Durga/Kali

 

Orthodoxe Deutung: Durga, indische Hauptgöttin, Sanskrit, „die schwer Zugängliche“, bzw. „schwer zu Begreifende“, hat 108 Aspekte, steht insofern für „verwirrende Aspektvielfalt“. Die „Aspekte“ sind z. B. die Waffen, welche sie in ihren 8 Händen hält: Diskus, Bogen, Schild, Trommel [links], Glocke, Pfeil, Dreizack [Speer], Gebetskette.  Es sind Werkzeuge [Embleme] anderer Götter, die ihr zum Kampf gegen den Büffeldämon verliehen wurden. – Der Dämon war machthungrig und anmaßend zugleich und hatte zwecks eigener Immunisie­rung und Unver­letzlichkeit durchgesetzt, nur durch eine Frau besiegt werden zu können. Er hielt sich dadurch für unbesiegbar, weil er die Frauen als schwaches Geschlecht ansah, und wurde in der Folge immer frecher. – Durgas 8 Arme symbolisieren ihre gewaltige Stärke, mit der sie ihn dann auch bezwingen konnte und zur Strecke brachte. Dieser Dämon war zu Ge­staltenwandel befähigt. Büffel, Elefant und Löwe konnte er sein. In der Büffelform wurde er besiegt, weshalb er „Büffeldämon“ heißt. Als wandlungsfähiger Dämon steht er für die Schlechtigkeit der Welt in ihren fast uner­schöpflichen Formen, kann aber von Durga, mit den geeigneten überirdischen Waffen, besiegt werden.

 

Dieses Geschehen kann man als Triumph der Hoffnung über die [schlechte] Erfahrung deu­ten, bzw. als Triumph der Befreiung über die Macht der [schlechten] Gewohnheit. – Insofern ist Durga ein Erlösungs- und Freiheitssymbol, das wir religiös, psychotherapeutisch und „spirituell“ wenden können.

 

Durga wird oft mit einem Tiger oder Löwen dargestellt, welches ihre Reittiere sind.

 

In älterer Anschauung besiegt Durga Triebe und Emotionen, steht insofern für Triebunterdrü­ckung und Emotionskontrolle, die als positiv und notwendig bewertet wurden. Nach neueren psychologischen Erkenntnissen, hirnphysiologisch und hirnarchäologisch informiert und as­sistiert, steuert die Emotion das Bewusstsein, die Emotion lenkt die Aufmerksamkeit, auch wenn wir uns bezüglich dieser emotionalen Aufmerksamkeitslenkung nicht bewusst sind. Aber die Art des Umgangs mit Trieb und Emotion tritt nun als Aufgabe des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit hervor. Wie man mit Trauer, Schmerz, Verlust und Frustration umgeht, darauf komme es an, wenn man unnötige, selbst ge­schaffenen Zusatznöte vermeiden wolle. – Das ist der gemäßigte Weg zum Glück, bzw. ein Weg zur Vermeidung von vermeidbarem Unglück. - Nicht Trieb- Emoti­ons- und Bedürfnisunterdrückung, son­dern „Moderation“ und vernünftige „Gestaltbil­dung“ ist nun die Losung. Insofern steht der Dä­mon nun für die Art des Umgangs mit der Emotion, welche [Art] maßgebliche Folgeemotionen, z. B. ungute Auf­re­gung oder zweckmäßige Aus­geglichenheit bewirken kann.  [Trauer-, Ge­fühlsarbeit u. dgl. rücken in den Fokus der Betrachtung. Man macht den Übergang von der Frage, wie sich et­was anfühlt, zu der Frage, wie man am besten damit umgehen könnte. Eine gängige Redewendung zu diesem Gedanken: „aus einer Situation das Beste machen“.] Auf dieser Grundlage [der mo­derierten und „gestalteten“ Emotion] be­wegt sich das befreite Be­wusstsein dann in tänzerischen For­men. Es kann aber nicht von der Emotion abgelöst werden. – Die Frage, wie sich etwas anfühlt, bleibt uns erhalten. Hier müssen wir ansetzen und den Übergang zu der Frage machen, wie wir damit umgehen. Ob wir uns durch die Art dieses Umgangs vermeidbare Zusatzprobleme schaffen, ist eine „praktische“ Frage, welche den Gebrauch betrifft, den wir von unserer Freiheit machen wollen. Unsere Maxime heißt: „primum nil nocere!“ – Wer sich auf dem Dämon tänzerisch elegant bewegen kann, hat die Blockade und Selbstsabotage seiner Freiheit überwunden und die Fähigkeit erlangt, einer schwierigen Situation, soweit es an ihm selbst liegt, die Wendung zum Besseren zu geben.

