sich zu denken vermag,
lediglich Geistesinhalt und insofern sein inneres Ich für sich selbst genommen
nicht ist. „All das bin ich nicht und insofern vermag ich, mich gedanklich
davon zu distanzieren.“ Die Leerheit des Bewusstseins vermögen wir für sich
selbst genommen ohne jeglichen Inhalt gar nicht allein vorzustellen und ist
doch Dreh- und Angelpunkt unseres Bewusstseins. Diese Leerheit ist reine Form
des Bewusstseins.
Während
einer Bergwanderung eilt man nicht von einem großartigen Aussichtspunkt zum
nächsten, sondern nur gelegentlich, vielleicht unerwartet, eröffnet sich eine
erhabene Aussicht. Ebenso ist uns jede Form der Geisteserleuchtung
gewissermaßen unverfügbar. Es besteht erhebliche Gefahr, den Übungsweg der
Geistesruhe, Joga und Meditation zu mystifizieren oder als
Bewusstseinstechnik mit verfügbaren Ergebnissen auszugeben.
Vermittelst
der khandas [gruppierte Ansammlungen physischer und psychischer Daseinsfluktuationen]
bezieht sich der Geist auf die ihn umgebende Welt. Dabei wird er hauptsächlich
durch Lust- und Schmerzgefühle gefangen und festgehalten. Vermittelst der
Meditation übt es sich zeitweilig in der Loslösung des Geistes [von der ihn
umgebenden Wirklichkeit], um letztlich endgültig loslassen zu können und der
Wiedergeburt in der leidvollen Wirklichkeit zu entgehen.
Der
Buddha hält das Bewusstsein der Leere, Loslassenkönnen und Ablösung der
ernsthaften Mühe wert. Ablösung heißt für ihn Überwindung der Wirklichkeit des
bedingten Entstehens.
[Sex
und Macht, I]
Sex
und Buddhismus. Mit dem Sex hat die buddhistische Tradition ähnliche
Schwierigkeiten wie die christliche. Wir finden auch hier die Position der
Körper- und der Lustfeindschaft sowie der Verächtlichmachung der
Sexualfunktionen. Es ist nun nahe liegend, religiöse Traditionen mit dem
eigentlichen Gehalt ihrer Lehren teilweise gleichzusetzen und auch teilweise
wieder davon zu unterscheiden. Das führt auf die Schwierigkeit, den inneren
Gehalt der eigentlichen Lehre zu bestimmen. Ich selbst nehme die
Sexualfeindschaft von Buddhismus und Christentum nicht als zum eigentlichen
Gehalt der reinen Lehre gehörend an, obwohl beide Traditionen explizit
sexualfeindliche Äußerungen selbst in anerkannten Quellentexten enthalten.
Als
einer der innersten und unverlierbarsten Impulse der menschlichen Natur gebührt
dem Sexualmotiv des Menschen [auch in sublimen Formen] ein zentraler Platz im
Zusammenhang jeder religiös oder philosophisch ausgerichteten „Weltanschauung“.
Das
Thema „Sex und Verantwortung“ hatte zu allen Zeiten Brisanz. In vergangenen
Zeiten jedoch war die Brisanz dieses Themas wahrscheinlich noch größer als
heute. Das Nicht-Vorhandensein empfängnisverhütender Mittel ist ein gewichtiger
Unterschied. Verschärft wird dieser Gesichtspunkt noch dadurch, wenn man das
menschliche Leben, so wie es faktisch verläuft, als eine endlose Misere
versteht, in der Krankheit, Not und Alter eine dominierende Rolle spielen. Das
alles macht es in meinen Augen verständlich, dass mancher, der sich nicht allzu
sehr in den Lauf der Welt zu verstricken wünschte, den Trieb nach Lust und Fortpflanzung
beargwöhnte. „Damit nicht neue Seelen in den Daseinskreislauf eintreten“, und
ihn womöglich in der Sicherung des dazu nötigen Unterhalts überforderten.
Wer
Geistesruhe und Gelassenheit so sehr hochschätzt, wie es der Buddhismus tut,
hat besonderen Grund, das Sexualmotiv mit all seinen Verwicklungen und
Folgeproblemen, die es für den Menschen erzeugt, zu beargwöhnen.
Die
Entwicklung alltagstauglicher Kontrazeptiva hat die Verfügungsgewalt des
Menschen über natürliche Dinge derart geändert, dass man [wie G. Anders]
angeregt hat, von einer Revolution im Alltagsleben des Menschen sprechen kann.
Religiös motivierte Sexualunterdrückung, - buddhistisch oder christlich, hat
de facto niemals funktioniert, und auf Dauer lediglich Ressentiments und den
Verdacht hervorgebracht, als ginge es den Religionseliten um die Propagierung
lebensfeindlicher Ideale und ihrer eigenen Macht. Die heutige Chance, Sexualfunktionen
ausüben zu können, ohne sich fortpflanzen zu müssen, kann m. E. als Zuwachs an
Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Einzelnen gewertet werden.
Monastische
und zölibatäre Lebensformen sollten kein Sonderverhältnis zur Sphäre ethischen
und religiösen Bewusstseins beanspruchen. Worauf es ankommt, ist allein die
Goldene Regel mit ihrem Gehalt der Forderung einer [zumindest? immerhin?]
Reziprozität anzunehmender Verhaltensweisen. Multum, non multa.
Mit
der Propagierung monastisch-zölibatärer Lebensformen wurde eine Regel der
vermeintlich persönlichen Klugheit mit der Würde eines essentiell
moralisch-ethischen Prinzips ausstaffiert. Der Nachteil einer solchen
Verfahrensweise besteht in folgendem: Wird die Übertreibung der angeblich zu
empfehlenden Sittenstrenge erkannt, geraten auch Forderungen mit dem Merkmal
echter Verbindlichkeit in der Verdacht einer Anmaßung. In diesem Sinn gibt es
das von L. Marcuse monierte Phänomen „repressiver Charakter der Moral“
tatsächlich. „Moral“ ist also mehrdeutig: „historisch gesellschaftlich“ und
„wahrhaft“. [„Eigentlich“, „echt“, „wirklich geboten“ usw. sind andere
Ausdrucksversuche.]
Man
sollte vorsichtig sein, es jahrtausende alten Traditionen anzulasten, wenn sie
sich in dem Thama „Sex“ nicht zu einem optimalen Standpunkt durchringen
konnten, den es vielleicht ja gar nicht gibt. Die Schwierigkeit der Sache ist
so enorm, dass der alles übergreifende Standpunkt wahrscheinlich darin
besteht, auf ein Optimum und eine endgültige Auffassung zu verzichten.
Esoterische
Kreise des Westens mögen begehrlich auf sexuelle Praktiken des tantrischen
Buddhismus und Hinduismus schielen. Was die tibetischen Lamas betrifft, so sind
sie, - ähnlich wie einige westliche Psychotherapeuten, in eine hässliche
Missbrauchsdiskussion verstrickt.
Eine
ironische Bemerkung zum Abschluss dieses Themas: trotz aller
Orientierungsschwierigkeiten, die man dem modernen westlichen Menschen gerne
nachsagt, dürfte die gegenwärtige Sexualmoral des westlichen Kulturkreises die
freizügigste der Welt und vielleicht aller bisherigen Zeiten sein.
Im
Falle des tibetischen Lamaismus finden wir übrigens das Phänomen eines
buddhistischen Priesterkönigtums. Wenn nicht von einem „Gottesstaat“, so können
wir in diesem Fall zumindest von einem ‚Religionsstaat’ [bis 1959] sprechen.
Ob sich die Sachlage in diesem Fall von christlichem, hinduistischem oder
islamischem Gottesstaatentum günstig abhebt, entzieht sich weitgehend meiner
historischen Kenntnis. Ich vermute allerdings: nein. Es ist m. E. historisch
verständlich, dass keine der alten Religionen ein Prinzip des Laizismus, also
die Trennung von Politik und Religion enthält. Dieses Prinzip finden wir
übrigens auch nicht bei Platon und Aristoteles, da sie alle den ‚Staat’ von den
‚Staatszielen’ her nicht auf die Sphäre einer rechtlichen Harmonie des äußeren
Verhaltens beschränkten. Sie alle proklamierten Tugendstaaten, anstatt sich
auf die Proklamation von ‚Rechtsstaaten’ zu beschränken. Dass nun aber hinter
der Maske der ‚Tugend’ und ‚Religion’ Machtanmaßung und Vorteilsnahme gedeihen,
ist eine uralte Erfahrung, der man in neueren Zeiten mit Systemen der checks
and balances und Religions- und Politik-Trennung zu begegnen versucht. Diese
Maßnahmen sollte man nicht allein unter dem Gesichtspunkt beurteilen, dass
Gerechtigkeit auch ein wesentlich ethisches Motiv darstellt und die „wahre
Religion“ mit dem moralischen Normbewusstsein zusammenhängt. Wir weisen
lediglich zurück: Politpriestertum, ethischer Terror, religiös und weltanschaulich
bemäntelte Machtanmaßung.
