Das Unbewusste als Betriebsblindheit

 

Wir wollen nicht allzu weit ausholen, denn das Thema ist weitläufig, die Detailfülle aus­ufernd. Das Unbewusste wurde im 20. Jahrhundert durch die breite Rezeption der Psycho­analyse populär, hat aber, wie ich vermute, eine mehrtausendjährige Vorgeschichte. Es han­delt sich nämlich um ein alltägliches, typisches Phänomen des menschlichen Le­bens. Wahr­scheinlich reichen Begriffsversuche bezüglich Bewusst- und Unbewusstsein zu­rück bis zu den Anfängen menschlichen Denkens über den Menschen selbst. Mögli­cherweise haben unsere prähistorischen Vorfahren bisweilen über unbewusstes Tun und Denken nachgedacht. Jeden­falls sind in den Zeugnissen früher literarischer Hochkulturen, bei den alten Griechen und bei den alten Indern, Hinweise auf die Bekanntschaft mit dem Phänomen der unbewussten Sub­jektivität zu finden. Es fiel den alten Dichtern und Denkern auf, dass wir ziemlich oft nicht recht wissen, was wir zu wissen glauben, und was wir denken, und vor allem, was wir uns selbst und andern mit unseren Handlungen und Verhaltensweisen antun. Das Ganze lief unter dem Thema des trugbetörten, sich selbst nicht inne werdenden Menschen. Auch wenn man die Unterscheidung des Subjektiven vom Objektiven nicht derart prinzipiell und begrifflich scharf ansetzte, wie es z. B. Descartes als Begründer der neuzeitlichen Philosophie tat.

 

Durch den Zusammenhang mit der Psychoanalyse hat man sich daran gewöhnt, das Unbe­wusste besonders in der Existenz von unbewussten Trieben wie z. B. Sexualtrieben, Macht­bestrebungen oder auch einem Destruktions- und Todestrieb zu sehen. Ich halte das nicht für falsch, möchte hier aber einen ergänzenden Gesichtspunkte geltend machen.

 

Die Art unseres Bewusstseins ist mit Unbewusstsein verbunden. Wir sind auf eine Sache nur unter bestimmten Aspekten aufmerksam, indem wir andere Aspekte ausblenden oder gar nicht erst zur Geltung kommen lassen [wollen]. Diese Ausblendung kann mit „Blockaden“ und „Verkantungen“ verbunden sein. Gängige Redeweisen und weithin übliche Fragestellungen, die vielleicht nicht die zweckmäßigsten [in puncto „Wirklichkeitserkenntnis“] sind, können das Bewusstsein von Aspekten „blockieren“, weil es weithin üblich ist, sie zu übersehen. – Das Unbewusste hat also auch den sozialpsychologischen, überindividuellen Aspekt der Art, wie man üblicherweise redet und handelt, ohne es recht zu bemerken. Der Einzelne macht sich hier etwas zueigen, was er gar nicht bemerkt. Er übersieht den individuellen Charakter des Sich-zu-eigen-machens, weil es Redensarten und Verhaltensweisen betrifft, die weithin in Gebrauch stehen. Unser Geist bekleidet sich mit Versatzstücken weithin üblicher Rede-, Empfindungs- und Verhaltensweisen, ohne sich der Eigentätigkeit einer Aneignung dieser Versatzstücke bewusst zu sein.

 

Wir sind dann u. U. nicht in der Lage, zu ergänzenden Betrachtungen überzugehen. Genau dies ist die Art, wie sich das Unbewusste zeigt. Unser Nach­denken bleibt in Einseitigkeiten und Projektionen gefangen, ohne sich der Ergänzungsbedürftigkeit seiner Entwürfe bewusst zu sein. Insofern hat Unbewusstsein et­was mit einem gefangenen, unfreien Denken zu tun. Man sucht richtige Antworten dort, wo es allenfalls Halbwahrheiten und Einseitigkeiten gibt. Es besteht ein Widerstand, zur ergän­zenden Betrachtung überzugehen. Auch dort, wo es vielleicht nahe liegend wäre, etwas über den Tellerrand hinaus zu sehen.

