Zusatz 2007: Man sollte sagen: "Achte auf Deine Denkweise, sie ist Dir weitgehend unbewusst." Wir sind uns zwar bestimmter Inhalte unseres Denkens bewusst, der Denkweise aber, die uns dazu geführt hat und die wir da­für angenommen bzw. praktiziert haben, sind wir uns oft nicht bewusst. Oder nur in geringem Maße. Und „im Praktischen“ sind wir uns unserer Verhal­tens­weisen und inneren Verhaltensdirektiven, die wir praktizieren, ebenfalls oft nicht genügend bewusst. Was dies für Verhaltensweisen sind, bemerken wir oft nicht in angemes­sener Weise. Wir möchten uns unsere Verhaltensdirektiven zum Teil nicht recht eingestehen. Erst recht, wie die [mental bestimmten] Verhaltenswei­sen auf andere sich auswirken, entgeht zum Teil unserer Aufmerksamkeit. Wir denken vielleicht, diese Weiterwirkung unserer Handlungsweisen sei nicht mehr unsere Sache, sozusa­gen nicht in unserer Hand [und Verantwortung], womit wir in manchen Fällen auch Recht haben können. Diese An­nahme ist allerdings oft nicht der Situation angemessen. Was wir uns selbst und andern antun, indem wir uns diese oder jene verhaltens­relevante Denkweise zueigen gemacht haben, entgeht uns nämlich auch in manchen Fällen, wo Eigenverantwortung besteht, und wo Handlungsoptionen bestehen. Es entgehen uns also auch „Dinge“, die in unserer Verantwortung stehen. Wir verstoßen z. B. gegen die hohe Moral der gemeinsamen Frei­heit, indem wir zu sehr auf unseren eigenen Vorteil, unser eigenes Verhaltensprogramm und die eigene Stim­mung fixiert sind. – Die Fixierung unseres Geistes auf kurz- und mittelfristige Interessen, sowie auf Stimmun­gen, Neigungen und Launen, sowie auf das, was wir begehren, wovon wir glauben, dass es uns fehlt, - auch auf das, was unserem eigenen Verhaltensprogramm, einem inneren „Skript“, - entspricht, ist ein Phänomen der Se­lektivität und Perspektivität unseres Wahrneh­mens und Denkens. Hier liegen verschiedene Ansatzpunkte der fortschreitenden Verfestigung einseitiger Perspektiven, die andere Perspektiven nicht gelten lassen möchten.

 

Alltäglich, in der Praxis des „wirklichen“ Lebens, erleben wir Auseinandersetzungen [auch Streit] um die ange­messene begriffliche Auffassung und Benennung tatsächlich ausgeübter Handlungs- und Verhaltensweisen. Das „Theater“ des wirklichen Lebens dient weitgehend der Verschleierung und Bemäntelung wirklicher Interessen und nur wenig der Selbsterkenntnis und der Selbstfindung. Wir täuschen andere und uns selbst durch Vorwände, Absichts- und Verfahrensbemäntelung, bis hin zu effektiver Irreführung. Dies [Bemäntelungsgeschehen] dient manchmal schlechten Absichten, die man insgeheim hat, manchmal aber auch lediglich einem legitimen Schutz­bedürfnis im allgemeinen Mit- und Gegeneinander. Es handelt sich dabei, wie z. B. bei der Heuchelei [von Wohlanständigkeit], um ein Phänomen der Einheit sehr unterschiedlicher, teilweise gegenläufiger Tendenzen und Aspekte, sozusagen um „Realdialektik“. Heuchelei beinhaltet ja immerhin eine äußerlich-formelle Anerken­nung von Tugend und Wohlanständigkeit. [Reminiszenz an Hegel.] Man gerät dadurch zugegebener Maßen in Widerspruch „mit sich selbst“. Das „höhere“, „allgemeine“ Ich, - die „prinzipielle“ Befähigung zu verantwor­tungsbewusstem Leben, - und das „niedere“, individuell-besondere Ich, - mit besonderen Interessen, Stimmun­gen und Gefühlen, - geraten in Diskrepanz zueinander. – Natürlich geraten sie erst recht durch offene, zynische Verachtung von Normen des Mit- und Gegeneinander in Widerstreit zueinander. – Die Lösung besteht darin, „echte“ Normen des Mit- und Gegeneinander zu „praktizieren“, mit zusätzlichen Auflagen, Regeln und Üblich­keiten muss man oft vorsichtig sein. Menschen tun sich manchmal unglaubliche Dinge an, in der Annahme, es sei „notwendig“. Die Menschen produzieren, - in der Wechselwirkung ihrer Denk- und Verhaltensweisen, - Moral, Doppelmoral und Unmoral in oft kaum entwirrbarer Verknäuelung, bzw. in kaum zu sondernder [„analy­sierbarer“] Vermischung. – Die „synthetisch-konstruktiven Vermögen“ machen das Leben untransparent, möchte ich ironisch anmerken. Angebliche Zwecke und Wichtigkeiten sind selten die einzigen.