Es
ist in diesem Falle interessant, auf die Staats-und Weltferne vieler der alten
indischen Yogis hinzuweisen. Chinesische und andere Weise der alten Zeit [auch
Platon] standen dagegen stark in Versuchung, nach dem Einfluss ihrer Weisheit
auf politische Mächte zu streben.
Der
Säkularismus des Politischen [Gegenteil: Sakralismus?] ist eine Verfahrensweise
weitgehender Trennung der religiösen und politischen Sphären im modernen
gesellschaftlichen Leben, die sich nach den bitteren Erfahrungen der
neuzeitlichen, europäischen Glaubenskriege herausgebildet hat. Neuzeitlicher
Humanismus und europäische Aufklärung haben sich in diesem Zusammenhang große
Verdienste erworben. Es ist eine Art von Gewalten- und Kompetenzteilung, die
sich hier herausgebildet hat. Staatliche Herrschaft soll sich in Religionsfragen
des Machtworts enthalten, Religionslehrer und Religionsgemeinschaften haben
allein kraft religiöser „Sach“kompetenz nicht die Kompetenz der politischen
Entscheidung. Negativ formuliert geht es um die Zurückweisung von klerikalem
Einfluss in der Politik [Laizismus des Staats]. Positiv formuliert geht es um
die Freiheit der Religionsausübung für diejenigen, die der politischen
Herrschaft unterworfen sind. Dabei kann Matthäus 22, 21 als Leitspruch für den
Kulturbereich des Christentums gelten: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist,
und Gott, was Gottes ist!“ Trotz dieses biblische Mottos kann man wohl
behaupten, dass die westlich-moderne Trennung von Staat und Kirche sich aus
verständlichen Gründen bei keiner der alten Religionen an zentraler Stelle
findet. [Mit dem Anspruch, die maßgeblichen Wahrheiten des menschlichen Lebens
erkannt zu haben, tut man sich schwer mit der Toleranz denen gegenüber, die
man auf Abwegen wähnt.] In diesem Punkt musste die Menschheit aus bitterster
geschichtlicher Erfahrung lernen, dass Religionswahrheit und moralische
Autorität die Quelle fürchterlicher, unmenschlicher Exzesse sein können, wenn
sie sich allzu unmittelbar in’s gesellschftlich-politische Leben drängen.
[Sex
und Macht, II] Kaschiertes Machtstreben wird in buddhistischer und christlicher
Tradition gleichermaßen weniger scharf abgelehnt als insgeheime Lüsternheit
und erotisch-sexuelles Interesse. Fast in aller Welt hat es sich als eine
probate Machtstrategie in Herrschaftsverhältnisses [fast aller Art]
herausgebildet, dem sexuellen Interesse ein schlechtes Gewissen zu machen.
Normalfall ist fast überall, dass sexuelle Handlungen verboten sind. Wenn sie
dann doch erlaubt sind, geschieht dies auf dem Wege von Ausnahmevorbehalten:
„Grundsätzlich verboten ..., Ausnahmen sind folgende Fälle: ...“. In diesem
Punkt stehen Hinduismus und Buddhismus dem Christentum in nichts nach.
Die
überlieferten ethischen Traditionen sind individualethisch ausgerichtet und
haben weit weniger als wir Heutigen Sinn für Phänomene der Macht, der
strukturellen Gewalt und strukturellen Ungerechtigkeit.
[Strukturelles
Unrecht]
Der
ethische Zweck für den einzelnen ist Verantwortung, Selbstvervollkommnung und
Hilfsbereitschaft, und insofern muss er bei sich selbst anfangen und darf die
Lösung seiner „Lebensprobleme“ nicht von der – von andern erwarteten -
Veränderung politischer Strukturen erwarten. Dies rechtfertigt die individualethische
Perspektive.
Andererseits
dürften die „strukturellen“ Gesichtspunkte des menschlichen Lebens deshalb in
alten Zeiten weniger Beachtung gefunden haben, weil das Ausmaß der
wirtschaftlichen Arbeitsteilung im damaligen Leben weniger ausgeprägt als
heute war. Viele Menschen der damaligen Zeit waren im Rahmen weitgehend
agrarischer Lebensformen in höherem Maße Selbstversorger als es der westliche
Durchschnittsbürger der heutigen Zeit ist, und die Teilnahme an einer
marktgerechten Produktion in einem vielleicht weltweiten Konkurrenzkampf
spielte nicht die Rolle für die Befriedigung individueller Bedürfnisse, wie wir
es heute kennen. Man kann sagen: Muster und Ausmaß der „Vergesellschaftung“
haben sich gewandelt.
Darüber
hinaus gibt es psychologische Gründe individualethische Gesichtspunkte in ihrer
Bedeutung für das einzelne Leben in den Vordergrund zu setzen:
„personalisierte“ Sichtweisen liegen uns näher als „strukturelle“.
Zu
übersehen ist die Relevanz der „Strukturen“ und der von Menschen zu verantwortenden
Systeme für die Sittlichkeitslehre des Buddhismus keinesfalls. „Rechter Lebenserwerb“
ist ein Gesichtspunkt des achtfachen Pfades.
Wir
erwerben unseren Lebensunterhalt durch Teilnahme an einem hierarchisch
gegliederten System historisch gewordener, gesellschaftlicher Arbeitsteilung.
Die Üblichkeiten und Verfahrensweisen bei dieser Art von Lebensfristung durch
Teilnahme an einem unübersichtlichen, gesellschaftlichen Prozess beinhalten
die Erzeugung und Reproduktion von strukturellem Unrecht, Benachteiligungen
von Gruppen bis hin zur gesellschaftlichen Ausgrenzung. Dies steht nicht im
Einklang mit der moralisch-ethischen Forderung, nach der Einwilligung,
zumindest der prinzipiell möglichen, der Betroffenen zu fragen. Die
gesellschaftliche conditio humana ist der faktische Widerstreit der
Verhältnisse gegenüber einer zumindest prinzipiellen Harmonie und Einheit
unterschiedlicher Interessen. Dies gilt z. B. für den so genannten
Nord-Süd-Konflikt, aber das Phänomen tritt m. E. innerhalb einer jeden
Gesellschaft auf, die weitgehend auf Arbeitsteilung beruht und für einzelne
Gruppen dennoch eine weitgehende Ungleichheit der Lebenschancen akzeptiert.
Dass es dabei vornehmlich die „Leistung“ ist, „die sich lohnen muss“, ist m. E.
der Kinderglaube, dass es in der Welt nach persönlich zurechenbarem Verdienst
zuginge. Oft sind es gerade schwere und unangenehme Arbeiten, auch z. B.
pflegende Dienste an kranken Menschen, die mit minderer Bezahlung und
schlechten Aufstiegschancen vergolten werden.
Kant sagt in einer seiner verklausulierten Satzkonstruktionen: durch die Ungleichheit der Menschen in der bürgerlichen Verfassung genießt man Vorteile, um deren Willen andere desto mehr entbehren müssen. [K.d.p.V., S. 276 Anm.]. „Man darf nur ein wenig nachsinnen, man wird immer eine Schuld finden, die er sich in Ansehung des Menschengeschlechts aufgeladen hat.“ – Insofern besteht die buddhistische Forderung nach rechtem Lebenserwerb geradezu in einem gesellschaftlich utopischen Ansinnen, das von normalen Menschen kaum zu erfüllen ist. Was hätten wir, wenn unsere Lebensform tatsächlich darin bestünde, nichts zu nehmen, was uns nicht freiwillig, und dies im Weltmaßstab, zugestanden wird? – Es bleibt uns nur zu versuchen, Verhältnissen näher zu kommen, in denen das Leben der einen nicht zu Lasten anderer geht. Es wäre wahrscheinlich nicht „realistisch“, anzunehmen, dass uns eine grundlegende Verbesserung innerhalb von nur wenigen Generationen gelingen könnte. Also sollten wir zumindest versuchen, kein besondere Schuld durch die Schädigung anderer auf uns zu laden und letztendlich auf die Nicht-Wiedergeburt in dieser unseligen Daseinsrunde hoffen. Im Grunde genommen kann man Nirwahn, das Erlöstsein vom unheilsamen Drang, als ein Paradies mit Bilderverbot auffassen. Ex negativo gedachte Transzendenz.