 

Des weit verbreiteten Kampfes um Anerkennung, Nicht-Anerkennung, Geltungsmacht von Interessen und „Ideen“ sind wir uns ebenfalls nicht in ausreichendem Maße bewusst. Impo­niergehaben in Worten und Taten spielt eine große Rolle im mitmenschlichen Leben und wird oft unter dem Stichwort „Durchsetzungsfähigkeit“ und „Standpunktsfestigkeit“ gelobt. Aber vieles von dieser Durchset­zungsfähigkeit beruht auf irrationalen Geltungsansprüchen und fragwürdigen Wertvorstellun­gen, die im Licht des Bewusstseins betrachtet keiner Prüfung standhalten würden. Ein­schüchterung, polemische Redeweisen, Geltendmachen autoritativer Vorschriften und Rege­lungen gehören in das Arsenal der Strategien, im Kampf um Anerken­nung Dominanz zu ge­winnen. – Aber die Betroffenen sind sich ihres Dominanzstrebens selten bewusst. Sie glauben vielmehr, die Wahrheit sei auf ihrer Seite und damit sei vieles gerecht­fertigt. – So hat man auch unter dem Vorwand der „Glau­benswahrheit“ im schlechten Sinne „missioniert“ und dabei oft sehr weitgehend verkannt, was man wirklich tat. Man kann auch sagen: „verkannt, welches Spiel hier gespielt wurde“. Oder: „verkannt, was man anderen und der eigenen Sache letztlich antat. – Vorgebliche Zwecke sind selten die wirklichen und fast niemals die einzigen.

 

Das Unbewusste hat sehr viel mit einer Unbewusstheit bezüglich [der Art] des Bewusstseins selbst zu tun. Unter Bewusstsein verstehe ich beispielsweise die subjektive Aufmerksamkeit auf meine Wahrnehmungen und Empfindungen. In diesem Falle habe ich subjektives Wahr­neh­mungs­bewusstsein. Wahrnehmungsbewusstsein bezüglich der subjektiven Seite meiner Wahrneh­mungsin­halte, obwohl unter diesen Bewusstseinsinhalten welche sind, die objektiv Gegebenes betreffen mögen. Es geht hier hauptsächlich um das subjektive Bewusstsein des subjektiven Habens von Bewusstseinsinhalten verschiedener Art.

 

Bezüglich dieses Wahrnehmungs­bewusstseins ist selbst wiederum ein Bewusstsein möglich, nicht je­doch zwingend notwendig oder auch nur subjektiv-tatsächlich präsent. Wir sind uns z. B. subjektiv der [möglicherweise objektiven] Tatsache bewusst, dass die Sonne scheint. So kommt es uns jedenfalls vor, und dieses subjektive Vorkommen vergegenwärtigen wir uns. Wir sind uns seiner inne und bewusst. Nicht jedoch sind wir uns unbedingt der ebenfalls ge­gebenen [subjekti­ven] Tatsache bewusst, dass wir uns gerade der scheinenden Sonne und nicht z. B. des gleich­zeitig bestehenden Sachverhalts eines blauen Himmels bewusst sind. Im Falle des [subjektiv] aufmerksamen Bewusstseins der scheinenden Sonne kommt Bewusstsein des bewussten Inne­seins hinzu, im Falle des blauen, wolkenlosen Himmels eventuell nicht. Weil jeglicher Be­wussteinsinhalt wiederum zum Gegenstand einer weiteren Bewusstseinsre­flexion gemacht werden kann, ha­ben wir in jedem Einzelfall subjek­tiven [und objektiven] Bewusstseins eine potentiell unendliche Kette von höherstufigen Bewusstseinsinhalten, eventuell Aussagen über Aussagen von Aussagen in un­begrenzt wachsender Stufenleiter. Sage mir, wovon du Be­wusstsein hast, und ich werde dich danach fragen, ob du auch Bewusst­eins dieses Bewusst­seins hast. Das ist eine potentiell unendliche Reihe.