 

Wir bemerken eine Sache und bemerken darüber hinaus manchmal auch noch, dass wir sie bemerken. Aus Selbsterfahrungen dieser Art und dem Austausch mit andern über solche Erfahrungen [bezüglich des menschli­chen Denkens und der menschlichen Verhaltensweisen] entstehen Sätze bezüglich der Selektivität und der Ten­denz unserer Aufmerksamkeit. - Dass Gedanken und Denkweisen Gefühle und Verhaltensweisen beeinflussen, ist ein Gedanke, den wir in der Frage nach dem guten und richtigen Leben einfach voraussetzen. obwohl er, wissen­schaftstheoretisch gesehen, gewagt ist. Praktisch gesehen, ist er aber eine Selbstverständlichkeit, eine prinzipielle Bedingung für die Wahrheitsfähigkeit und handlungsmäßige Relevanz bzw. praktische Wirksamkeit moralischer Überlegungen.

 

Der Mensch ist nicht nur zum Denken über die ihn umgebende Wirklichkeit befähigt, sondern auch zum Nachdenken über seine Denkweisen. – Er ist zum Denken schlechthin [„über­haupt“] befähigt, also auch zum Nachdenken über die Fähigkeit und Möglichkeit des Denkens „überhaupt“. – Und zum Nachdenken über die von ihm kultivierten Denkweisen speziell in dieser oder jener Situation. In der hohen Philosophie, z. B. bei Aristoteles, Descartes, Kant und Fichte wird ebenfalls ein „Denken des Denkens“ propagiert. Hier geht es um das Nach­denken über mögliche Inhalte [„Themen“, „Gegenstände“] und Methoden [„Denkwege“, Ver­fahren, Anweisungen] des „reinen“, nicht-empirischen Denkens. – Man kann auch sagen: „des abso­luten Denkens“. Oder: „des nicht-hypothetisch gültigen Denkens“. – Die „reine“ Vernunft, ein nicht-empiri­sches Denkvermögen, denkt nach über die Methode und etwaigen Inhalte nicht-empirischen und doch gül­tigen Denkens. – Das läuft hinaus auf eine [die?] Me­thode nicht-hypothetischen und doch gültigen Denkens. Diese Methode sagt uns, welche In­halte für so hohe Erkenntnisansprüche in Frage kommen. Es ist ja eine besondere Anforde­rung, nicht-hypothetische, also absolut gültige Aussageinhalte zu ermitteln, sei es nun theore­tischer oder verhaltensrelevanter Art.

 