Ein
Paradies jenseits der menschlichen Wirklichkeit, wie wir sie kennen, ist etwas
lediglich Denkbares, ein „visualisiertes“, bebildertes Nirwahn. Nirwahn ist ein
[das?] Paradies unter dem Verdikt des Bilderverbits.
„Nirwahn“
hat gegenüber „Paradies“ den Vorteil, dass es sich wie von selbst gegen eine
politisch säkulare Variante sperrt.
[Interdependenz]
Insgesamt
liegt eine „interdependente“ Sichtweise des menschlichen Lebens den fernöstlichen
Traditionen sehr nahe. Sie betonen den herakliteischen Fluss der Geschehnisse,
bevorzugen in vielen Fällen prozessorientierte im Gegensatz zu
„substanzorientierten“ Auffassungen.
„Seiend“
wird gleichgesetzt mit: „in Abhängigkeit von der Vereinigung der Bedingungen
Entstandenem.“ Beispiel: „Durch Auge und Sehobjekt bedingt [paticca] entsteht
das Sehbewusstsein.“
Sehr
treffend hat der Amerikaner Alan Watts den Gedanken des interdependenten Geschehens,
der nicht spezifisch buddhistisch ist, ausgedrückt: „Was wir tun, ist das, was
das gesamte Universum an dem Ort, den wir ‚hier und jetzt’ nennen, tut, ebenso
wie eine Welle etwas ist, was das gesamte Meer am betreffenden Ort tut.“ [Das
Tao der Philosophie] Es ist allerdings zu beachten, dass trotz der endlos bedingten
Existenz alles subjektiven und objektiven Geschehens für das menschliche
Bewusstsein eine Fähigkeit des Sich-zu-eigen-machens, des Anhaftens,
Festhaltens Ziehen- und Versiegenlassens von Geistesinhalten angenommen wird.
Ich vermute, dass wir an dieser Stelle zumindest an der Denkbarkeit eines
noumenalen Etwas festhalten dürfen, dass wir also diese Position zumindest
offen lassen müssen und nicht sagen sollten, eine hyperphysische und
hyperpsychische Wirklichkeit sei bereits aus Gründen der Denkbarkeit
ausgeschlossen. Einen Dogmatismus des spirituellen Seins benötigen wir dagegen
vermutlich nicht. Es hilft uns sozusagen nicht viel, wenn wir uns dazu
überreden wollten, über etwas Bescheid wissen zu können, was wir nicht wirklich
wissen können.
[buddhistische
Egellehre]
Geheimnisvoll
funkelnd, aber sehr ansprechend in diesem Zusammenhang, eine Formulierung des
gegenwärtigen Dalai Lama, Tenzin Gyarso: „Die Buddhas dämmern aus der
Noumenon-Sphäre der Leerheit herauf.“ Ich rezipiere und interpretiere diese Redeweise
wie folgt: ein [der?] Buddha ist ein [das?] nicht-empirisch, transzendent
denkbare Subjekt zu einer idealen Möglichkeit menschlichen Verhaltens [z.B.
Güte und Hilfsbereitschaft. Man kann sogar sagen: das Buddhawesen ist diese
ideale Fähigkeit selbst als ein [lediglich? immerhin?] denkbares Etwas. Gibt
es dergleichen? Nicht empirisch entscheidbar. Aber da man dieses sonderbare
Etwas [bzw. empirische Nicht-Etwas] denken kann, kann man sich auch fragen, wie
es wäre, wenn sich solch ein Wesen in unserem Leben mehr und mehr realisieren
würde. Diese stufenweise Realisation wäre das genannte „Heraufdämmern“: vom
Denken her geht es zur mehr oder weniger vollkommenen psychischen Annahme bis
hin zur mehr oder weniger vollkommenen Realisation im wirklichen Verhalten.
Aus
dem Gesagten erhellt, dass es einen Sinn macht, Symbole, Figuren und Bilder als
Visualisierungen entsprechender Gedankeninhalte und „Gedankenmächte“, dabei
zunächst schlicht als gedankliche Möglichkeiten, zu entwerfen und diese
„Darstellungen“ als Mittel der Selbstbeeinflussung und der Selbstverwandlung
zu gebrauchen. Eine Kunst in diesem Sinn hätte etwas von Zauber und Verwandlung
mit einer moralisch geistigen Tendenz. Sie würde uns u. U. zum Bewusstsein des
höheren Selbst in uns stimulieren, wobei dieses höhere Selbst nichts anderes
als ein verborgenes Potential in uns darstellt, im Einklang mit dem „wahrhaft“
relevanten Normbewusstsein zu denken und handeln. [Der „wahrhafte“ Inhalt muss
ebenfalls zur Klarheit gebracht werden und ist auch etwas lediglich [immerhin?]
Potentielles.
Ich vermute, dass es sich bei dem Begriff [bzw. Begriffsversuch] „Buddhanatur“, „reines Buddhawesen“, „reine Buddhaessenz“, in der Folge auch Gedankenbildungen wie „reiner Buddhakörper“ usw., um Mahayana-Konzepte handelt. Ein fundamentum in re solcher Sprechweisen ergibt sich m. E. daraus, dass der Gedanke des nicht-empirischen Ich, bzw. des wahren Ich und gedanklichen Selbst-seins [„das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich“] für die Buddha-Lehre von entscheidender Bedeutung ist. Nehmen wir z. B. die Rede vom Loslösen und Ablösen [bezüglich der Anhaftungen]. Es ist zwar nicht so, dass hier behauptet wird, da sei etwas [Empirisches], das sich von einem anderen [Empirischen] abzulösen vermöge, z. B. der unsterbliche Atman vom sterblichen Körper und der leidvollen Wirklichkeit des bedingten Geschehens. Der nicht-empirische Singular des reinen Ich ist ‚nichts’, d. h.: es handelt sich dabei nicht um ein empirisches Etwas. Es ist reine Leerheit. Es ist auch kein metaphysisch-transzendentes Etwas, über dessen Existenz man Bescheid wissen könnte. Es ist sozusagen ein Etwas, das kein Etwas ist, kein Teil der erfassbaren Wirklichkeit. Und doch können wir nicht sagen, es sei etwas Undenkbares und in sich Widersprüchliches. Also ist es [immerhin? lediglich?] etwas Denkbares, eine Denkbarkeit. Man könnte sagen: Vom Undenkbaren können wir nicht sprechen und auch nichts denken, aber vom lediglich [immerhin?] Denkbaren durchaus. Wenn wir dem lediglich Denkbaren Wirklichkeit zuerkennen, behaupten wir mehr, als wir [gemäß unserer Raum-Zeit-Verhaftung] wissen können. Ebenso wenn wir diese Wirklichkeit rundum bestreiten. Wir müssen einfach offen lassen, wie es darum steht. Undenkbarkeit bezüglich des nicht-empirischen Ich zu behaupten, ist [logisch] falsch, Existenz oder Nicht-Existenz zu behaupten, ist zuviel behauptet, also lassen wir offen, wie es darum steht. Aber gedacht wird dabei an das Phänomen der empirischen Leerheit, der reinen Form des Bewusstseins.
Wir vermögen über wirklich Bestehendes hinaus zu denken und haben es insofern mit Denkbarkeiten zu tun. Und dies gilt in besonderem Maß für den Gedanken des wahren Ich. – Nimmt man den Gedanken des „eigentlichen“ Sollens [d. i. Ethik, Moral] hinzu, haben wir ein weiteres Beispiel, wie unser Denken die tatsächlich vorgefundene Wirklichkeit überfliegt.
[Dämonen]
Der
aufgeklärte Buddhist glaubt an Dämonen im übertragenen Sinn, der abergläubige
Buddhist an Dämonen mit buchstäblicher Existenz. Ein typischer Dämon wäre z.
B. ein psychischer Wiederholungszwang, dem wir unterliegen, indem wir etwas
wiederholen, was uns in selbstverschuldete Not bringt. So sagt man vom Trank
der Hölle, dass er um so mehr durstig macht. Dies steht stellvertretend für
alle Sucht. Die Faszination für Verhaltensweisen, die uns nicht bekommen, weil
sie im Widerspruch zum höheren Selbst stehen, ist das Dämonische. Auch die
Begeisterung und das Streben nach Dingen, die aller Erfahrung gemäß zu Unruhe,
Ungleichgewicht und schwer beherrschbaren Gefühlesreaktionen führen: Spiel,
Machtkämpfe, Gewalt, Provokationen, Kontrollzwänge usw.. Man könnte sagen,
Dämon sei ein geistig, psychisches Zwischenwesen mit unheilsam motivierender
Kraft, das uns im Endeffekt an leidvollen Daseinsbedingungen festhält und uns
keinen Ausweg sehen lässt, wo vielleicht doch einer ist.