 

Wir haben unterschieden in ein Wahrnehmungsbewusstsein von subjektiven und objektiven Inhalten, bzw. Gegebenheiten. Hinzu kommt m. E. ein Bewusstsein bezüglich verschiedener Denkbarkeiten, also bezüglich von Begriffen und Aussageinhalten. Diese Art von Bewusst­sein, also die Aufmerksamkeit bezüglich Denkbarkeiten „manifestiert“ sich zwar im subjekti­ven Bewusstsein, ist aber nicht mit einzelnen Momenten des subjektiven „Bewusstseins­stroms“ in seinem unwiederbringlichen Dahinfließen gleichzusetzen. – Ich kann wiederholt denselben Gedanken haben und befinde mich dennoch kein zweites Mal in demselben Mo­ment meines Bewusstseinsstroms. – Wenn wir typisch menschliche Phäno­mene wie z. B. Sich-Sorgen-Machen, Begehrlichkeiten usw. betrachten, fällt uns auf, dass uns unser Den­ken weit über den Umkreis des subjektiv und objektiv tatsächlich Gegebenen hinausführt. Wir laborieren an konjunktivischen Potentialitäten und Eventualitäten, die geschehen könnten, aber keineswegs geschehen müssen oder gar schon geschehen sind. Dies geschieht zwar im Sinne eines Probehandelns, weil wir un­sere Interessen unter allen denkbaren Umständen wahren möchten, führt uns aber oft genug dazu, tatsächlich gegebene Umstände und nahe liegende Zweckmäßigkeiten wegen Möglich­keitsbesorgnissen zu übersehen, wobei diese Besorgnisse eine unbefangene Auffassung der Wirklichkeit oft genug regelrecht blockieren. – Die tendenziös überschießende Richtung unserer Sorgen, zuzusagen unser „Sorgenpro­gramm“, ist übrigens auch ein Beispiel für etwas, was unserer Aufmerksamkeit weitgehend entgeht. Deshalb muss man sich biswei­len auch einmal von seinen Sorgen distanzieren. Al­lerdings nicht auf eine Art, die alles nur noch schlimmer macht.

 

In unserem subjektiven Bewusstseinstrom „manifestieren“ sich also auch Denkbarkeiten. Üb­rigens oft in Form von Wortanwendungsregeln und sprachlichen Intuitionen bezüglich ir­gendwelcher Ausdrucks- und Benennungsweisen, die auf eine bestimmte Situation passen würden. „Wie würden wir reden, wenn das und das der Fall wäre?“, „würden wir noch von X reden, wenn nicht Y wahr wäre?“ das sind Fragen, mit denen wir auf spitzfindige Weise unse­res [vermeintlichen und vielleicht auch wirklichen] Wortbe­deutungswissens inne werden können. Die „Realisierungen“ von Denkbarkeiten im „stream of consci­ousness“ stehen in enger Verflechtung mit Stimmungen, Gefühlen, Bedürfnisrei­zen, dem inneren Drang, so und so zu reden usw.. Interessanter Weise gehören zu den Denkbarkeiten auch nicht-empirische Denkbarkeiten, wie z. B. Aussageinhalte über das Verhältnis zweier Zahlen [„2 + 2 = 4“] oder die allgemeine Beschaffenheit des Bewusst­seins selbst im Un­terschied zu seinen verschieden­artigen einzelnen Inhalten. Sogar hier gibt es den Mangel an Aufmerksamkeit dafür, obwohl es sich doch um Bewusstseinsangele­genheiten handelt. Es gibt also Unbewusstsein bezüglich subjektiver und objektiver Umstände und sonderbarer Weise auch Unbe­wusstsein bezüglich des Bewusstseins selbst.

 

Wir sind uns einer Sache oder Situation unter einem bestimmten Aspekt bewusst, aber es ist uns u. U. nicht bewusst, dass man dieselbe Sache oder Situation auch unter anderen Aspekten auffassen kann. Auf diese Weise regiert uns das Unbewusstsein: andere Auffassungsvarianten und Selektivitäten des Bewusstseins als die eigenen Versionen ziehen wir nicht in Betracht. Derart denken und handeln wir weitgehend ohne Bewusstsein. Was uns abgeht, ist die Refle­xion darauf, wie sich die Situation unter anderer, ebenfalls berechtigter Sichtweisen darstellen könnte. Der Möglichkeit einer anderen, ebenfalls berechtigten Sichtweise sind wir uns nicht bewusst. Des leitenden Gesichtspunkts der Eigenperspektive ebenfalls in der Regel nicht.