Das nichthypothetisch-gültige, bzw. absolut Gültige, das wir erkennen können, falls es so etwas überhaupt gibt, erfordert eine ganz besondere Erkenntnisqualität, die wir in gewöhnli­chen empirischen Erkenntnissen nicht haben, ja nicht einmal haben können. Empirische Er­kenntnisse sind dem Bereich des hypothetisch Gültigen zuzuordnen. Beobachtung und Expe­riment belehren uns darüber, was existiert und was geschieht, sie beinhalten niemals eine Er­kenntnis der prinzipiellen Unmöglichkeit des Gegenteils. – Die Erkennbarkeit naturgesetz­licher Zusammenhänge führt zwar ebenfalls Behauptungen von der „Unmöglichkeit des Ge­genteils“, das ist in diesem Falle aber die Behauptung der naturgesetzlichen Unmöglichkeit, z. B. die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit. Naturgesetzlichen Zusammenhänge werden im Modus der Tatsachenwahr­heiten erkannt und sind hypothetisch gültig. Durchaus gültig, aber nicht in der Art prinzipieller Wahrheiten der reinen Vernunft, welche durch ihren Absolutheitsanspruch die ganz prinzipielle Möglichkeit und Unmöglichkeit von Wahr­heitsan­sprüchen betreffen müssen. – Falls es auch solche prinzipiellen Wahrheiten geben sollte, wie ich annehme. In dem Bewusstsein, dass dieser Standpunkt sehr um­stritten ist. – Das Kantische synthetische Apriori war m. E. der bisher großartigste Versuch, die Anforde­rungen dieser besonderen Erkenntnisart zu thematisieren und ihnen gerecht zu werden. Aber auch hier, also bei Kant, ist es m. E. zum Teil dazu gekommen, dass bestimmte zeitgemäße Standpunkte in theoretisch und ethisch allgemeinen Fragen irrtümlich mit dem Anspruch hyperempirischer Gültigkeit verbunden wurden.

 

Die Methode des nicht-empirischen und doch [erkenntnismäßig] gültigen Denkens ist das „absolute“ Thema der philosophia pura. – Die Vernunft, hier als Vermögen einer nicht-hypo­thetischen Erkenntnis angesetzt, denkt darüber nach, worin sie besteht bzw. bestehen könnte. Also darüber, was sie in dieser Erkenntnisart erkennen kann. – Dies der Fall der „reinen“ Denkart. Mit unserem „Achte-Motte“ aber haben wir den Fall einer em­pirisch-subjektiven Denkart.- Darin aber, dass beides ein Nachdenken über Denkarten ist, be­steht eine interes­sante Gemeinsamkeit bzw. Verwandt­schaft philosophischer und [sozial-]psychologischer Über­legungen.

 

Mit dem Spruch „achte auf deine Denkweisen, es hat praktische Auswirkungen!“ befinden wir uns auf dem Boden einer humanistischen Psychologie. Der Mensch wird zur Reflexion [„Nachdenken“] aufgefordert, um sich mehr und mehr darüber klar zu werden, was er sich und andern antut. Die Psychoanalyse steht teilweise in der Gefahr, keine humanistische Psy­chologie mehr zu sein. Sie beschäftigt sich eventuell zu sehr mit verwirrenden, „unbewuss­ten“ Denkweisen wie Eltern-Komplex, Katastrophen- und Kastrationsangst. Verbände man das durchweg mit dem Motto „wo Es war, soll Ich werden!“ wäre es ebenfalls durchweg hu­ma­nistisch. Davon ist die Psychoanalyse teilweise deshalb abgekommen, weil sie ei­nem wis­senschaftlichen Objektivismus gehuldigt hat. – Habermas sprach m. E. zu Recht im Falle von Freud von einem „szientifischen Selbstmissverständnis. Erkenntnis und Interesse, Kap. 11. Freud habe eine Humanwissenschaft begründet, in ihr aber eine Naturwissenschaft gese­hen. - Der Anspruch auf den Status einer Naturwissenschaft begünstigt z. B. die Ar­beitshypothese einer objektiven Determination. In der Praxis des Klientengesprächs be­güns­tigt dieser An­spruch eine Opfer-Perspektive, sozusagen nach dem Motto: „was hat man dir, mein Kind ge­tan?“ [Dieses Mignon-Motto wurde Titel einer Schrift von Alice Miller.] – Wenn wir, im Unterschied [bzw. in Ergänzung] hierzu, auf der Modifizierbarkeit unserer Denk- und Ver­haltens­weise beharren, ist der Ausgangspunkt und ein Hauptthema unserer Über­legung immer „mein“ Ei­genanteil am Gesamtgeschehen. „An welchen Denk-, Rede- und Verhaltensweisen übe ich hier und jetzt?“ „Welche Haltung, welche Befindlichkeit kultiviere ich?“ – Die Denk­richtung wird sozusagen verhal­tenstherapeutisch. - Werde ich z. B. bestohlen, muss ich mich fragen, ob ich nicht durch mein Verhalten die Gelegenheit dazu begünstige. Nicht nur: „Es ist deprimierend, bestohlen zu werden.“ – In der Wirklichkeit gibt es sozusa­gen nur Mischfor­men von Täter- und Opferschaft. Ich muss mich fragen, wo ich aktiver Mitspieler bin, sein kann oder sein könnte im Spiel meines Lebens. Insofern auch der Zusammenhang von Be­wusstwerdung [von Wirklichkeit, von Möglichkeiten und von Optio­nen] und Emanzipation [Befreiung].