[Evolution
und Bewusstsein] Der Geist arbeitet sich nach und nach aus der Natur und aus
der Gesellschaft empor zum Bewusstsein seiner selbst. Es gibt pflanzliche und
tierische Vorformen des Bewusstseins, aber genau genommen ist Bewusstsein ein
spezifisch menschliches Phänomen. Das Tier hat Empfindungen, Wahrnehmungen,
Affekte und Emotionen, aber kein Wahrnehmungsbewusstsein. Wir können nicht
wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein, erstens weil wir einen anderen
Wahrnehmungsapparat besitzen und zweitens, weil die Fledermaus aller Mutmaßung
gemäß kein sprachlich und begrifflich strukturiertes Bewusstsein ihrer selbst
auszubilden vermag. – Die höchste Ziel des menschlichen Bewusstseins ist die
Erkenntnis des selbst geschaffenen Leids sowie die Distanzierung von den
Gepflogenheiten dieser unheilsträchtigen Daseinsrunde. – Der Buddha glaubt,
analog Jesus Christus, die Wirklichkeit von Not, Krankheit und Tod überwinden
zu können. – Unerlöst und ohne den circulus vitiosus selbstverschuldeter Nöte
überwunden zu haben, kann dieser Daseinrunde niemand entkommen.
Die
Welt, in der wir so leben, wie wir es wirklich tun, - im Gegensatz zu einer
Welt, in der leben würden, wenn wir in Harmonie mit unserem höheren, inneren
Ich leben würden -, ist Samsara, eine Wirklichkeit der Unbeständigkeit und des
Ungenügens, eine Welt trügerischer Glückserwartung.
[Platon]
Es
ist der Erinnerung wert, dass auch Platon [Phaidon] gelehrt hat, dass der geistige
[„denkende“] Teil der menschlichen Seele ein Fremdes hier auf Erden sei. Die
Seele, von Lust und Schmerz gefesselt an den Körper, versichert sich in
geeigneten philosophischen Reflexionen ihrer höheren, „unsichtbaren“ Art und
strebt aus dem Gefängnis ihrer schlechten Wirklichkeit heraus. Auch hier wird
die Selbstverwirklichung der menschlichen Seele als „Exkarnation“ gedacht.
Mit
folgender Passage kommt Platon dem Karma-Gedanken sehr nahe: „Wenn der Tod eine
Trennung von allem wäre, so wäre es ein Gewinn für die Schlechten, wenn sie
sterben, ihren Leib loszuwerden, aber auch ihre Schlechtigkeit zugleich mit der
Seele. So aber, da sie sich als unsterblich erweist, kann es ja für sie keinen
anderen Schutz vor dem Übel und keine andere Rettung geben als das Streben, so
gut und vernünftig wie möglich zu werden.“ Man kann also sagen: Es geht um die
Gültigkeit der Goldenen Regel auch für den Fall, dass man nicht damit rechnen
zu müssen glaubt, noch in diesem Leben ausgleichende Gerechtigkeit erfahren zu
müssen. – Ich weise damit erneut darauf hin, dass ich den zunächst so exotisch
anmutenden Karma-Gedanken für eine spezielle Ausformung eines allgemein
menschlichen Gedankenmotivs der ausgleichenden Gerechtigkeit [trotz des
Bewusstseins z. B. der unentrinnbaren Vergänglichkeit dieses Lebens] halte.
Die
Frage des moralisch verantwortbaren Verhaltens wird hier in Verbindung gebracht
mit einer Art metaphysischer Sicherheit und Zuversicht.
Platon
propagiert das philosophische Gespräch in einer unverkrampften freundschaftlichen
Atmosphäre als hauptsächliches Mittel, um der höheren Natur der denkenden Seele
bewusst zu werden. - In der indischen Tradition finden wir darüber hinaus die
Hochschätzung des Yoga und der Meditation.
Man
kann sagen, dass das zunächst so schlichte Motiv der Goldenen Regel, ein
Gedanke des „leben und leben lassen“, ein Gedanke ist, der über die conditio
humana, wie sie tatsächlich ist, hinausweist. Ein „utopischer“ Gehalt, tief
versenkt im alltäglichen Denken der meisten. Er ruft, sich ausweitend und mehr
und mehr bei Lichte betrachtet, eine Spannung hervor, die sich letztlich, oder
jedenfalls von Zeit zu Zeit, in einem mystischen Erlösungsgedanken aufzulösen
versucht.
[Dogmatische
Sittenstrenge]
Führt
uns die Moral der goldenen Regel zwangsläufig in eine starr dogmatische
Sittenstrenge?
Die
Anerkennung der Goldenen Regel als einzigem „überhistorischem“ Inhalt
menschlichen Moralbewusstseins führt uns nicht, wie vielleicht mancher denkt,
in einen starren, moralischen Dogmatismus. Es bleiben nämlich eine Menge
offener, nicht endgültig abzuklärender Fragen, wie sie für fast alle
menschlichen Fragen in ihrem komplexen Miteinander unterschiedlicher Aspekte
charakteristisch sind. In der Frage der Analyse [Zergliederung] gegebener
Situationen gibt es oft unterschiedliche Aspekte und unterschiedliche
Akzentuierungen von „wichtig“ und „unwichtig“, sowie unterschiedliche
Auffassungen über den wirklich anzuerkennenden Gehalt der einschlägigen und
zu applizierenden Norm[en]. Darüber hinaus können Meinungsunterschiede
bestehen, welche Verhaltensnormen mit der allgemeinen Norm der gleichen
wechselseitigen Freiheit harmonieren und welche nicht. Ein Feld der Kasuistiken
verschiedener Art bleibt also auch bei der Annahme der Existenz einer überhistorischen,
allgemeinen Norm des "eigentlichen" Sollens unvermeidlich.
Dazu
ein Beispiel, das sogar eine besonders fundamentale Norm betrifft: "Du
sollst nicht töten!" Es ist klar, dass ein Tötungsverbot, zumindest in
Bezug auf meine Mitmenschen, aus der Anerkennung der gleichen Freiheit aller
folgt. Diese gleiche Freiheit ist eine „lediglich“ [immerhin?] prinzipielle
Forderung. Also ist die Tötung eines anderen unter „normalen“ Bedingungen ein
„absolutes“ Tabu, das mit dem Anspruch einer „eigentlichen“, überhistorischen
Moral [mit „echten“ Verbindlichkeiten] zusammen hängt. Was aber sind „normale“
Bedingungen? Und wie ist es in Situationen der Notwehr und des Krieges? – Hier
verlässt uns vielleicht bereits die allgemeine Evidenz des absoluten Sollens.
Weitere
Fragen: Ist das aus der absoluten Sollensnorm begründete Tötunsverbot
notwendiger Weise gleichbedeutend mit einem Vernutzungsverbot menschlicher
Embryonen? Ist Abtreibung mit Mord gleichzusetzen? Diese Fragen sind äußerst
verwickelt. Eine behauptete absolute Evidenz bezüglich des Gebots der
prinzipiell gleichen Freiheit aller, der wechselseitigen Begrenzung von
Freiheitsspielräumen mit dem Ziel ihrer prinzipiellen Harmonisierung, ändert
nichts an der Tatsache, dass wir in der Praxis sehr oft vor schwer
beurteilbaren, mehrdeutigen Situationen stehen.
Eine
weitere Frage zum Tötungsverbot: Wie definiert sich der Kreis der Lebewesen,
deren Lebensrecht absolut tubu sein muss? Ist die Einschränkung auf Menschen
überhaupt berechtigt? Darf man Tiere, also der Empfindung fähige Lebewesen,
schlachten und "vernutzen"? Oder ist es vielleicht gerade so schlimm,
ein gesundes, lebensfähiges Tier zu töten wie einen erwachsenen Menschen?