 

Ich nehme an, dass wir die Selektivität und den Ausblendungscharakter unseres Bewussteins un­ter keinen Umständen loswerden können. Wir können lediglich nach Bedarf, wenn wir ihn fühlen, Ergänzungen vornehmen, die ihrerseits einer anderen Selektivität unterliegen. Bereit­schaft zu ergänzenden Sicht­weisen ist die Art von Offenheit, zu der wir u. U. fähig sind. Genau hiergegen richtet sich jedoch der von der Psychoanalyse in’s Spiel gebrachte „Wider­stand“, der psychologische „Abwehrme­cha­nismus“. Unserem Bewusstsein eignet  eine unbewusst gewollte, unbe­wusste Selektivität und Ein­seitigkeit. Man kann gewiss nicht auf alles achten, besonders dann, wenn man in Eile ist, aber das Problem mit dem Unbewussten besteht darin, dass wir auf ge­wisse, für uns vielleicht typische Achtlosigkeiten, nicht aufmerk­sam gemacht werden wollen. Auch wenn es vielleicht zweckmäßig wäre, sich der verengten Sichtweise [„Tunnelblick“], bzw. der charakteristischen Selektivität unserer Aufmerksam­keit bewusst zu werden, sind wir zu dieser Bewusstseinsleistung oft nicht in der Lage. Bzw. wir sind nicht dazu bereit, uns die­sen Mangel an Offenheit einzugestehen.

 

Das Unbewusste fächert sich auf in ein erkenntnismäßig [kognitiv] Unbewusstes und ein wil­lensmäßig [volitativ] Unbewusstes, wobei es „in der Praxis“ hauptsächlich Mischformen des aspekt-reduzierenden Bewusstseins gibt, das unbewusst willentlich verfährt. Es kommt also zu unbewusst willentlichen Wahrnehmungsverlusten.

 

Natürlich wird uns an dieser Stelle klar, dass z. B. das Unbewusste des Sexualtriebs gar nichts anderes bedeuten kann, als dass wir eine bestimmte Art von Bewusstsein und bestimmte In­halte des Bewusstseins wegblenden bzw. wegzensieren, indem wir über bestimmte Motive und Interessen, die wir haben, nicht wirklich nachdenken wollen. In vielen Fällen besteht ein Mangel, bestimmte Motive sogar uns selbst gegenüber zuzugeben. Auch unser Macht- und Geltungsstreben, sowie das damit sich verknüpfende Impo­niergehabe, entgeht uns weitge­hend, indem wir keine Aufmerksamkeit dafür haben, wie vor­laut und Dominanz erstrebend unser Gesprächsverhalten ist. Der Gestus unseres Denkens und Sprechens, besonders dessen subtile Wirkungen und Rückwirkungen auf andere und uns selbst entgeht uns in hohem Maße. Wir inszenieren uns selbst, ohne es zu bemerken.

 

Das übrigens ist der Unterschied des alltäglichen und des richtigen Theaters: Alltägliches Theater dient der Verbergung der wirklichen Hintergründe vor andern und uns selbst. Das richtige Theater dient der Selbsterkenntnis des Menschen, der willentlichen und bewussten Darstellung typisch menschlicher Dinge.

 

Das Wort „Bewusstsein“ kann weitgehend durch das Wort „Aufmerksamkeit“ vertreten wer­den. Unbewusst wäre demnach dasjenige in unserer Denk-, Erlebnis- und Verhaltensweise, was sich unserer Aufmerksamkeit auf eine besondere Art entzieht: aufgrund inneren Wider­stands [Abwehr] und geistiger Blockade. Aufgrund eines unbeachtet willentlichen Moments, bzw. aufgrund eines Moments gewollter Achtlosigkeit. Wir möchten nicht wissen, was wir tun, weil wir dann nicht mehr unerkannt und achtlos tun könnten, woran uns irgendwie liegt.

 

Tiefsitzende Illusionen bzw. Verblendungen erhalten sich durch einen Mangel an vernünfti­gen Fragestellungen. – Die Art unserer Fragestellungen gibt vermutlich unserem Denken [im Ge­genzug zu unserem „Tatsachen- und Faktenwissens“] ein für uns typisches Ge­präge. Ein Vermeidungsverhalten bezüglich richtiger und berechtigter Fragen geht auf ein Motiv ge­wollter Achtlosigkeit zurück, dessen Nicht-Nachweisbarkeit [bzw. schwierige Nachweisbar­keit] man sich zunutze macht. Ob­wohl der „Denkungsart“ große Wichtigkeit [für das „Le­ben“] zuerkannt werden muss, ist die Grenze zur Nicht-Nachweisbarkeit schnell überschrit­ten. Es besteht im übrigen die Gefahr ei­ner vor­witzigen oder gar inquisitorischen Menschen­ausforschung mit projektiven Unterstel­lungen und ihrerseits nicht hinterfragten Motiven, Absichten und Hinsichtnahmen.

