Vom Sündenfall und dem Verhängnis des menschlichen Lebens

 

Religionsphilosophischer Vorspann

 

1.      Am Anfang war alles gut:

Die Wirklichkeit war so beschaffen, dass der Mensch hätte moralisch und glücklich zugleich leben können. Er hätte in Harmonie mit seinesgleichen ein sowohl gutes als auch glückliches Leben führen können. Das Glück des einen wäre nicht zu Lasten eines anderen gegangen. Es würde gelten: „Unrechtes Gut gedeihet nicht“ und „persönlich unverschuldetes Unglück ge­schieht nicht.“ – „Glücklich“ steht hier für „bedürfnisgerecht“.

 

Diese Sätze enthalten keine historisch/empirischen Wahrheiten, sondern religiöse Glaubens­inhalte. In der bekannten Menschheitsgeschichte war es immer anders, aber die Tatsache alltäglicher Normverletzungen [bezüglich des ethisch/ moralisch Gebotenen] besagt nichts über die Ungültigkeit der Norm[en].

 

Ein Kriterium für religiöse Glaubenswahrheiten ist zu nennen: Religiöse Glaubensinhalte sind Positionen in empirisch-theoretisch unentscheidbaren Fragen, wobei es einen Zusam­menhang dieser Glaubenspositionen mit dem ethisch-moralischen Normbewusstsein des Menschen gibt. Die empirisch-theoretische Unentscheidbarkeit dieser Fragen ist sehr prinzi­pieller Natur, und die Bejahungen und Verneinungen in den prinzipiell [empirisch, theore­tisch, rein begrifflich, d.i. spekulativ] unentscheidbaren Fragen betreffen das allgemein menschliche Interesse an der Perspektive eines Lebens, das gleichermaßen mit den sinnlichen und den geistig-ethi­schen Anlagen des menschlichen Wesens harmoniert.

 

Ein Kriterium [bzw. mehrere] für den Gehalt und die Gültigkeit ethisch- moralischer Forderungen [einer bestimmten Klasse von Verhaltensnormen] ist ebenfalls zu nennen. Ich denke bei diesem Kriterium an die Goldene Regel: „Was du nicht willst, das man dir tu, das tu andern auch nicht an!“ Etwas pedantischer: die Verallgemeinerungsfähigkeit der Befugnis [für andere und mich selbst] [in verschiedenen klassifizierbaren Situationen] zu Verhaltensweisen eben der Art, wie ein Mensch sie für sich selbst [in einer Situation] annehmen kann, ist das Kriterium dafür, was man verantworten kann im Sinne einer Moral der Freiheit. Der Akt der willentlichen Annahme einer Verhaltensweise muss also zu einer Verallgemeinerung der Befugnis geeignet sein. Wahrhafte und landläufige Moralität sind eventuell verschieden voneinan­der. Natürlich geht es darum, von gängigen Standards nicht durch Unterschreitung des Üblichen sondern durch die Beachtung des „wirklich“ Vernünftigen abzuweichen. Ich sehe in der Gol­denen Regel den universellen Kern der „eigentlichen“ Moral. „Eigentlich“ hier im Unter­schied zu „lediglich konventionell gebräuchlich“. Die „wirkliche“ Moral bringt also nichts Weiteres zur Geltung als einen [zu fordernden] übergreifenden Kohärenzgesichtspunkt bezüglich menschlicher Verhaltensweisen. Sie stehen sozusagen unter dem Gesichtpunkt ihrer Verantwortung im Kommunikationsgeschehen. Normative Gesichtspunkte im einzelnen und in konkreten Situationen lassen sich möglicherweise, so nehme ich an, aus diesem allgemeinen Gesichtspunkt ableiten. Ziemlich klar ist das bei einem Tötungsverbot bezüglich anderer vernunftbegabter Lebewesen. Aber wir wollen zugestehen, dass uns unsere moralischen „In­tuitionen“ in vielen Situationsbeurteilungen im Stich lassen. Kontrovers zu diskutierende Situationen, bei denen es ganz verschiedene Gesichtspunkte gibt, können unser ethisches Normbewusstsein erheblich irritieren und herausfordern. Dazu gehört z. B. die Frage, ob uns ein menschlicher Embryo als Subjekt eines moralischen Willens oder Rechtssubjekt gelten sollte. Wenn ja, warum, weshalb, eingeschränkt oder uneingeschränkt. Wenn nein, ebenfalls mit Zusatzfragen und Vorschlägen zur Begründungslast.

 

Siehe Anhang: Über Moral als rationale, normative Sittenlehre.

 

Ferner erhebt sich die Frage nach Gültigkeitskriterien für konjunktivische Behauptungen. [„Der Mensch hätte moralisch und glücklich zugleich leben können.“ Ich vermute, dass es in diesem Falle ausreicht, dass keine lo­gische oder sonstige a priori-Notwendigkeit dafür besteht, dass z. B. das Glück des einen in prinzipiell notwen­diger Weise nur auf Kosten von anderen möglich sei. Wenn es also in der gegenwärtigen Welt in der Tat sehr viele Beispiele dafür gibt, dass das Glück des einen zu Lasten von anderen geht, dann sind das ‚nur’ faktische Zusammenhänge und keine prinzipiellen Notwendigkeiten.

 

2.      In einer vollkommenen Welt wären die Menschen moralisch gut und glücklich zugleich. Es würde sich um eine moralische und zugleich glückliche Anordnung aller Dinge, Eigen­schaften und Verhältnisse handeln. Summum bonum, höchstes Gut der Menschen, eudaimo­nisches Leben und das moralische Glück ist dasselbe. In einer vollkommenen Welt würde der Mensch glücklich sein, sofern er moralisch handeln würde.