Begriffliche
Unschärfen in Fragen der Auffassung gegebener, menschlicher Situationen,
Handlungsweisen und Handlungsvorhaben sind m. E. kein Problem dieser oder jener
moralischen Tradition oder dieser oder jener Moralphilosophie. Diese Probleme
sind unvermeidlich und existieren überall. Es ist mit dem Evidenzanspruch der
absoluten Sollensnorm vereinbar, dass es in der Anwendung des moralischen
Urteilsprinzips viele unentscheidbare, bzw. nicht endgültig entscheidbare
Situationen gibt. So nehme ich z. B. die Gültigkeit des Tötungsverbots an und
bin mir dennoch nicht für alle Situationen darüber im Klaren, welche Verhaltensweisen
diesem Gebot genügen und welche nicht. In manchen Fällen ist es mir völlig
klar, in anderen Fällen dagegen lassen mich "Evidenz" bzw.
"Intuition" im Stich.
Ebenso
sind Fragen der Verhältnismäßigkeit [in der Vergeltung] und der eindeutigen
Abgrenzung sehr oft verwirrend und schwer entscheidbar.
Ganz
am Rande: Die Vorstellung des Guten, bzw. die Vorstellung von moralischem
Gebotensein, von Verbotensein und Erlaubtsein, reicht nicht aus, um uns im
Streitfall wechselseitig Verbindlichkeiten auf zu erlegen. Dieser Gedanke führt
zu Fragen der Befugnis zu Jurisdiktion und Rechtsdurchsetzung, also in die
Philosophie des Staatsrechts, der öffentlichen Macht und im Ansatz auch der von
Menschen zu institutionalisierenden Formen der Konfliktbehandlung.
Aus
diesen Gründen finden wir in der historischen Entwicklung die
Ausdifferenzierung und Institutionalisierung von Regelsystemen für das
menschliche Verhalten. Selbst Regeln für das Finden von Regeln und Entscheidungskompetenzen
haben sich im alltäglichen Mit- und Gegeneinander historisch und
gesellschaftlich herausgebildet, teilweise im Laufe von Jahrhunderten.Dabei
ist es übrigens nicht so, dass bestimmte Standpunkte, z. B. in der Abgrenzung
des Öffentlichen vom Privaten, des Religiösen vom Politischen usw. usw. ein für
alle Mal in einer festbestimmten Weise gesichert werden können. Z. B. als
Standard, hinter den niemand zurück kann. Man fällt sehr oft leider hinter
bereits erreichte Positionen zurück, wie die Geschichte der humanitären
Standards für den Krieg lehren.
Man
kann in der historisch-gesellschaftlichen Praxis in hegelianischer Weise [mit
Einschränkungen] den Weg der sich selbst suchenden Vernunft sehen. Die
"Methode" dieser Vernunft ist dabei eine sonderbare Art der Suche
nach sich selbst, zum Teil am Rand der Selbstzerstörung. – Man ist vernünftig,
indem man nach dem Vernünftigen sucht und nicht, indem man glaubt, im Besitz
der Vernunft zu sein. - Tatsächlich aber gibt es im Kräftespiel vieler Interessen
und Daseinsmächte moralische und weniger moralische Antriebe vielfältiger Art
zugleich.
[Pessimismus]
Ist
die Buddha-Lehre ein Pessimismus? – Das kommt darauf an, wie man den ‚Begriff’
bzw. ‚Begriffsversuch’ „Pessimismus“ aufnimmt.
Die
menschliche Situation ist der Buddha-Lehre zufolge eine Situation des
Ungenügens. Dieses Ungenügen reicht von Formen schwerer Not bis hin zu
subtilem Ungenügen des Denkens und Empfindens.
Diese
Situation wird nun in der Wahrheit von den Leidensursachen als eine Situation
selbstverschuldeten Ungenügens begriffen. Wenn man also sagt, Pessimismus sei
die Lehre, dass die menschliche Wirklichkeit als Folge bzw. „Erscheinungsform“
menschlicher Schuld zu begreifen ist, dann sind Buddha-Lehre, Juden- und
Christentum gleichermaßen pessimistisch. Die Welt, so wie sie ist, wird in
einigen ihrer wesentlichen Aspekte als nicht wünschenswert aufgefasst.
Wenn
man allerdings hinzusetzt, dass es ein anderer, ebenso wesentlicher Aspekt der
Buddha-Lehre ist, dass es einen Ausweg aus der selbstverschuldeten Misère gibt,
der letztlich sogar in der Überwindung der leidvollen Formen menschlichen
Lebens besteht, dann ist die Buddha-Lehre [ebenso wie Juden- und Christentum]
als optimistisch anzusehen.
Die
Wirklichkeit, wie sie ist, wird negativ beurteilt, als der höheren Natur des
inneren Selbst unangemessen. Diese innere Natur wird als wahre Natur des
menschlichen Wesens behauptet, als inneres Buddha-Wesen, wahres Selbst,
Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen usw.. In der menschlichen Wirklichkeit, wie
sie ist, liegt dieses Wesen bis zur
Unkenntlichkeit entstellt, gefangen in kurzfristigem Nützlichkeitsdenken,
schlechten Angewohnheiten, Gier und Hass.
Der
Religionsinhalt ist geradezu utopisch, indem er die Überwindung von alle diesen
Situationen, ja sogar von Krankheit und Tod in einer völlig anderen, dem
höheren Selbst angemessenen Wirklichkeit lehrt.
Vergessen
sollte man bei alle dem nicht, dass es die Moral der Goldenen Regel ist, von
der die Überwindung der selbst geschaffenen Not erwartet wird. Diese ist ihrem
Anspruch nach eine Regel der Konfliktbewältigung in der menschlichen Welt, wie
sie tatsächlich ist. Nicht lediglich eine Verfahrensregel für Heilige, die
bereits im Himmel sind oder Gier-, Hass- und Verblendungslosigkeit bereits verwirklicht
haben.
[Religionsdogmatismus]
Ist
der Buddhismus weniger dogmatisch als das Christentum? – Der Natur dieser Frage
nach lässt sich keine eindeutige Antwort geben. Was ist der wesentliche Gehalt
des Buddhismus und des Christentums? Was die jeweils reine Lehre? Gibt es
hinreichend präzise Begriffe des jeweils Wesentlichen? Und ist z. B. das
Christentum seinem inneren Wesen nach dogmatisch. Und was ist ‚dogmatisch’? Ist
jeder Versuch, wesentliche „Lehrinhalte“ von Beiwerk zu unterscheiden, bereits
‚Dogmatismus’? Unter verschiedenen Voraussetzungen, die selbst bereits in
weitläufige Diskussionen münden, könnte man die Frage beantworten..
Tatsächlich,
also historisch real, hat es Dogmatismus in Christentum und Buddhismus gegeben.
Das bedeutet, dass man von Dingen gesprochen hat, von denen Menschen überhaupt
nichts wissen können. Und es bedeutet, dass man bloße Denkbarkeiten
transzendenter Art für erfahrbare Realitäten gehalten hat. Aber es ist nicht
entscheidbar, inwiefern solche Standpunkte für Christus und Buddha wesentlich
gewesen sind. Besonders der Buddha selbst gibt in dieser Hinsicht ein
aufgeklärtes Bild: Misstraut er doch den gedanklichen Spekulationen und sagt:
Worauf es ihm hauptsächlich ankommt, ist die Selbsterfahrung und Selbsttätigkeit
in Fragen der Leiderlösung, Bloß gedankliche Auseinanderetzungen möchte er
[weitgehend?] auf sich beruhen lassen. Wir treffen hier also auf eine Art von
Weltanschauungs- und Wissbarkeitsskepsis innerhalb der ‚Lehre’ selbst.
Auch
für Jesus Christus ist der antiklerikale Affekt als Kritik am sog.
‚Pharisäertum’ bekannt und ein Gehalt der ‚Lehre’ selbst. Dennoch ist auch hier
die Beschränkung der Religionsinhalte auf rein Ethisches unbefriedigend. Ich
denke, man kanne zugeben, dass es eine besondere Art von Folgepositionen der
Ethik gibt, mit denen der Mensch das Feld empirischer Einzelaussagen weit
überfliegt. Diese Fragen betreffen seine Stellung im Gesamtbereich des
Denkbaren, vom dem das eigentlich empirisch Fundierte nur ein Teilbereich
darstellt.
Andererseits
sollte man nicht übersehen, dass sich eine mehr und mehr umfassende Religionslehre
fast wie von selbst ergibt, wenn man erst einmal damit angefangen hat. Geht es
doch um sehr allgemeine und dabei grundsätzliche Standpunkte, die Stellung des
Menschen im Gesamtbereich des Wirklichen mit Denkbarkeiten, Diesseits und
Jenseits, dann auch subjektivem und objektivem Dasein [als Teilbereich des
Denkbaren überhaupt] usw.. Insofern haben die Versuche und Tendenzen zur
Ausformulierung und Dogmatisierung der ‚reinen Lehre’ ein Fundament in der
Suche und sind nicht lediglich der persönlichen Rechthaberei irgendwelcher
Religionseliten zuzurechnen.