 

Die Einsicht, die er [in Fragen seines Unbewusstseins] braucht, kann jeder nur in sich selbst finden. Ob sich dies besser durch Gespräche, durch Aufmerksamkeitsübungen, durch Medita­tion oder durch Ein­übung anderer Verhaltenssequenzen realisieren lässt, ist von vornherein nicht für alle Fällen gleichermaßen entscheidbar. Placet experiri. Großes Gewicht kommt aber wohl in fast allen Fällen der Vermei­dung von blindem Ausagieren und hektischer Betrieb­samkeit zu. Es geht ja in vielen Fällen einer unbewussten und doch irgendwie als zweckwid­rig empfundenen Subjektivität um Ablö­sung, Abstandnahme und Distanzierung zum Zweck der Einübung neuer, weniger verfängli­cher und belastender Denk-, Empfindungs- und Ver­haltensmuster.

 

Die Wirklichkeit ist ein Ganzes aus unterschiedlichen Eigenschaften und Relationen. Je nach Sichtweise werden uns andere dieser Eigenschaften und Relationen bewusst. Unser Bewusst­sein arbeitet unvermeidlicher Weise selektiv und reduziert die Auffassung der Wirklichkeit auf einige wenige Aspekte, die uns besonders interessieren. Der uneingestanden gewollte Mangel an Aufmerksamkeit für diese Reduktion ist ein wichtiges Beispiel für Unbewusstsein.

 

Trotz der unvermeidlichen Selektivität unseres aspektreduzierenden Denkens könnten wir nämlich der Wahrheit und Wirklichkeit gerecht werden, indem wir im Bedarfsfall dazu bereit wären, zu ergänzenden Sichtweisen überzugehen. In vielen Fällen aber blockieren wir andere Sichtweisen als die von uns favorisierten. Wir möchten nicht erkennen, dass es eine Frage der Entscheidung ist, bestimmte Sichtweisen nicht gelten zu lassen. Wir übersehen das konstruk­tivistische, dezisionistische Gepräge der eigenen Sichtweise. Wir halten die eigene Sichtweise für trivial und selbstverständlich, für die sachlich einzig mögliche. Wenn auch nicht in allen Details, so doch im Großen und Ganzen, im Prinzip also.

 

Im menschlichen Mit- und Gegeneinander, sei es in Situationen von gleich zu gleich, beson­ders aber in Situationen hierarchischer Über- und Unterordnung, spielt das Unbewusst­sein in Form von stillschweigenden, oft uneingestandenen Erwartungen und Projektionen eine große Rolle. Wir wirken mit unseren Handlungen, Unterlassungen, Verhaltensprogrammen, Stim­mungen und Verhaltensweisen wechselseitig aufeinander ein. In gemeinschaftlicher Wech­selwirkung, bei der vieles unserer Aufmerksamkeit entgeht, erzeugen wir Situationen, die kein Beteiligter dezidiert und explizit „so“ gewollt hat. Den­noch stellen diese Situationen das Ergebnis unse­res gemeinschaftlichen Handelns dar, an dem wir alle irgendwie beteiligt wa­ren. Hier ergeben sich viele Möglichkeiten, sich seines Eigenanteils an der allgemeinen Situ­ation bewusst oder nicht bewusst zu sein. Demgemäß erleben sich viele von uns aus einer Opferperspektive, fremdbestimmt und von außen gesteuert, manche allerdings auch aus der Perspektive des Tä­ters, der sich vieles zurechnet, Eigenanteile und Eigenverant­wortung an der gemeinschaftlich erzeugten Situation anerkennt und nicht verleugnet. Das sind die Extreme der möglichen Sichtweisen.