 

3.      Das moralische Glück kann Wirklichkeit werden.

Dies ist der zentrale religiöse Glaubensinhalt und keine psychologisch fundierte Aussage über die psychologischen Möglichkeiten des uns bekannten Menschen. Der aus der Erfah­rung aller Zeiten bekannte Mensch hat weder das Talent noch den ernsthaften Willen zum moralischen Glück. [Erfahrungsgemäß ist der Mensch also böse und hat lediglich die Anlage zur Moralität. Ein häufiger Gebrauch seiner Freiheit besteht in ihrem Missbrauch.]

 

4.      Wenn kein allmächtiger und allwissender Erschaffer der Wirklichkeit existieren würde, könnte es das moralische Glück niemals geben. Denn der Mensch kann vielleicht aus eigener Kraft gute Entscheidungen treffen, Gott allein aber kann für die Konsequenzen und den letz­ten Erfolg moralitätsgemäßer Anstrengungen bürgen. Der Ausgang aber soll das moralische Glück sein.

 

Zusatz: Ohne Erlösung (einbegriffen einer Wandlung seiner Natur) hätte der Mensch keine Chancen.

 

5.      Der Mensch aber zog es vor, den Sündenfall zu begehen.

 

Überlegungen zum Sündenfallsmythos

 

Wenn wir die Sündenfallsgeschichte aus der Bibel rezipieren, erhebt sich die gar nicht einfa­che Frage, welche Sünde Adam und Eva begangen haben könnten. Wurden sie schuldig, weil sie der willkürlichen Anordnung Gottes, eine bestimmte Frucht nicht zu essen, keinen Ge­horsam leisteten? – Das wäre die Antwort einer vermutlich autoritär geformten Persönlich­keit [z. B. eines Mitglieds der Zeugen Jehovas], die eine Norm allein schon kraft Dekretes und ohne jeden weiteren Grund für gültig zu halten vermag. Sic volo, sic iubeo, sit pro rati­one voluntas usw..  – Mir persönlich schwebt eher die Einsichtigkeit der moralischen Norm[en] vor, was m. E. auf die Gültigkeit der Goldenen Regel hinausläuft. Diese Regel scheint fast allen Menschen irgendwie bewusst zu sein, jedenfalls in speziellen Situationen und in Ansätzen. Eine effektiv moralische Norm verletze ich dann, wenn ich mich in Bezug auf andere zu einer Verhaltensweise befugt halte, die ich andern mir gegenüber nicht zuge­stehe, bzw. „eigentlich“ nicht zugestehe, wenn ich genauer darauf achte.

 

Ein weiterer Gesichtspunkt macht mir die wortwörtliche Rezeption des Mythos ebenfalls be­denklich: Würde ein menschlicher Lehrer seinem Schüler eine Frucht zeigen und dann ohne nähere Erklärung sprechen: „Diese Frucht ist dir verboten“, dann könnte er fast mit Sicher­heit davon ausgehen, dass die Frucht in den Brennpunkt des Schülerinteresses geraten würde. Der Schüler würde solange eine unangenehme, innere Unruhe verspüren, bis er endlich wüsste, wie diese Frucht nun wirklich schmeckt. Denn das menschliche Verlangen wächst am Verbot. [Dies gilt leider zum Teil auch für begründete [„einsehbar gerechtfertigte“] Ver­bote.] Wäre es also allein darum gegangen, das Ziel zu erreichen, dass diese Frucht effektiv unberührt geblieben wäre, wäre es zweckmäßiger gewesen, den unzuträglichen Baum außer­halb der Sichtweise der neugierigen Menschen anzupflanzen oder, falls das nicht möglich gewesen sein sollte, die Menschen besser nicht auf seine Existenz hinzuweisen.

Ich nenne eine Pädagogik eine schwarze Pädagogik, wenn sie zu dem, was sie verbietet, ge­wissermaßen insgeheim animiert, um dann, wenn das Verbotene geschehen ist, in Unerbitt­lichkeit zu strafen. Wollte man also auf dem wortwörtlichen Verlauf der Geschichte behar­ren, würde sich tatsächlich die Frage erheben, ob Gott ein Anhänger schwarzpädagogischer Instruktionen war. Diese Vermutung möchte ich vermeiden und zu den unentscheidbaren und müßigen Mutmaßungen verbannen. Der Mensch lebt mit der Erfahrung, seine Freiheit unver­antwortlich gebraucht zu haben. In der Folge leidet er eher an menschengeschaffenen Übeln als an einer nur unzureichend gelungenen Schöpfung. „Unzureichend gelungen“ kön­nen wir sie nur unter der Voraussetzung nennen, dass wir über deren Motivation und letzte Absicht sehr genau Bescheid wissen könnten, was aber nicht der Fall ist.

 

Der Begriff bzw. Aussageinhalt „Gott“ hat [bzw. hätte] seinen Anwendungsfall bezüglich einer Entität, von der gilt: sie besitzt die Eigenschaft, [erster] „Grund“ der gesamten Wirklichkeit zu sein, zudem die Fähigkeit der all­umfassender Erkenntnis und des allmächtigen Wollens. Fähigkeit des Erkennens und Wollens sind Merk­male des Person-Seins. [„Gott sieht alles“, sagt man z. B. den Kindern.] Die Merkmale seiner Personalität sind allumfas­sende Erkenntnis [auch des Subjektiven und der „wirklichen“ Motive meines Handelns] und Allmacht des Wol­lens. Im Gegensatz dazu sind die Fähigkeiten des Erkennens und Wollens beim Menschen nur in sehr beschränk­ter Weise vorhanden.] Ob für das Wort „Grund“ [im Zusammenhang der Rede von Gott] eine Deu­tung im Sinne von bewegender Ursache, erstem Bewegungsanstoß [oder ähnliches] genügt, lasse ich dahinge­stellt. M. E. nicht, denn wer nach landläufigem Begriff ‚etwas bewegt’, findet etwas zu Bewegendes [bzw. et­was zu Modifizieren­des] vor und ist insofern nicht der „Grund“ „von allem“.