 

 

Durga ist eine strahlende Göttin. Aus ihren Poren strahlen die Strahlen der Sonne. Dieses Phänomen ist ebenfalls eines ihrer 108 Attribute, Aspekte oder Embleme. – Dennoch ist Durga auch wiederum identisch mit Kali, der schwarzen, Furcht einflößenden Herrin des Verderbens, einem männermordenden Weib mit schwer wogenden Brüsten, welches [das Weib] einen Gürtel aus Totenköp­fen trägt und das Blut der Besiegten bis an die Decke sprit­zen lässt. – Ja, so erschreckend ist es mit der Einheit der Gegensätze. – Kali personifiziert das Phänomen „Zeit“ mit den Aspek­ten des Entstehens und Vergehens [der zeitlichen Dinge], des Aufbaus und der Zerstörung.

 

Durga ist ebenfalls identisch mit Parvati, der Gefährtin des Shiva. – Ein praktischer lebensna­her Gedanke: als Parvati ist sie in einer Beziehung gebunden, als Durga ist sie ein Single. In mo­derner Zeit hat man ähnliche Phänomene. - Junggesellen leben z. B. wie verheiratete Män­ner und verheiratete Männer wie Junggesellen. [O. Wilde]

 

Durga ist ebenfalls identisch mit Shakti, der weiblichen Urkraft des Universums, ein aktives Prinzip der Einheit und Vielfalt [Diversifikation] zugleich.  Es handelt sich um eine „materia­listische“ Konzeption besonderer Art. „Materiell“ kommt von lat. „mater“, deutsch „Mutter“. Nach dem „materialistischen“ Konzept des Shaktismus wohnt der „materiellen“ Wirk­lichkeit eine genuine Kraft zur Freiheit und zu besserem Bewusst­sein inne, die Materie strebt danach, den beruhigenden Geist wahrhafter und ausgeglichener Freiheit letztlich aus sich selbst her­vorzubringen. Geist und Be­wusstsein wird hier nicht von außen als belebendes Prinzip an die tote Materie herange­führt, sondern das „Materielle“ enthält bereits das dynamische Prin­zip seiner Selbstüberwindung oder Ver­wandlung in ein „Anderes seiner selbst“. „Hylozois­mus“ nennt man ein solches Konzept in der westlichen Tradition. [Ernst Bloch hat derglei­chen fa­vori­siert.] – Es bedeutet, dass mate­riell Wirkliches essentiell lebendig ist, Lebendiges aus sich hervorzubringen vermag und den Odem insofern ursprünglich in sich birgt. Also ein Konzept der Versöhnung von Geist und Materie auf nicht-anta­gonistischer Grundlage.

 

Zum ironischen Abschluss und Widerspiel eine unorthodoxe und unkonventionelle Deutung auf antagonistischer Grundlage: Nach O. Wilde bedeutet die Existenz der Frau den Sieg der Mate­rie über den Geist. Frauen würden hauptsächlich Eigen­schaften an Männern anerkennen, woran sie [Frauen] sie [Männer] hindern würden, sie [diese Eigenschaften] hervorzubringen oder zu erwerben. – Das ist offenbar kein glückliches Zu­sammentreffen. - Wir er­kennen darin natürlich eine süffi­sante, antifeministische Bemerkung. – In der orthodoxen Lesart siegt in Durga der Geist in Form einer Frau, als Prinzip eines zur Einheit gestimmten Diversifikati­onsvermögens, über die schlecht integrierte Vielfalt der unerlösten Dämonen.

 

J.B., 4.10.2010