Es
ist m. E. angebracht, trotz berechtigter Dogmatisierungsvorhaben in den
religiösen Traditionen die Gefahr des „Wissensdünkels“ nicht zu
vernachlässigen. So sagt uns Goethe in der Studienberatung des Faust über die
Theologie:
„Es
ist so schwer, den falschen Weg zu meiden,
es
liegt in ihr so viel verborgnes Gift,
und
von der Arzenei ist’s kaum zu unterscheiden.“ [Faust I, 1985 ff.]
Das
gilt m. E. auch für den Buddhismus, sowie vielleicht für jeder Vorhaben, eine
allgemeine Wahrheit religiöser oder weltanschaulicher Art zu entwickeln. Der
Buddha beruft sich zwar in vielen Fällen auf die alltägliche Erfahrung des Menschen
mit sich selbst, - ganz besonders auf die Erfahrung des meditativ bemeisterten
Geistes, - aber es ist nicht zu übersehen, dass es auch ihm darum gehen muss,
zumindest in einigen Fällen, Wahrheiten über den Gesamtcharakter der
menschlichen Realität aufzustellen. Insofern ist es nicht Missverständnis oder
Zufall, wenn sich bei den Versuchen der Rezeption einer solchen Lehre
Dogmatisierungsvorhaben herausbilden und Endlosdiskussionen entstehen. Eine
Wahrheit allgemeiner, endgültiger und unmissverständlicher Art gibt es nicht.
Vielleicht kann es eine solche Wahrheit nicht einmal geben, in einem vielleicht
zu präzisierenden Sinn von „geben können“. Vielleicht aber gibt es sie doch in
eingeschränkter, mehr oder weniger vollkommener Weise.
Der Buddha schätzt seine Lehre nicht um ihrer selbst
willen, sondern als Mittel zum Zweck. Schwächung der unheilsamen Wurzeln und
Leiderlösung ist das Ziel. Sein Gleichnis vom Floß, das zum Hinüberkommen, aber
nicht zum Aufbewahren gebaut wurde, veranschaulicht diesen Sachverhalt. Der
Erlöste wird ohne Bedürfnis sein, über die wahre Lehre zu streiten. Insofern
beinhaltet diese Lehre sonderbarer Weise eine Relativierung ihrer selbst. –
Andererseits beinhaltet diese Lehre einen Erkenntnisanspruch über die Stellung
des Menschen im Gesamtbereich des Denkbaren und Wirklichen überhaupt. Ohne das
Erwachen zur Wissensklarheit [in maßgeblichen Dingen] erscheint die
Leiderlösung nicht denkbar.
[Selbstdenken]
„Ganz recht, dass ihr zweifelt; in einem solchen Fall muss man zweifeln. Richtet euch nicht nach Hörensagen, nicht nach einer Überlieferung, nicht nach einer bloßen Behauptung, nicht nach Mitteilung heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Deduktionen, nicht nach äußeren Erwägungen, nicht nach der Übereinstimmung mit euren Ansichten und Grübeleien, nicht nach dem Scheine der Wirklichkeit, denkt nicht: ‚Der Shramana ist unser Lehrer [darum wollen wir ihm glauben]‘; sondern wenn ihr selbst erkennt, dass diese oder jene Dinge schlecht und verwerflich sind, von Verständigen getadelt und, ausgeführt oder begonnen, zum Unheil und Leiden führen, so sollt ihr sie verwerfen.“ [Anguttara Nikaya III, 65]
Wir finden in der Buddha-Lehre keine Berufung auf
göttliche Offenbarung oder übermenschliche Inspiration, die man als
Erkenntnisquelle haben müsste, um den Wahrheitsgehalt seiner Lehre
nachzuvollziehen. Der alltägliche Mensch mit seinen alltäglichen
Erkenntnisfähigkeiten, einschließlich der Fähigkeiten des
Wahrnehmungsbewusstseins und des subjektiven Innewerdens von Denkinhalten, ist
Adressat der Lehre. Es wird ihm nicht zugemutet, mit fremden Augen besser zu
sehen als mit den eigenen. Allerdings wird behauptet, dass der meditativ geübte
Geist die Wirklichkeit klarer zu sehen vermag als der ungeübte. Die Beruhigung
und Besänftigung des Geistes gilt als unentbehrliches Mittel der Beseitigung
von Erkenntnishindernissen. Er rät uns, vor allem, unseren Geist zu
besänftigen, „Anhaftungen“ abzubauen, um so nach und nach die Fähigkeit der
Selbststeuerung zu kultivieren.
Der Buddha sagt im Grunde genommen: „Folge nicht mir
und meinen Worten, folge Die selbst!“ Hier liegt der
Gedanke nahe, es handele sich um einen paradoxe Aufforderung. Macht es Sinn,
jemanden aufzufordern, frei und unabhängig zu denken oder zu handeln? – Ich
schlage folgendes vor: Der Buddha hat Texte verfasst, bzw. Worte gesprochen,
welche [in einigen Fällen] gewisse Anregungsqualitäten besitzen. Man wird zum
Bewusstsein über verschiedene Dinge angeregt, man findet sich wieder in seinem
allgemeinen und grundsätzlichen Bild der menschlichen Dinge. Man bleibt aber
frei dazu, dies sogar auf unaufgebbare Weise, sich irgendwelche herangetragenen
oder aufgefassten Ansichten in diesem oder jenem Punkt zueigen zu machen oder
nicht. In diesem Sinn war der Buddha Existenzialist. Wenn jemand glaubt, etwas
nicht wissen zu können, zumal in nicht-empirischen, metaphysischen Fragen, wird
ihm dies nicht als selbstverschuldetes Unwissen angelastet. Er wird allerdings
an sich selbst und seine Fähigkeiten der Denk- und Verhaltensübung zurück
verwiesen.
Es ist ein sympathischer Zug der
Buddha-Lehre, dass sie den einzelnen selbst ein freies Urteil darüber fällen
lassen will, welches Für-wahr-halten er gelten lassen möchte und welche Art von
Übung er zu seiner Erlösung für zweckdienlich erachtet, falls er überhaupt
erlöst sein möchte. Glaubens- und Übungspflichten sind mit diesem Gedanken
nicht zu vereinbaren. Ich wage allerdings nicht zu behaupten, dass all
diejenigen, die in der Buddha-Lehre Zuflucht suchen bzw. gesucht haben,
durchweg diesen hohen Anspruch einhalten können. – Wer „nicht glauben kann“,
bzw. wem manches an der Lehre übertrieben und abgehoben erscheint, der hat
allein deshalb nichts zu befürchten. Der Buddha sagt allerdings: „Ihr habt zu
befürchten, dass euch angetan wird, was ihr andern tut.“ Und er glaubt einen
Weg zu kennen, wie man aus dem circulus vitiosus herauskommt.
Ist die Buddha-Lehre eine areligiöse, atheistische
Morallehre? – Ein dogmatischer Atheismus muss wohl als Übertreibung
zurückgewiesen werden. Der Standpunkt ist eher als Agnostizismus in
metaphysischen Fragen aufzufassen. Dabei ist die Offenheit und
Unentscheidbarkeit in metaphysischen Angelegenheiten festzuhalten. Würde man
dazu übergehen, sogar die bloße Denkbarkeit nicht-empirisch transzendenter
Sachverhalte zu bestreiten, entfiele die Distanzierungsmöglichkeit gegenüber
unseren Denkinhalten und Willensimpulsen. Auch die Distanzierungsmöglichkeit
gegenüber unserem individuellen Dasein. Sogar gemäß der Denkbarkeit allein. –
Nirwahn, die Stille des Geistes, würde damit zur Undenkbarkeit, also zum
hölzernen Eisen.
Der Gedanke der Drangversiegung und Leiderlösung ist
deutlich vom Gedanken des wahren Ich her inspiriert.
Um
ein Koan zu verfassen: Wir werden erlöst sein, wenn es uns nicht mehr gibt.
Der Erlösungsbegriff fällt weitgehend zusammen mit dem Begriff der Befreiung, der Begriff der Befreiung mit dem der Überwindung. Man kann fragen: „Wer oder was kann befreit werden?“ – Man kann fragen: „frei wovon?“ Man kann fragen: „frei wozu?“ – Der Buddha strebt also nach völliger Leidfreiheit, völliger Drangerlöschung, nach radikaler Erlösung von jeglicher leidvoller Wirklichkeit, welches er gleichsetzt mit der Erlösung von der Wirklichkeit überhaupt.