 

Wir vermögen nicht aus objektiven Gründen [empirisch, naturwissenschaftlich-theoretisch usw.] zu wissen bzw. zu erkennen, was oder wer Gott ist und ob er existiert. Wg. des unumgänglichen Raum-Zeit-Bezugs unse­rer Er­kenntnis, der die Objektivierung eines Wesens außerhalb von Raum und Zeit in ganz prinzipieller Weise aus­schließt. Existenz [Dasein] und Wesen [Wassein] Gottes sind empirisch, psychologisch, naturwissenschaft­lich-theoretisch, auch rein logisch oder begriffsanalytisch nicht zu erkennen. [Für die theoretische Unerweis­lichkeit der Essenz und Existenz Gottes müssen wir Erkennbarkeit a priori beanspruchen, also eine Art von nicht-hypo­thetischer Erkennbarkeit bzw. Wissbarkeit!]

 

Wenn wir es nicht ganz genau wüssten, bzw. wissen könnten, dass es kein Wissen und Er­kennen bezüglich des Daseins Gottes geben kann, könnten wir nicht ausschließen, dass es doch ein stichhaltiges Argument dafür gäbe. Wir müssten zugestehen, dass es vielleicht doch ein stichhaltiges Argument dafür geben könnte. Es könnte ja sein, dass wir das Argument le­diglich nicht kennen oder nicht richtig einzuschätzen vermögen.

 

Dies ist nicht die These, die ich hier vertrete. Ich beanspruche und behaupte hier ein Wissen in Nicht-Wissbarkeits-Angelegenheiten. Die Frage nach der Existenz Gottes als einer Entität außerhalb von Raum und Zeit betrifft m. E. eine solche Nicht-Wissbarkeits-Angele­genheit, die wir als solche qualifizieren können. Das funktioniert natürlich nur, wenn wir Gott nicht einfach mit einem Absolutum unseres Denkens gleichsetzen, wie es z. B. bei Hegel ge­schehen ist. An der Form unseres Denkens und an den allgemeinen Kriterien für Wissbarkeit und Erkennbarkeit ha­ben wir einen nicht-hypothetischen „Gehalt“ bzw. „absoluten“ Denkinhalt. Unter dieser Voraussetzung können wir sagen: „Es kann keine Erkenntnis des Da­seins Gottes geben, so­fern man unter Gott einen nicht-empirischen Seinsgrund „von allem“, mit diesen und jenen Eigenschaften, versteht.“

 

Das Interessante an dieser religionsphilosophischen Überlegung ist: Hier wird eine Form von Rationalität mit Bezug auf Nicht-Wissbarkeits-Angelegenheiten propagiert. Wissbarkeit be­züglich prinzipieller Nicht-Wissbarkeiten wird dabei vorausgesetzt. Es ist die Raum-Zeit-Philosophie, welche diese schwere Last zu tragen hat. Die Antwort geht in folgende Richtung: „In theoretischen Fragen besteht eine Erkenntnisfähigkeit bezüglich einer begrifflich bestimmbaren Wirklichkeit in Raum und Zeit. In einer bestimmten Klasse von normativen Fragen besteht das Kriterium des Erlaubtseins, des Geboten- und Verbotenseins lediglich [bzw. immerhin] in einer besonderen Art wechselseitiger Verallgemeinerungsfähigkeit [unserer gedanklich modifizierbaren Verhaltensweisen]. – Man kann das auch so ausdrücken: In der Ethik sind wir mit Kant Platonisten, weil wir an einen gedanklich-begrifflichen Inhalt glauben, der das menschliche Verhalten zumindest prinzipiell [bzw. immerhin prinzipiell] zu modifizieren vermag.

 

Existenz und Essenz Gottes sind unerkennbar im Sinne der objektiv begründbaren Erkennt­nis, d. h. im Sinne empirischer, naturwissenschaftlicher und/ oder theoretischer Erkenntnis. [Kant versucht, Denkbarkeiten dieser Art „subjektiv zureichende Gründe“ zuzuweisen. Er beansprucht, verschiedenen Aussageinhalten religiöser Art die Form spezifischer Glaubens­gewissheiten verschaffen zu können, die sich von allem Für-wahr-halten aus objekti­ven Gründen unterscheidet. Eine spezifische Religionslehre „innerhalb der Grenzen der mensch­lichen Vernunft“ würde diese Inhalte anhand eines principium iudicandi in ihrer Be­rechti­gung als Bestandteile des Vernunftglaubens ermitteln müssen.]

 

Die Existenz Gottes, die Frage, ob er die Welt geschaffen hat, mit welchem Ziel usw. usw., das sind insgesamt wesentlich unentscheidbare Fragen, jedenfalls für die theoretische, natur­wissenschaftliche und auch für die begriffsanalytische Argumentation. Kant reklamiert in seiner Religionsphilosophie eine Entscheidung in solchen Unentscheidbarkeiten als interes­sierte „Hoffnung“ [aber auch Befürchtung!] der ethisch-moralischen Vernunft. [In Bezug auf Beachtung und Nichtbeachtung ethisch-moralischer Verantwortung haben wir etwas zu hof­fen, aber auch etwas zu befürchten.] Es geht z. B. darum, aus der Erfahrung schwerwiegen­der menschlichen Unzulänglichkeiten [und der komplizierten Vertracktheit der „Verhält­nisse“] [„sie sind nicht so“, wie Brecht lakonisch dichtet] nicht die überspitzte Konsequenz zu ziehen, dass „alles egal“ sei, weil unsere ‚wahrhaft‘ moralischen Vorhaben [vielleicht noch mehr als fast alle anderen] letztlich doch mit Zwangsläufigkeit scheitern müssen. Was aber niemand wissen kann. Es gibt sozusagen keinen Grund dafür, sich das Leben durch die nicht wirklich begründbare Entscheidung in unentscheidbaren Fragen zu erschweren. [„Ent­scheidbarkeit“ hier hinsichtlich der Entscheidbarkeit einer Aussage auf Wahrheit, also Er­weislichkeit.] [Es ist zu zeigen, inwiefern eine derart motivierte Religionslehre zu den Arti­keln der Existenz Gottes, als allmächtigem und allwissendem Wesen usw. führt. Es würde sich dabei um das Konzept eines rationalen Glaubens handeln. Ebenso wenig wie die ratio­nale Moral mit der landläufigen Moral muss der rationale Religionsglaube mit einer histo­risch geoffenbarten „Religionswahrheit“ zusammenfallen. Zu erwarten steht: „mehr oder weniger“.]