 

Tatsächlich sind wir fast immer Mit-Täter und Mit-Opfer in einem. Die entstehenden Erwar­tungsprägungen, Er­lebnis- und Verhaltensweisen verfestigen sich zu typischen Abläufen. Es erzeugt sich im allgemeinen Mit- und Ge­geneinander eine gesellschaftliche Situation mit Üblichkeiten, Erwartungsschemata usw.. Sozusagen eine übergreifende Gesamtschwingung, welche auf den kleinen Schwingungen der einzelnen aufsitzt und darauf modifizierend zu­rückwirkt. Was wir dabei tun und nicht tun, vor allem aber, was wir uns im Endeffekt wech­selseitig antun mit unseren Verhaltensweisen, Üblichkeiten, aus­drücklichen und unausdrück­lichen Erwartungen, entgeht weitgehend unserer Aufmerksamkeit, je nach Interessenlage.

 

Es gibt übrigens, wenn man darüber diskutiert, keinen allgemeinen Konsens darüber, was wem im einzelnen zuzurechnen ist und was nicht. Fragen der Imputation führen oft zu endlo­sen Diskussionen. Es er­öffnen sich weite Felder der ideologischen Konstruktion. Im Streitfall benötigt man einen Richterspruch darüber, wer was wem angetan hat, und mit welchen vorge­sehenen Konsequenzen. „Wer ist schuld, wer haftet und wer muss zahlen?“ ist eine typisch juristische Fragestellung. Wie man solche Fragen entscheidet, hängt selbstverständlich vom historisch-gesellschaftlichen Stand der Rechtsentwicklung ab. Entsprechende Standards betreffen Fragen der verfestigten Üblichkeiten, die aus den „entäußerten“ Folgen menschli­chen Mit- und Gegeneinanders resultiert haben. Und ganz im Hintergrund des Problems ent­decken wir Ansichten über das wahrhaft Vernünftige und Gerechte, worüber allerdings nie­mals in der Menschheitsgeschichte ein allgemein anerkannter Minimalkonsens hat etabliert werden können.

 

Es handele sich nun um Fragen der Gerechtigkeit, des geltenden Rechts oder auch um andere Fragen: Die vorgeblichen Zwecke des menschlichen Tuns und Denkens sind oft nicht die wirklichen und selten die einzigen.

 

An dieser Stelle tritt die Versuchung zu einem zirkelhaften Definitionsversuch auf: Unbe­wusst ist uns, worauf wir aufgrund eines unbewussten inneren Widerstands unsere Aufmerk­samkeit nicht richten können oder wollen. Der Zirkel liegt wahrscheinlich deshalb nahe, weil Unbewusstsein dem Schema des Gegenstandsbezugs unterliegt [Intentionalität]. Bewusstseins ist in der Regel Bewusstsein von etwas, und nicht von nichts. Ebenso ist Unbewusstsein Un­bewusstsein von etwas und nicht von nichts. Ich vermute deshalb, dass es sich beim Unbe­wusstsein um einen defizienten Modus des Bewusstseins handelt. Dies steht im Gegensatz zu manchen Verlautbarungen aus den psychoanalytischen Schulen. Unbewusst willentlich ist die Weigerung, bestimmten Dingen Aufmerksamkeit zu schenken. Dennoch müssen wir m. E. an der potentiellen Bewusstseinsfähigkeit dieser Phänomene festhalten. Wie sonst könnten wir sie jemals entdecken und darauf aufmerksam werden? Diese Dinge sind bewusstseinsförmig und sprachlich „verfasst“. Irgendwann einmal drängen auch sie zu Bewusstsein, und wir fin­den die richtigen Worte dafür, die das Brett vor unserem Kopf wegnehmen. Das Brett vor unserem Kopf ist die uns unbewusste Voreinstellung, die der freien Sicht im Wege steht und die Sichtweise unbewusst willentlich einengt, indem der Übergang zu ergänzenden Aspekten ausgeschlossen wird.

 

Mit Worten können wir Realitäten bezeichnen, mit Worten können wir Realitäten verbergen, mit Worten können wir unser Hirn gleichsam verkleistern. Der Gebrauch der Rede dient weitgehend der Aufmerksamkeitslenkung. Dinge, auf die ich aufmerksam machen möchte, rücke ich in das Licht der Aufmerksamkeit, andere Aspekte der Situation kommen eventuell nicht zur Sprache. Die Frage nach dem Unbewussten erhebt sich dort, wo ein Übergang zu einer ergänzenden Sichtweise verhindert werden soll. Wenn man den ergänzenden Aspekt nicht wahrhaben will, sich dieses Willens aber nicht recht bewusst ist, sondern ihn einfach praktiziert, dann ist da etwas unbewusst gewollt Unbewusstes.