 

„Erkenne dich selbst, achte auf deine Denk- und Verhaltensweisen!“ ist ein „spirituelles“ Motto. Durch diese Art von Nachdenken kommt es zu einer bewussten Auswahl von Verhal­tensoptionen und eventuell zu einer Modifikation der eigenen Denk- und Verhaltensweisen. Man kann also von einer „Wirkung“ des Denkens selbst auf die Denk- und Verhaltensweisen sprechen. – Im Menschen würden wir derart das „magische“ Phänomen antreffen, dass Ge­dankeninhalte [auch Denkweisen] sich materiell „manifestieren“. – Denkinhalte und Denk­weisen rechne ich gleichermaßen zu Aussageinhalten, bzw. zu sprachlich aussagbaren Inhal­ten.

 

Kant spricht im „Streit der Fakultäten“ [AA VII, 97 ff.]von der „Macht des Gemüts“, „über seine krankhaften Gefühle durch den bloßen festen Vorsatz Meister zu sein“. Dies klingt viel­leicht ein wenig zu gewollt und zu forciert, weil wir in der Praxis ja nur in eingeschränktem Maße die Herren unserer Stimmungen sind. Aber auch dann, wenn wir von einer Stim­mungsmodifikation durch anhaltende Übung, Gymnastik und Geisteskultur sprechen, bleibt etwas von dieser „Macht“. Es ist keine Kausalität im Sinne der zweiten. Analogie der Erfah­rung [K. r. V., B 232 ff.] Dort geht es um eine empirisch-objektive, naturwissenschaftliche [Prä-]Determination der [objek­tiven] Zeitfolge von Ereignissen. Zeitlich vorangehende Ereig­nisse einer gewissen Art deter­minieren hier [nach einer zu findenden objektiven Regel] den Zeitpunkt irgendwelcher fol­genden Ereignisse charakteristischer Art. Wenn der Mensch aber seine D.-V.weisen gedank­lich prüft und eventuell modifiziert, dann handelt ist es sich auch um ein subjektives Geschehen, das wir wahrscheinlich nicht völlig ohne Rest in eine Sprache naturalistischer Objektivität über­setzen können.

 

Ich gehe nicht davon aus, dass der Mensch in jedem Augenblick seine D.-V.weisen denkend thematisieren kann oder soll[te], eventuell noch in einer endlosen Kette von höherstufigen Über­legungen. Nur gelegentlich kann er über seine Denkweisen nachdenken, um sich eventu­ell anderer Optionen bewusst zu werden. Alltagsroutinen, Üblichkeiten und Gewohnheiten gehö­ren unverzichtbar zum menschlichen Leben. Nur gelegentlich muss offen über sie nachge­dacht werden. Und auch nicht über alle zugleich.

 

Das Denken wird hier nicht als hirnphysiologisches Ereignis verstanden. Auch nicht als kon­kretes psychisches Erleben. Es wird aufgefasst als Begriffs- und Wortbedeutungsverknüpfung unter den Gesichtspunkten der Bedeutungs- und Begriffsidentität, der Widerspruchsfreiheit und der Wahrheitsfähigkeit. Derart kann man denselben Gedanken zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denken. Andere können ebenfalls denselben Gedanken denken, obwohl sie sich an anderen Orten zu anderen Zeiten befinden. - In concreto wird es allerdings Missverständnisse und Sprachverwirrung geben.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2007