In der Sutta vom „Lohn der Büßerschaft“ [Digha Nikaya 2] heißt es:
„So löst sich ihm der Geist vom Sinnlichkeitstrieb,
löst sich ihm der Geist vom Werdetrieb,
löst sich ihm der Geist vom Verblendungstrieb.
Im Befreiten ist das Wissen vom Befreitsein.
‚Vernichtet ist Geburt, ausgelebt ist das Reinheitsleben, vollbracht die Aufgabe;
nichts weiteres nach diesem hier’ erkennt er.“
Das höchste und letzte Ziel: Daseinsbefreiung als Befreiung vom Dasein, Nicht-wiederkehr, Loslösung und ein wirkliches Ende „von alle dem“, was unser wahres Ich nicht ist.
[Metatheologisches]
Wir
haben in Religions-Sachen gleichzeitig mit mehrerlei zu rechnen: Streben nach
dogmatischer Verfestigung und Streben nach lebendiger Erfahrung und Einsicht
zugleich. Der erste Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Anspruch auf weltanschauliche
Wahrheit. Sie betrifft die Stellung des Menschen im Gesamtbereich der
Denkbarkeiten und der Wirklichkeit, verallgemeinert und überfliegt empirische
Einzelbefunde aus verschiedenen Bereichen auf ein Gesamtbild hin. Die Tendenz
zu einer verfestigten Form der Formulierung ergibt sich auch daraus, dass die
erhobenen Wahrheitsansprüche möglichst unangreifbar und unmissverständlich sein
sollen, was selbst schon eine kaum lösbare Aufgabe darstellt. Der
Religionsinhalt soll in Anknüpfung an alltägliche Denkinhalte ohne allzu viel
Fachjargon formuliert werden, dabei möglichst unangreifbar und
unmissverständlich sein. Er soll den Laien ansprechen und der beurteilenden
Reflexion schriftgelehrter Kreise zugleich standhalten.
Der
zweite Gesichtspunkt ergibt sich aus dem Anspruch, eine den einzelnen Menschen
betreffende, „existentielle Angelegenheit“ [ebenfalls mit Wahrheitsansprüchen
versehen!] zu sein, kein „toter Hausrat“ [Fichte] und „Formelkram“, sondern
lebendiges Denken, echte Einsicht und übergreifende Klarsicht zugleich.
Tatsächlich beeinträchtigen sich die verschiedenen Tendenzen wechselseitig in
vielen Fällen. Eine integrative Einheit gelingt dennoch in Einzelfällen und
führt dann [ähnlich wie in der ästhetischen Produktion] zur gelungenen Einheit
von Denken und Erleben. Bezüglich eines Themas wie: „die Stellung des Menschen
im Kosmos.“
[Hermeneutisches]
Man
spricht von Deutung und Missdeutung, von Verständnis und Missverständnis [z. B.
in Bezug auf geäußerte Ansichten], und insofern ergeben sich Reflexionen auf
„die hermeneutische Situation“, in der wir uns [fremden Gedankenäußerungen
gegenüber] befinden. Es handelt sich um Reflexionen auf die Situation des
Verstehens und auf das, was da zu verstehen ist. Insofern auch auf die Situation
gegebener Verstehensmöglichkeiten.
Das
Verstehensproblem bezüglich einer alten Religionslehre resultiert nicht allein
aus der Schwierigkeit, sozio-kulturelle Distanz[en] zu überbrücken. Als ein
zusätzliches Problem ergibt sich die Frage, wie wir es rechtfertigen, aus der
überbordenden Fülle der Materialien. Überlieferungen und Überlieferungslinien
„essentielle Gehalte“ [der „eigentlichen Lehre“] herauszustellen. Diese
Gehalte, wenn es sie gibt, sind das Einheitliche in ansonsten unterscheidbaren
Materialien, also, wenn man so sagen will: „Identisches in Nicht-Identischem“,
Wieder-zu-findendes in ansonsten mehr oder weniger verschiedenen Gegebenheiten.
Es geht darum, das Wesentliche und das Wichtige der „eigentlichen Lehre“ zu
erkennen, um sagen zu können, „worauf es dabei ankommt.“ Dies wiederum, um z.
B. das Zeitgebundene gegebener Texte vom überzeitlich Gültigen zu unterscheiden.
Überhistorische Wahrheitsansprüche entwachsen einem sozio-kulturellen Boden.
Dieser Boden ist eine historisch-gesellschaftliche Situation, wobei wir von
den entsprechenden sozio-kulturellen Fakten wahrscheinlich weniger wissen,
als uns nützlich wäre.
Zum
andern besteht die Schwierigkeit der Auffassung formulierter
Weltanschauungs-Gedanken darin, dass es sich nicht um experimentell und
beobachtungsmäßig isolierbare Einzelbefunde handelt, die es wahrzunehmen gilt,
sondern um umfassende Denkansätze mit weitläufigen Gründen und Hintergründen,
bei denen an verschiedenen Punkten sehr viele Fäden zusammen laufen.
Eine
Religionslehre ist keine empirische Einzelwissenschaft, die sich z. B. um die
Verbesserung experimenteller Arrangements bemüht, um zu experimentell
reproduzierbaren Situationsabläufen und belastbaren Einzelbefunden zu
gelangen. Sie entwirft vielmehr den Rahmen einer Gesamtdeutung des menschlichen
Lebens und gelangt zu einer Systematik
und Typologie der menschlichen Angelegenheiten insgesamt. Sie hat Themen wie
„Grundcharakter des menschlichen Daseins“, „wirklich Wichtiges“, „worauf es
letzlich ankommt“, „Verheißung“ und „Erlösung“ und stellt bisweilen sehr
umfassende Aussagen, Einschätzungen und Wertungen auf.
Religionslehren
erheben in besonderen, „typischen“ Fragen den Anspruch auf besonders
maßgebliche, endgültige Wahrheit. Tritt hier ein Interpret oder Adept hinzu mit
dem Anspruch auf die endgültige, allein richtige Deutung der endgültigen,
unübertrefflichen Wahrheitsgehalte, begegnen wir dem hermeneutischen Problem
in konzentrierter Form. Das Problem tritt nun besonders deshalb hervor, weil
es nicht allein darum geht, Wahres zu sagen, sondern Wahres über als wahr
Propagiertes und über die „wirklich wichtigen“ Zusammenhänge, Hauptpunkte und
essentiellen Inhalte des Ganzen.
Wahrheit
in reiner, unvermischter Gestalt, d. h. in einer durch interpretatorische
Zusätze gänzlich unveränderter [„unverfälschter“] Gestalt, das gibt es
wahrscheinlich nicht. Es gibt aber dennoch richtige und falsche Auffassungen
bezüglich „gegebener“, bzw. vorgetragener Gedanken und Auffassungen. Es gibt
sie, obwohl diese Auffassungen nicht ohne interpretatorische Zusätze geschehen
können. Wir bemerken folgendes: Um überlieferte Gedanken aufzufassen, müssen
wir in einem ersten Schritt Mutmaßungen und Behauptungen bezüglich der
Richtigkeit unserer Auffassung [der vorliegenden Lehren] vornehmen, um zu
erkennen, zu welchen Aussageinhalten es Stellung zu nehmen gilt. Hier geraten
wir auf Reflexionen über Wortbedeutungen, konstatieren und „konstruieren“
Gesamtzusammenhänge, modifizieren Vorverständnisse, treten ein in den „hermeneutischen
Zirkel“ bzw. in die „hermeneutische Spirale“. In einem weiteren Schritt können
wir dann fragen: „Was spricht für diese Auffassungen, was dagegen?“ „Sind
diese Ansichten entscheidbar auf wahr und falsch?“ Es geht darum, gegebene
Gedanken in ihren Formulierungen [nach Geist und Buchstabe] richtig aufzufassen,
zweckmäßig und vertretbar zu systematisieren und letztlich noch etwas Wahres
über das richtig Aufgefasste zu sagen. Bereits die Richtigkeit der Auffassung
entspricht weitläufigen Wahrheitsbehauptungen, die eventuell nur in
langwierigen exegetischen Bemühungen zugänglich werden. Zu den behandelten
Themen wurde unübersehbar viel gesagt, und dennoch soll etwas Weiteres gesagt
werden, weil die Sache so großes Interesse erregt hat. Weitläufigen
Wahrheitsbehauptungen entsprechen des weiteren die „wirklich bedeutenden“ Zusammenhänge,
die einzelnes verbinden, Hintergrundverständnis, Wichtigkeitsgewichtungen
usw..