 

Der unbewusste Wille zum selektiven Bewusstsein ist das Unbewusste. Seine Denkfigur ist das ausschließende Oder. Weil Sichtweise A einen berechtigten Aspekt beinhaltet, möchte man nicht wahrhaben, dass es einen ergänzenden Aspekt B gibt. So erhalten wir das Phäno­men einer unbewusst gewollten, fixierenden Einseitigkeit, die ergänzende Aspekte nicht gel­ten lassen möchte, diese tendenzielle Bevorzugung aber nicht bemerkt.

 

Es fällt uns an dieser Stelle leicht anzugeben, warum das ausschließende Oder, bzw. die übertreibende Allgemeinheit der Aussage, typische Denkfiguren des Unbewussten sind. Es war ja gerade der unbewusste Widerstand gegenüber der ergänzenden und relativierenden Sichtweise, der für das Phänomen des Unbewussten einen Teil der Definition ausmacht. In der autobiographischen Reflexion kann man z. B. erkennen, dass man sich zuzeiten gegen Sichtweisen gesträubt hat, zu denen man heute ohne Schwierigkeit überzugehen vermag. Man pflegt Animositäten und Polemiken, weil man bestimmte berechtigte Punkte in Sichtweisen, die nicht die eigenen sind, nicht anerkennen möchte. Es muss eine Verlustangst bezüglich des eigenen Standpunkts existieren, um zu erklären, warum uns der Übergang zu ergänzenden Gesichtspunkten bedrohlich erscheint. Vernünftiger Weise zu erwarten wäre nämlich ledig­lich, dass die berechtigten Punkte verschiedener Sichtweisen sich zu einer ganzen Wahrheit zwanglos ergänzen.

 

Es gibt kaum eine These ohne Hypothese und kaum eine Auffassung menschlich-unmenschli­cher Dinge [Situationen] ohne Projektion. Projektion heißt, dass uns aus weitgehend subjekti­ven Gründen eine Situation oder Person in einem bestimmten Licht erscheint, also ohne dass es ausrei­chende objektive Gründe dafür gibt, wenn man etwas länger darüber nachdenkt. Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass sich in menschlichen Angelegenheiten die angebliche Sa­che selbst ändert, wenn man beginnt, darüber nachzudenken. Es fällt einem dabei auf, dass man manches auch anders ansehen könnte, als man es tatsächlich tut, bzw. dass unbestreitbare Fakten allein uns nicht zu den Ansichten, die wir haben, berechtigen. Allseits unbestrittene Fakten bezüglich des Sachgehalts menschlicher Situationen gibt es wahrscheinlich nicht viele. Ich wüsste jedenfalls kaum ein Beispiel zu nennen.

 

Frage: „Warum ist das Unbewusste eine Unfriedensstifter ersten Ranges?“ Zunächst: Unbe­wusstsein ist kein Unfriedensprinzip schlechthin. Viele Fälle von Einverständnis und Ge­meinschaft erfolgen aufgrund einer Gemeinsamkeit des Nicht-in-Frage-Stellens. Im Nicht-Erkennen bestimmter Dinge, in einem Sich-nicht-Eingestehen-Wollen liegt eine List der Selbsterhaltung verborgen. Dies hatte bereits N. bemerkt: Im Selbstbetrug ist eine List der Selbsterhal­tung enthalten, zumindest ein Motiv, sich der Realität zum Trotz bei Laune zu halten. Den­noch kann man sich klar machen, dass das Unbewusste ein Unfriedensprinzip ist, denn es besteht ja weitgehend darin, dass wir uns nicht eingestehen wollen, was wir mit den von uns angenommenen Denk- und Verhaltensweisen uns gegenseitig antun. Wir fallen uns damit zur Last. In diesem Fall läuft das Unbewusste auf ein Prinzip der Beharrlichkeit in Denk- und Verhaltensweisen hinaus, mit denen wir dem anderen antun, was dieser nicht wünscht und was der Möglichkeit einer gemeinsamen Freiheit nicht entspricht. Derart wird die Blockade des Be­wusstseins zu einem Hindernis freien Einver­nehmens und freiwilliger Gemeinsamkeit, in welcher sich jeder wieder finden kann. Ein Hindernis der gemeinsamen Freiheit ist ein Frie­denshindernis und führt zwangsläufig zu Konflikten.