 

Ein anderer Punkt: Augustinus brachte uns die Sexualisierung des Sündenfallsmythos. Auch hier erhebt sich ein Bedenken. Wenn Adam und Eva die Frucht der Aphrodite pflückten, dann konnten sie, weil sie im Einverständnis miteinander waren und kein Dritter existierte, dem sie damit Unrecht hätten tun können, niemandem Unrecht tun. Es ist also nicht leicht zu sagen, welche Schuld sie auf sich geladen haben könnten.

 

Die Sexualisierung des Sündenfallsmythos ist keineswegs abwegig, wird doch im diesbezüg­lichen Text von der Entstehung der Scham bezüglich der Sexualorgane gesprochen. Das Er­wachen des Normbewusstseins koinzidiert mit der Erkenntnis eigener Unzulänglichkeit. Ge­nerell, nicht nur im Bereich der Sexualität. Die Sexualität ist aber ein besonders pikanter Be­reich menschlicher Wechselwirkung, weil man sich dabei gewisser intimer Organe eines an­dern zur eigenen Lust bedient oder bedienen möchte. Man steht dadurch in der Gefahr, den andern als Mittel eigener Triebwünsche zu instrumentalisieren. – Kant konzipierte in diesem Zusammenhang ein „auf dingliche Art persönliches Recht“. [M. d. S., § 22 ff.] Er bean­sprucht, ein Argument für die Erforderlichkeit einer öffentlichen Institution namens „Ehe“. Für den Fall, dass ein Mensch bezüglich intimer Organe eines anderen legitime Nutzungs­rechte haben möchte. Privates Einverständnis zwischen zweien hielt er für notwendig, aber nicht für hinreichend.

 

Ob ich die Ansichten Kants in dieser Angelegenheit bis in alle Konsequenzen für richtig halte, möchte ich hier offen lassen. Trotz  J. Ebbinghaus’ großartigem, mehrteiligen Aufsatz „Über den Grund der Notwendigkeit der Ehe“ ist mir eine gewisse Skepsis geblieben, bis in welche Konsequenzen die Argumentation reicht. [Blätter für deutsche Philosophie, Band X, 1936.] Klar ist mir dabei, dass bei einer akzeptablen Form von Sexualität die Instrumentalisierung des andern vermieden werden muss. Meine Skepsis bezieht sich auf die ganze Reihe der Konsequenzen im Einzelnen, die Kant und Ebbinghaus in diesem Zusammenhang herleiten möchten.

 

Es gibt ein weiteres plausibles Motiv, gerade auf die Sexualität den Verdacht zu lenken, sie sei eine besser verbotene Frucht. Ein Mensch mit asketischen Nei­gungen zu Eremitentum und Zurückgezogenheit wird es [zeitweise!] einfacher finden, im Einklang allein mit sich selbst ein verantwortungsbewusstes und nachdenkliches Leben zu führen als mit einem [oder gar mehreren] Sexualpartnern, entstehendem Nachwuchs, gesell­schaftlichen Folgever­pflich­tungen usw.. Das hängt vor allem mit der vielschichtigen Kom­plexität menschlichen Mit- und Gegeneinanders zusammen, bei denen mehrere ‚Freiheitswe­sen‘ zusammenwirken, wo­bei die Harmonie wechselseitiger Bedürfnisse und Erwartungen nur in seltenen Augenbli­cken der Eintracht verwirklicht werden kann. Prinzipiell gesehen ist die Sexualität eine Naturanlage, die mitsamt ihrer individuellen, kulturellen und gesell­schaftlichen ‚Überfor­mungen‘ ‚lediglich‘ in den allgemeinen Rahmen einer verantwortlichen Lebensführung in­tegriert werden müsste. Das allerdings fällt uns gerade in dieser Sache schwer, so dass der Gedanke nahe liegt, die Sphäre des Sexuell-Erotischen sei eine Art Ge­genbereich des ver­nünftig zu Handhabenden. ‚Natur‘ und selbstauferlegte, verantwortliche Freiheitsregelungen sind aber, zumindest der prinzipiellen Möglichkeit nach, letztlich ver­einbare Dinge, auch wenn die Erfahrung lehrt, dass diese Harmonie noch nicht von vielen gefunden wurde. Der Mensch gerät ‚lediglich faktisch’ in einen Zwiespalt mit sich selbst als Natur- Kultur- und Freiheitswesen. Seine Aufgabe ist es, Regeln seines Freiheitsgebrauchs zu finden und anzu­wenden, nach denen seine Bedürfnisse im Einklang mit andern und mit sich selbst befriedigt werden können. [Diese Annahmen gruppieren sich um eine rein ‚deon­ti­sche’ Norm, die im Allgemeinen ‚lediglich‘ die Verantwortbarkeit unserer Handlungen for­dert, ohne von vorn­herein mit einem historisch gegebenen Moralitätsystem zu koinzidieren.]