„Exegese“
kommt von dem griechischen „exago“, „herausführen“. Es ist insofern bedeutungsverwandt
mit dem lateinischen Ausdruck „deduco“, „deduzieren“, das wir in moderner
Sprechweise allerdings bevorzugt für strenge logische Ableitungen verwenden.
Bei ‚Exegesen’ ist erfahrungsgemäß allerdings oft die Frage, ob wir uns vom
Hundertsten in’s Tausendste verlieren oder etwas für die Überlegung Haltbares
herausbringen.
Es
geht in der Religionslehre um allgemein menschliche Themen und
Gesamtauffassungen der Wirklichkeit. Um ein Zusammen-bestehen-können von
allgemeinen Wert- und Tatsachenfragen, die Einheit und Vielfalt des Denkens
bezüglich all dieser Bereiche. Die Stellung des Menschen im Gesamtbereich des
Denkbaren und Wirklichen. Glauben und Wissen, Sein und Sollen. Das Thema ist
unerschöpflich und unabschließbar aufgrund der Sache selbst, der Sprache, sie
zu besprechen und aufgrund der verschiedenen Gesichtspunkte, darüber nachzudenken.
Die
Beurteilung einer Lehre kann nur erfolgen, indem Wahres über [von der Lehre]
als wahr Behauptetes ausgesagt wird. Die [unumgänglich] interpretierende
Auffassung muss sich fragen, inwiefern sie durch ihre interpretatorischen
Zusätze die Lehre unverfälscht erfasst. Aussagen wie „Hauptpunkte sind X, Y
und Z“ sowie „die Zusammenhänge, auf die es ankommt, sind folgende: ...“
betreffen Wahrheitsfragen bezüglich der Richtigkeit des Verständnisses und des
Aufgefassten. Wahrheiten über das als wahr Behauptete können sein: „Die Ansicht
X ist überzogen, Y ist unerweislich, Z ist wahr cum grano salis, und eindeutig
wahr ist folgendes: ...“ Im Alltagsleben beurteilen wir natürlich Dinge, über
die wir noch nicht genügend nachgedacht haben, und als Rezensenten der neueren
Zeit beherrschen wir [nach Lichtenberg] die Kunst, Schriften zu rezensieren,
bevor wir sie richtig gelesen haben. Selektivität und die Endlichkeit unserer
Ressourcen an Aufmerksamkeit und Scharfsinn legen uns dies nahe.
Proteus
ist ein antikes Fabelwesen, das sich in jeder anderen Gestalt, nur nicht in der
unverfälscht eigenen Gestalt zu zeigen vermag.. Ähnlich der wesentliche Gehalt
einer Religionslehre. Er vermag sich lediglich in der Gestalt deutenden
Auffasst-Seins und interpretierender Tradition zu zeigen, die seinem inneren
Wesen nur teilweise entsprechen.
Wenn
innerhalb gewisser Traditionslinien Interpretation A und B, sowohl auch B und C
einander genügend ähnlich sind, um als Interpretation derselben Gehalte zu
gelten, so muss zwischen A und C diese Relation „genügend ähnlich“ nicht
bestehen. Das ist die Eigenschaft „Nicht-Transitivität“ in Bezug auf diese
Ähnlichkeitsrelation.
[Allgemeingültigkeiten]
„Diese
Wesen eilen und wandern dahin, scheiden ab und erscheinen wieder, es ist eben
das ewig Gleiche.“
„Lange
Zeit hindurch ist dieser Geist von Gier, Hass und Verblendung getrübt worden.“
Was
andern geschieht, geschieht auch mir. Auch ich bin der Krankheit, dem Alter und
dem Tode unterworfen.
Nicht
zu ermessen ist der samsara, nicht zu erkennen ist der Ausgangspunkt der durch
Nicht-Wissen [Verblendung] gehemmten, durch den Durst gefesselten Wesen, die
den Lauf der Geburten eilend durchwandern. Und während so langer Zeit hat das
Leid bestanden, hat das Weh bestanden, hat das Elend bestanden, haben die
Leichenstätten sich angefüllt. Dies also genügt vollkommen, um aller Gebilde
satt zu werden, es genügt, um die Lust daran zu verlieren, es genügt, um sich
davon zu erlösen. [Digha-Nikaya XXIII, 1, 10]
„Alle Dinge sind das Nicht-Selbst.“
„Leer ist die Welt vom Selbst und vom Eigenen.“
„Das gehört mir nicht, das bin ich nicht, das ist
nicht mein Selbst.“
„Aus Nichtverstehen und Nichtbegreifen der vier
edlen Wahrheiten, ihr Jünger, ist dieser lange Weg durchlaufen und durchwandert
worden, von mir wie auch von euch.“
Dukkha
Sacca: Erste der Vier Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche,
ist die edle Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Altern ist Leiden,
Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, Zusammen-sein mit Unliebem ist Leiden, Getrenntsein
von Liebem ist Leiden, Nichterlangen, was man wünscht, ist Leiden, kurz die
fünf Anhaftungsgruppen (Upadana-Khandha).«
(MV 1,6 und S 56,11)
Samudaya
Sacca: Zweite der Vier Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche, ist die
edle Wahrheit von der Ursache des Leidens: Es ist dieses Begehren (tanha), das
zur Wiedergeburt führt, das mit Freude und Vergnügen verbunden ist, das mal
hier und mal da Gefallen findet, nämlich: Begehren nach der Sinnenlust,
Begehren nach Dasein, Begehren nach Werden, Begehren nach Vernichtung.« (MV 1,6
und S 56,11)
Nirodha
Sacca: Dritte der Vier Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche, ist die
edle Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: Es ist das vollständige, restlose
Ende des Begehrens (Tanha), das Aufgeben, die Entsagung, die Befreiung,
die Loslösung davon.« (MV 1,6 und S 56,11)
Magga Sacca: Vierte der Vier
Edlen Wahrheiten: »Dies, Mönche, ist die edle Wahrheit vom Weg, der zur Aufhebung
des Leidens führt: Es ist der edle Achtfache Pfad (Magga),
nämlich: Rechte Ansicht (Samma
Ditthi), Rechtes Denken (Samma
Sankappo), Rechte Rede (Samma
Vaca), Rechte Handlung (Samma
Kammanto), Rechter Lebenserwerb (Samma
Ajivo), Rechte Anstrengung (Samma
Vayamo), Rechte Achtsamkeit (Samma
Sati), Rechte Konzentration (Samma
Samadhi).« (MV 1,6 und S 56,11)
Zur
Ergänzung der zweiten Wahrheit folgende prägnate Sätze aus Digha Nikaya, Nr 33,
Sangiti
Sutta:
„Es gibt folgende Wurzeln des Unheilsamen: Gier, Hass und Verblendung; und es gibt drei Wurzeln des Heilsamen: Gierlosigkeit, Hasslosigkeit und Unverblendung
Auch hier haben wir, ähnlich wie bei dem Wort „dukkha“ Überdehnungen der alltäglichen Wortbedeutung zu berücksichtigen:
Gier – Anhaften an, Anhängen an, Nicht-los-lossen-können, Nicht-aufhören-können.
Hass – heftiges Widerstreben, Sich-wehren-gegen, Sich-nicht-abfinden-können, Nicht-aufhören-können [wie bei der Gier auch].
Verblendung – Nicht-wahrhaben-wollen der Auswirkungen unseres Tuns für andere und uns selbst zu anderer Zeit, Nichts-wissen-wollen von dem, was wir andern und uns selbst antun.
Verkürzt sagt die zweite Wahrheit also: Wurzel der menschlichen Misère, wie wir sie kennen, ist mit unserer höheren geistigen Natur unversöhntes Streben [innerer Drang]. Dabei wird angenommen, dass der innere Geist in uns eine Moral der gleichen Freiheit aller beinhaltet. Gelänge es uns, in Einklang mit dieser Moral [der „eigentlichen“] zu leben, würden wir dukkha, die menschliche Misère, überwinden. Letzteres kann man „glauben“ oder [lediglich? immerhin?] als unerweislich und unentschieden offen halten.
„Das Unerschaffne, ihr Mönche, will ich euch
weisen – die Wahrheit – das jenseitige Ufer – das Schwererkennbare – das
Alterlose – das Beständige – das Jenseits aller Mannigfaltigkeit – das Todlose
– das Heil – die Sicherheit – das Wundersame – das vom Siechtum Freie – das
Leidlose – das Lautere – das Eiland – den Schutz die Zuflucht usw.“ [zitiert
nach Visuddhi-Magga, VIIII, Friedensbetrachtung]
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