 

Das Unbewusste ist also eine Art des Sich-etwas-zu-eigen-Machens, was man sich nicht ein­gestehen kann und will. Es gibt Dinge, die man an sich selbst nicht bemerken und zugeben möchte, obwohl man sie sich zueigen gemacht hat. Das sind Strategien der Stimmungsmache, der Dominanz und des Sich-Durchsetzens. Das Unbewusste liegt in der Art, wie uns unsere Interessen blind machen, dass wir in einer gewissen Weise nicht wissen wollen, was wir ei­gentlich tun.

 

Unbewusstsein betrifft die Betriebsblindheit in vielen Lebensbereichen. Ich handle so und so und leugne bestimmte Zusatz- und Hintergrundmotive, wenn man mir diese Zusatzmotive nicht ohne weiteres wird nachweisen können. Die von mir allgemein zugestandenen Motive meines Denkens und Verhaltens sind aber „tatsächlich“ nicht die einzigen. – Das menschliche Leben besteht zu einem großen Teil aus Vorwänden und Rationalisierungen. - Es gibt über die offizielle Verlautbarungen hinaus Verhaltensweisen uneingestandenen erotischen Stre­bens, uneingestandener Aggression, gruppenspezifische Verhaltensweisen des Einschlusses und Ausschlusses, der Anerkennung und Verwerfung, uneingestandene Schuldzuweisungen und viele weitere weitgehend betriebsblinde Aktionen. Es ist also durchaus eine immerzu interessante Frage, was neben und verbunden mit der propagierten Darstellung eines mensch­lichen Geschehens ebenfalls geschah. Auch hier ist die Wirklichkeit und Wahrheit ein Ganzes sich ergänzender Aspekte. Das unbewusste Motiv muss nicht das eigentliche Motiv sein. Es kann sich auch um ein ebenfalls bestehendes Motiv handeln.

 

Auch in Wertungsfragen sind wir oft betriebsblind bezüglich dessen, was wir uns antun. Wir propagieren mitunter Gesichtpunkte, die nicht der gemeinsamen Freiheit dienen. Man kann hier von lebensfeindlichen Denk- und Verhaltensweisen sprechen. Oder von Unsitten. Sitten, bzw. gute Sitten, wären diejenigen, die letztlich der gemeinsamen Freiheit aller dienen. Tat­sächlich praktizieren wir dagegen sehr oft eine partikulare Freiheit, die zu Lasten von anderen geht. Die ganze Sphäre unserer Wertungen ist von partikularen und ideologischen Stand­punkten durchzogen, ohne dass uns dies tatsächlich bewusst wäre. Es gibt hier Formen von Heuchelei, die gegen Anfeindungen immun sind, weil Heuchelei, die zumindest eine formelle Anerkennung der guten Sitte darstellt, immer noch besser ist als deren offene Missachtung.

 

Die Trennung des Hausmülls zu Recycling-Zwecken kann sicherlich zu Zwecken der gemein­samen Freiheit aller, auch zukünftiger Menschen, propagiert werden. Als „gute“ Sitte und „echter“ moralischer Wert. Was wir aber ebenfalls sehen, sind Formen von entstehender sozi­aler Kontrolle, durch welcher der Haus- und Gewerbemüll des Nachbarn der Beargwöhnung verfällt. Fragen der Kontrolle, der Kontrollanmaßung und des Kontrollrechts schließen sich an. Auf Grundstücken mit verschiednen Haushalten ist zunächst die Verpackung des Haus­mülls in undurchsichtige Beutel die Folge. – Das ist das Doppelgesicht der Moral im tatsäch­lichen Zusammenspiel menschlicher Verhaltensweisen: Selbst wirkliche Werte, die der ge­meinsamen Freiheit dienen, geraten in „eigentlichen“ und „uneigentlichen“ Gebrauch. Es gibt also nicht nur den Gegensatz von Scheinwerten und eigentlichen Werten, sondern auch noch den Gegensatz von verschiedenen Gebrauchsweisen des als „gültig“ angenommenen Wertes. Auch deshalb sind Wertungsfragen mit ihren bewussten und unbewussten [„betriebsblinden“] Praktizierungsweisen fast unglaublich kompliziert.