 

Wer eine Moral durchzusetzen versucht, die in puncto „Lust auf Liebe und Sex“ einen allzu restriktiven Standpunkt propagiert, indem sie Handlungen, die im Sinne einer wahrhaft ge­rechtfertigten Moral nicht verboten sein müssten, dennoch zu verhindert sucht, wird dadurch selbst zum Feind des moralisch möglichen Glücks, der die mögliche Eintracht anderer stört. Wir geraten hier leicht auf das Gebiet überzogener und falscher Antithesen, die es zu ent­schärfen gilt. Autoritäre Moralitätsvorstellungen z. B. amerikanischer, evangelikaler Funda­mentalisten, der katholischen Kirche und merkwürdiger Weise auch chinesischer kommunis­tischer Politkader betonen die politische und gesellschaftliche Dimension der Sexualität und sind nicht geneigt, sexuelle Handlungen als Privatangelegenheit zwischen den unmittelbar betroffenen Beteiligten anzusehen. In Antithese dazu steht die Illusion erotomaner Libertins, welche die Sphäre des Sexuell-Erotischen am liebsten außerhalb gesellschaftlicher Vorga­ben, Komplikationen und Folgeverpflichtungen ansiedeln würden. Die Wahrheit ist m. E., dass in solch heiklen Fragen sehr vielen unterschiedlichen Aspekten Rechnung getragen werden muss. Essentialiter gibt es an der Lust auf Liebe und Sex nichts Problematisches, ak­zidenta­liter aber ist das Feld der Sexualität eines der problematischen Gebiete unseres Enga­gements, weil wir weder individuell noch gesellschaftlich in Zuständen gelungener Bedürf­nisintegra­tion leben. Ganz zu schweigen von Fragen mitmenschlicher Anerkennung und wechselseitiger Wertschätzung.

 

Wer gegen ein so nachhaltiges, mit der Natur des Lebens selbst zusammenhängendes Be­dürfnis kämpft, und zwar nicht nur in eigener, privater Angelegenheit, sondern zum Zwecke eines willkürlichen, nicht wirklich begründeten Reglements auch für andere, macht sich in der Regel einer ungerechtfertigten Machtstrategie schuldig. [Wer etwas für richtig und not­wendig hält, hat damit andern noch keine Verbindlichkeit auferlegt, nach seiner Einsicht zu verfahren.]

 

Zurück zur Sündenfallsgeschichte:

 

Der entscheidende Punkt des Sündenfallsmythos besteht m. E. in der Pointe, aus dem [zum Teil] heillosen Zustand der menschlichen Welt nicht die überspitzte Konsequenz eines über­forderten und oder versagt habenden Schöpfergottes zu ziehen. Die Existenz Gottes bleibt mitsamt seinem Schöpfungsplan völlig unerweislich und unerkennbar, lediglich, dass Glück im Einklang mit der effektiv moralischen Norm letztlich nicht unmöglich ist, ist der Glau­bensinhalt, der auf religiöse Glaubensinhalte verweist. – Hier muss eine Reflexion dar­auf folgen, inwiefern der allerkennende und allmächtige Gott zu diesen Inhalten gehört, in­wie­fern seine Existenz also eine Voraussetzung für die Vereinbarkeit menschlicher Bedürf­nisse mit der effektiv moralischen Norm darstellt.

 

Die Frage, wie die Not der Welt mit göttlicher Allmacht zusammenpasst [Hiob, Theodizee], ist ebenfalls wesentlich unbeantwortbar. [Für diese Unbeantwortbarkeit im Sinne der Uner­weislichkeit einer entsprechenden Antwort müssen wir erweisliche Einsicht behaupten!] „Hätte ein anderes Arrangement der Wirklichkeit seiner Allmacht nicht besser angestan­den?“ usw.; - eine unentscheidbare Fragestellung. Wir können es nicht wissen. Dass aber der Mensch seine Freiheit missbraucht und bei seinen Handlungen oft nicht genügend nach den Folgen für die Betroffenen fragt, ist zu erkennen. Das wissen wir im Großen und Ganzen, wenn auch nicht einmal dies im Einzelfall. [Moralität und Amoralität in der Motivation ge­schehener einzelner Handlungen sind ebenfalls unerweislich. Klar ist lediglich, dass be­stimmte Handlungen, die geschehen sind, keinesfalls hätten geschehen dürfen, weil sie ganz eindeutig nicht nach der Auswirkung auf die Betroffenen [und nach der prinzipiellen Mög­lichkeit von deren Einwilligung] fragten, z. B. bei Mord, Körperverletzungen u. dgl...

 

Kant spricht in entsprechendem Zusammenhang [„der Mensch ist von Natur böse“] von „Auftritten ungereizter Grausamkeit“. Würden wir ein Beispiel „gereizter Grausamkeit“ betrachten, so würden wir in eine lange Dis­kus­sion gerechtfertigter Vergeltung und präventiver Maßnahmen einsteigen müssen, an deren Ende wir viel­leicht nicht mehr erkennen könnten, ob es überhaupt eindeutige Fälle von Verstößen von wahrhaft moralischer Rele­vanz gibt. Durch die Unklarheit des Begriffes dessen, was „wahrhafte Moral wirklich fordert“ und beson­ders durch die überaus schwierigen Fragen der [eventuell präventiven] Verhältnismäßigkeit in der Retorsion von Übeln geraten wir auf ein schwer gangbares Terrain, auf „ein weites Feld“.

 

In der Religionsschrift von 1793 [„die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“], 1. Stück, 3. Ka­pitel, möchte sich Kant „bei der Menge schreiender Beispiele“ „den förmlichen Beweis“ wegen des „verderbten Hanges im Menschen“ ersparen. Die „Auftritte ungereizter Grausamkeit“ wählt er für den Fall von Menschen im angeblich idyllischen „Naturzustand“. Für den Fall der „menschlichen Natur“ „im gesitteten Zustand“ zitiert er die „geheime Falschheit selbst bei der innigsten Freundschaft“: „es ist in dem Unglück unserer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz missfällt.“ Für denjenigen, dem das alles noch nicht reicht, hat er die große Politik pa­rat: der Zustand „beständiger Kriegsverfassung“ zwischen den Staaten und der geheime Vorsatz, daran nichts zu ändern, sowie überhaupt nie zugestandene, „dem öffentlichen Vorgeben gerade widerspre­chende“ Grundsätze. [AA VI, S. 34]

 

Überdies nahm Kant den Zustand grundlegenden Böse-seins des Menschen auch von der Tatsache ab, dass es ratsam sei, gewisse Dinge, die unsere Feinde zweckmäßigerweise nicht wissen sollten, unseren Freunden nicht zu verraten. Wir leben unter Umständen, in denen „Mäßigung des Vertrauens in wechselseitige Eröffnung“ auch den besten Freunden gegenüber „zur allgemeinen Maxime der Klugheit im Umgange gezählt wird.“ [AA VI, S. 33]

 

Allerdings gilt für die Moral: „Der Satz vom angeborenen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar kei­nem Gebrauch: denn die Vorschriften derselben enthalten eben dieselben Pflichten und bleiben auch in dersel­ben Kraft, ob ein angeborener Hang zur Übertretung in uns sei, oder nicht.“ [AA VI, S. 50] – Allgemeine, still­schweigende Üblichkeit eines Verhaltens ist also kein Kennzeichen für die moralische Befugnis, ebenso zu han­deln. „Du sollst nicht folgen der Menge zum Bösen“ ist biblisch.

 

Also kann der Mensch das Desaster der Welt mit seinem persönlichen Hang zu schuldhaftem und unverantwortlichem Verhalten in Verbindung bringen. Nur wenn er moralisch vollkom­men wäre, hätte er Grund, den Zustand der Welt einem verfehlten Schöpfungsplan zuzurech­nen.

Das Problem der Theodizee lässt sich auf verschiedenen Ebenen wiederholen: Wenn wir alle schuldhaft sind, warum kommt der eine dann [doch ein wenig] besser weg als der andere? Und wie passt das zusammen mit der Gerechtigkeit und Güte des allmächtigen Gottes? – Auch hier ist die Frage unentscheidbar. Es ist der Zustand der gefallenen Welt, dass sowohl einerseits im Einzelnen unverschuldetes Unglück geschieht wie auch im andern Fall unrech­tes Gut [mitunter] gedeihen mag. Man kann nichts weiter dazu sagen. Wichtig ist, dass dar­aus kein Schluss auf die Ungültigkeit der moralischen Verhaltensnorm gerechtfertigt wird. [Die Gültigkeit moralischer Verhaltensnormen trotz faktischer Normverstöße, die eine be­sondere Art von Nichtfalsifizierbarkeit [von etwas als gültig und gerechtfertigt Behauptba­ren] darstellt, begründet einen Dualismus von Sein und Sollen. Es handelt sich um ein Phä­nomen besonderer Art, das begrifflich und sprachlich nicht leicht zu erfassen ist, da in be­stimmten Umständen faktisch bestehende Normen [der Üblichkeit, des Erwarteten usw.] von dem normativen Anspruch einer ‚wirklich’ gerechtfertigten bzw. ‚effektiv begründbaren’ Verhaltensnorm unterschieden werden müssen. Die rein konventionalistische Deutung schei­det m. E. wegen der Art des besonderen Gültigkeitsanspruchs aus.

 

Das ist m. E. die Intention des Mythos von Sündenfall: Der Mensch mit Norm- und Tatsa­chenbewusstsein findet sich in einer Wirklichkeit, die das Normbewusstein stark irritiert. Man kann bisweilen geradezu von einer ethisch-moralischen Absurdität der menschlichen Wirklichkeit sprechen. Der Mythos mutet uns in Augenblicken solcher zum Teil schmerzli­cher Einsichten die Erkenntnis zu, dass die Welt infolge des menschlichen Missbrauchs der Freiheit im Argen liegt. Das aber besagt nichts gegen die Gültigkeit wahrhaft behauptbarer und in ihrer Gültigkeit zu rechtfertigender Normen. Der Zustand der menschlichen Wirklich­keit, der sich zu einem erheblichen Teil aus dem Abfall bzw. aus der Ignoranz bezüglich die­ser Norm ‚erklärt’, rechtfertigt keine Abweichung von dieser Norm, da sie diese besondere Art von kontrafaktischer und nichtfalsifizierbarer Gültigkeit besitzt.

 

Kants Philosophie des kategorischen Imperativs, wie er sie in der „Grundlegung der Meta­physik der Sitten“ einführt, stellt den Versuch dar, aus den begrifflichen Erfordernissen an die Begründung einer effektiv [in ihrer Gültigkeit] gerechtfertigten Verhaltensnorm diese Norm selbst zu bestimmen. Es handelt sich also um den Versuch, durch Reflexionen über die Möglichkeit [des Begründetseins] von effektiv gültigen Sollensnormen [nichthypothetischer und somit kategorischer Art] zur Bestimmung solcher Normen selbst zu gelangen. Kant ver­sucht die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, indem er begrifflich charakterisierte Handlungen [nach Vorsatz, Absicht und Verfahrensweise] auf die Verallgemeinerungsfähig­keit hin der Befugnis zu ebensolchen Handlungen [für alle anderen] untersucht. Das bedeutet seine Ausdrucksweise: eine bestimmte Verhaltensweise müsse „als allgemeines Gesetz ge­wollt werden können.“ Die Beispiele, die er prüft: 1. die Absicht der Selbsttötung in hoff­nungsloser Situation, 2. der Vorsatz, sich durch falsche Zusicherung der Rückzahlung Geld zu leihen, 3. der Vorsatz prinzipieller Verweigerung von Hilfsbereitschaft, 4. der Vorsatz, nichts für die Ausbildung eigener Fähigkeiten und Fertigkeiten zu tun. Diese Verhaltenswei­sen genügen nach Kant nicht der Anforderung für eine allgemeinheitsfähige Befugnis und sind insofern moralisch unmöglich. Kants Ableitungen haben zwar Epoche gemacht, waren aber niemals allgemein anerkannt. Man geriet auf ein Terrain begrifflicher und sprachlicher Verwirrungen. Die besten, mir bekannten Aufsätze hierzu, die Kants Anspruch verteidigen, stammen von Julius Ebbinghaus. „Deutung und Missdeutung des kategorischen Imperativs“ (1948), sowie „Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung bestimmter Pflichten“ (1959), sowie Klaus Reich „Kant und die Ethik der Griechen“.

 

Der Mensch wünscht von den Übeln des Lebens befreit zu sein. Aus persönlicher und allgemeiner Er­fahrung bezüglich des Gangs der menschlichen Dinge zieht er die über­spitzte Konsequenz des unvermeidlichen Scheiterns. Die Konstatierung faktischen Scheiterns in manchen Fällen und die Frage, ob die gescheiterten Vorhaben wirklich so großartig waren, wären die maßvollere Konsequenz gewesen.

 

Es bleibt uns bei all diesen Reflexionen ‘lediglich‘ die Aufgabe, die effektiv moralisch ethi­schen Normen von den nur fälschlich dafür gehaltenen zu unterscheiden. Das wäre dann die Selbsterkenntnis der ethisch-moralischen Vernunft. Was sie leistet, was sie an effektiven Verbindlichkeiten wirklich zu begründen vermag usw.. – Vielleicht gar nichts, denkt man bisweilen, aber das beweist nichts gegen die Möglichkeit einer solchen Selbsterkenntnis. Der Gedanke der ‚wahrhaften‘, ‚rationalen‘ Moralität gedeiht haarscharf am Abgrund morali­schen Nihilismus.

 

Bei der skizzierten Interpretation des Sündenfallsmythos erscheint mir das Zusammenspiel von Erkennbarkeits- und Unerkennbarkeitsbehauptungen [bzw. Erweisbarkeits- und Uner­weislichkeitsbehauptungen] von besonderer Bedeutung. Werfen wir einen Blick darauf:

 

Die Tatsache, dass der Mensch befähigt ist, sich so zu verhalten, wie er erkennen kann, dass er es sollte bzw. „tatsächlich“ soll, ist die „Tatsache“ seiner Willensfreiheit. Dieser Standpunkt wird in ethisch-moralischen Fragen zu den „wahrhaft“ gebotenen Imperativen vorausgesetzt und nicht bewiesen. Der Erkenntnisgrund dieser Eigenschaft des menschlichen Willens ist Gültigkeit einer Sollensnorm, bezüglich der man allerdings fragen darf, worin sie besteht. Hier greifen wir auf Kants Lehrstück vom kategorischen Imperativ zurück, wobei wir uns folgende Paraphrase erlauben: „Handle [andern gegenüber] so, wie du auch ihnen die Befug­nis einräumen kannst, dass sie [so Dir gegenüber] handeln.“ Dieser Imperativ ergab sich für Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und wurde aus Überlegungen dazu ge­wonnen, wie ein Imperativ mit der Eigenschaft des „schlechthin“ [bzw. „wahrhaft“ und „wirklich“] Gebotenseins beschaffen sein müsste bzw. könnte. Den Gehalt dieses rein ratio­nalen Bewusstseins einer Verhaltensnorm hält Kant für gewiss und erweislich, verbunden sind ihm damit aber verschiedene Folgepositionen, die weder empirisch, noch naturwissen­schaftlich noch sonst wie theoretisch-naturalistisch erweislich [d. h. in ihrer Gültigkeit ent­scheidbar] sind.

 

Die Tatsache der Existenz des allmächtigen Schöpfers „von allem“ ist empirisch, naturwis­senschaftlich und „theoretisch“ unentscheidbar. Der Begriff von Gott als eines Wesens au­ßerhalb von Raum und Zeit ist vonseiten der „theoretischen“ Vernunft sogar ein inhaltsleerer Begriff. Der Erweis dieser Unerweislichkeits- und Leerheitsbehauptungen wird der Analyse der Begriffe von Raum und Zeit aufgebürdet, nach der sich die Existenz der Raum-Zeit­struktur [des erfahrbar Wirklichen] als Erfordernis für gegenständlichen Inhalt von Wirklich­keitserkenntnissen aller Art herausgestellt hatte. [Raum und Zeit sind notwendige [a priori-] Existenzformen der uns erkennbaren Wirklichkeit.]

 

Dass die Welt geschaffen wurde und auf keine andere Weise [als der Weise des Geschaffen-worden-seins] existieren kann, ist empirisch, naturwissenschaftlich und „theoretisch“ nicht wirklich erweisbar. Schöpfung als creatio ex nihilo ist hier ein Zusatzerschwernis, denn dafür dass etwas entstand, ohne dass vorher irgend etwas vorhanden war, aus dem es entstand, gibt es in der alltäglichen Erfahrung naturgemäß keine Beispiele.

 

Die Existenz eines göttlichen Schöpfungsplans und sein Inhalt sind ebenfalls unerweislich. Der Ausdruck ‚unerweislich’ wiederum im Sinn von empirischer, naturwissenschaftlicher und theoretischer Unerweislichkeit.

 

Die Existenz eines anfänglichen [‚einstigen’] Zustands der menschlichen Welt ohne Krank­heit, Leiden und Tod ist empirisch unerweislich. Für alle bekannten Zeiträume, von denen man Kenntnisse hat, war es anders.

 

Die Datierung „am Anfang war alles gut“ ist nicht „objektivierbar“, historisch o. dgl.. Aber „irgendwie“ denkbar ist es doch, dass alles gut war und wieder sein wird. Natürlich wäre es interessant, den möglichen begrifflichen Sinn einer solchen mythologischen Denkweise ex negativo oder ex positivo genauer festzulegen.

 

Erweislich ist das factum brutum menschlicher Normverstöße zu allen geschichtlich be­kannten Zeiten. Und zwar derart, dass wir Beispiele von Handlungen wissen, die gegen die Möglichkeit von begründeter Moralität überhaupt und nicht nur gegen historische Formen konventioneller Moralität verstoßen. Wer hier ganz eindeutige Beispiele will, muss mögli­cher Weise Tötungsdelikte bemühen. Denn die Frage nach Paradepferden und „Paradigmen“ eindeutiger Moralitätsverletzungen ist nicht frei von begrifflichen Konfusionen und weltan­schaulichen, eventuell „ideologischen“ Streitigkeiten.

 

Anhang: Moral als rationale, normative Sittenlehre

 

Das Projekt einer rationalen Moral motiviert sich auf folgende Weise: Die gesuchte norma­tive Verhaltensregel soll argumentativ begründet werden. Der allgemeine normative Inhalt, der diese Regel als Verbindlichkeit aussagt, soll gleichermaßen für mich und dich gültig sein. Diese Vorentscheidung läuft darauf hinaus, dass nur eine Forderung der prinzipiell glei­chen Freiheit für uns beide heraus­kommen kann. Hier liegt der Einwand nahe: „Eines schickt sich nicht für alle“, ein Goethe-Wort. Aber das Vorrecht der eigenen Freiheit, vor der des an­dern, muss durch eine „relevante“ Tatsache begründet werden. Es ist kein prinzipielles Vor­recht. – In diesem Zusammenhang wird oft Überlegenheit der Einsicht und des Könnens an­geführt. – Die Begründungslastregel, die hier zum Vorschein kommt, zeigt die Grundan­nahme der prinzipiell gleichen Freiheit („lediglich“ bzw. „immerhin“) von mir und dir. – Dies ist das Grundprinzip einer freien und eigentlichen Moral. Es entsteht sofort aus der Frage: „Wie kann man eine eigentliche Verbindlichkeit begründen?“ – Antwort: als norma­tive Regel der allgemeinen, prinzipiell gleichen Freiheit. Das höchste Prinzip der Freiheits­normen ist letzt­begründet und eigentlich grundlos. „Grundlos“ in dem Sinne, dass es kein weiteres Argu­ment dafür gibt, weil es selbst das letzte Argument ist. Es gibt also ein letztes gültiges Argu­ment.

 

Die Denkfigur eines Vorrechts der Freiheit des einen vor der des andern finden wir sehr oft im wirklichen Leben. Die Inanspruchnahme findet vor dem Hintergrund der prinzipiell, bzw. immerhin gleichen Freiheit aller Betroffenen statt. Man kann die menschliche Geschichte nach der Frage der für Vorrechte relevanten Kriterien hin lesen, die in verschiedenen Berei­chen stark variieren können. Man Gesichtspunkte der Herkunft, der überlegenen Einsicht, der Fähigkeiten auf diesem oder jenem Gebiet, auch der Klassenzugehörigkeit und des Besit­zes für relevant in dieser oder jener Angelegenheit gehalten. Leider vergisst man über diese Ein­zelheiten oft den übergreifenden allgemeinen Gesichtpunkt der gleichen Freiheitsrechte aller. Dies ist ein Zug mangelnder Aufmerksamkeit für Wesentliches, sozusagen Seins- und Aner­kennungsvergessenheit und bringt leicht Vorrechtsdünkel hervor. Den Ausdruck „Aner­ken­nungsvergessenheit“ habe ich von Axel Honneth übernommen.

 

Die Grenze meiner Freiheit nach dieser Regel ist also lediglich die Freiheit des andern. Man kann auch sagen: „immerhin“. Dies ist die Forderung der gemeinsamen Freiheit. Die Forde­rung eines Vorrechts für mich, sozusagen rücksichtslos und „von vornherein“ läuft auf  An­erkennungsverweigerung bezüg­lich anderer hinaus. In der sozialen Realität des Menschen finden sich viele Beispiele für Anerkennungsvergessenheit und Anerkennungsverweigerung. Man kann das Phänomen auch unter der Benennung „Einschluss und Ausschluss“ diskutie­ren.

Eine Erinnerung an Hegels Herr-und-Knecht-Dialektik gehört hierher. Der soziale Kampf um Anerkennung ergibt sich aus Anerkennungsverweigerung, Ausschluss und Instrumentalisie­rung des andern. Ich erkenne nicht mehr, dass der andere ein Mensch ein Lebewesen ist wie ich auch. Betrachtungen über Masochismus und Sadismus, wie bei Sartre, wären ebenfalls einschlägige, dem Geist neuerer Zeiten gemäße sexualisierte Va­rianten dieser Opfer- und Täter-Dialektik, in welcher der Mensch nicht recht sehen will, was er sich selbst und andern antut. – Die Wirklichkeit des menschlichen Lebens, weitgehend als Folge selbst verschulde­ter Übel und Anerkennungsvergessenheit zu begreifen, ist der leitende Gesichtspunkt meiner Rezep­tion des Sündenfallsmythos. – Der Mensch „trennt sich von Gott“, seinem „spirituellen Fundament“, das sind m. E. Redeweisen dafür, dass er wegen kurzfristiger Vorteile und kurz­fristiger Stimmungen die Auf­merksamkeit dafür verliert, was er sich und seinesgleichen antut. Er verstößt gegen die Goldene Regel und bemerkt nicht, dass die Verhaltenswesen, die er für sich angenommen hat, auf zum Teil indirekte und geheimnisvolle Weise auf ihn zu­rückwirken im Sinne selbst geschaffener Schwierigkeiten. Man kann dies leicht bei Eskala­tion destruktiver Konflikte bemerken. Dabei gibt es in der Wirklichkeit selten reine Täter- und reine Opferschaft. In der Wechselwirkung unserer Verhaltensweisen bauen sich die Ge­schehnisse auf.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003, letzte Änderung 2007-04-23.