Von der Schmerzlichkeit des Entbehrens

 

Diese Schrift hat ihren Anlass in der Beobachtung tanzender Paare im sommerlichen Kurgarten nach der Tren­nung von einer langjährigen Freundin und Tanzpartnerin. Nachdem ich durch den schönen Anblick der Som­mertänze und den Ge­nuss einiger Gläser Bier mehrmals psychische Krisen ausgelöst hatte, entschloss ich mich, das Problem mit eini­gen Gedanken­experimenten „übend“ und ein wenig „verhaltenstherapeutisch“ anzugehen. Zu Ende des Sommers war ich tatsächlich wieder imstande, den tanzenden Paaren ohne allzu große emotionale Verwirrung zuzusehen.

 

Man soll die Freuden des Lebens genießen, wo und solange sich die Gelegenheit dazu bietet. So hört man es, so spricht man ebenfalls. Nur wenige sehen im Verzicht auf das, was sie „ha­ben“, „bekommen“ und genießen  könnten, die zweckmäßigere Übung, bzw. das „höhere“ Ziel. „Askese“ [griech., Bedeutungsspektrum von Übung bis Eingewöhnung] ist das Vergnü­gen an Dingen, die wir haben könnten und auch gerne hätten, ihnen aber doch aus irgendei­nem Grund entsagen. – Ohne den Sinn für Höheres, der A. zu­folge den Banausen fehlt, gibt es so etwas allerdings nicht. – Aber es kann auch ein Mangel an Talent für Zufriedenheit und Glück sein, wenn man erreichbare Freuden verschmäht.

 

Dass man erreichbaren Freuden „entsagt“ und darauf verzichtet, ist ein Fall, der sich häufiger ereignet, als man zunächst vermutet. Dies geschieht oft deshalb, weil man sich etwas anderes in den Kopf gesetzt hat. Man hat sich auf andere Erwartungen und Wünsche festgelegt. Die Aufmerksamkeit ist präokkupiert [„vorbesetzt“] und befangen. Man verliert damit den Blick für die sich bietende Gelegenheit in anderen mögli­chen Vorhaben. Die Starrheit unserer Wünsche und Ziele zeigt hier eine destruktive Seite. Es ist die Verhaltens­weise z. B. auch eines trotzigen Kindes, das auf seiner Untröstlichkeit besteht. Der heroische Zug in dieser Haltung ist unverkennbar. Die starre Fixie­rung auf ein Ziel kann also leicht als „Unbeugsamkeit“ und „Zielstrebigkeit“ eines „festen Wil­lens“ erscheinen. Es handelt sich aber um eine finstere Spielart von „Willensunbeugsamkeit“ und „freiwilligem“ Verzicht  Hier „tut sich jemand etwas an“, indem er hart zu sich selbst [und andern] ist, um etwas [durch Stim­mungsdruck] zu erzwingen. Er kommt von einer intensiven Forderung, nicht los. Der starre, unflexible Anspruch führt zu Gefühlen der Kränkung, des Selbstmitleids und einer inneren Blockade. – Wir können nicht loslassen, denn wir haben uns festgebis­sen.

 

Was soll man nun aber tun, wenn man auf Hin­dernisse und Man­gel an günstiger Gelegenheit trifft? Dann sollte man sich in Verhaltens­weisen der Ruhe, der Geduld und der Ge­lassenhei­t üben. Man muss es erlernen, mit unerfüll­ten Wünschen auf eine konstruktiv zweckmäßige Weise umzu­gehen. Pri­mum nil nocere: zuerst einmal keinen „Schaden“ anrichten. Keine fremd- und selbstschä­digen­den Denk- und Verhaltensweisen annehmen! Wenn uns dies ge­länge, das Er­reich­bare zwang­los zu ergrei­fen und das, was wir nicht ohne Not für andere und uns selbst er­halten oder errei­chen können, zwanglos sein zu lassen, bzw. uns ausschließ­lich konstruktiv darum zu bemü­hen, dann wären wir „weise“ und „klug“ in einem.

 

„Weise“, insofern wir die Eigenverschuldung vermeidbarer [Zusatz-]Übel [für andere und uns selbst] vermeiden würden. „Klug“, insofern ein solches Verhalten auch unserem gut verstan­denen Eigeninteresse, jeden­falls auf etwas längere Sicht, oft am besten entspricht, weil es einen Gesichtspunkt von „Be­dürfnisintegra­tion“ enthält, der uns bei aufgeregtem Tun verlo­ren geht. Der Gesichtspunkt einer größten Menge des Glücks [„Glückseligkeit“] versagt in der Begründung „echter“ Ge­bote [und Verbote] einer freien Sitte, behauptete Kant, m. E. zu Recht. Argument dafür war die unsichere Mutmaßlichkeit empirischer Aussagen, in allgemei­nen. noch dazu: normativen Fragen. Dennoch enthält der ethische Ge­sichtspunkt [wechselsei­tig bestehender Freiheit] ei­nen Aspekt der Harmonisierung menschlicher Verhaltenswei­sen mit andern und auch mit sich selbst, den man, cum grano salis, „eudämonisch“ nennen kann. Das Glückseligkeitsmotiv versagt in der Moralbegründung, frei nach N. kann man nämlich, - in heroischer Geste -, fra­gen: „Was liegt mir denn an meinem Glück?“ – Leute, die in „Ver­wirrung des Herzens“ ihr Unglück erstreben, gibt es offenbar sehr viele, da war N. kein Ein­zelfall. - Dennoch, wenn wir das Prinzip der gleichen Freiheit aller in einer Moral der freien Sitte als selbstgenügsam und kei­ner weiteren Begründung bedürftig erkannt haben, kann man sagen, dass dieses Prinzip auch „eudämo­nisch“ von Relevanz ist, weil dem Menschen durch die Beachtung dieser „Re­gel“ eine Art „Gegnerschaft zu sich selbst“ erspart bleibt. Er steht unter dem Gebot, eine Harmoni­sierung seiner Denkungs-, Stimmungs- und Verhaltensarten zumindest [„immer­hin?“] zu ver­suchen. Dieses Harmonisierungsgebot begründet sich aber nicht durch Ableitung aus einer Menge empirischer Einzelfallbetrachtungen [bezüglich des Erreichens von Glück und Erfolg bei handelnden Individuen]. Mit einem Anflug von Ironie, hoffentlich nicht allzu bitter, kann man sagen, wahre Tugend be­gründe und motiviere sich durch sich selbst, der Gesichts­punkt der Glücks­vermehrung bzw. der Leidensvermeidung ist lediglich [bzw. im­merhin] „kollateral“, - aber nicht zwangsläufig -, damit verbunden.

 

Ruhigen Blutes auf etwas verzichten zu können, was man nicht „haben“ kann, hat etwas mit Seelengröße und persönlicher Souveränität zu tun. Man vermei­det dadurch die Bitternis des Ressentiments sowie die Erstarrung im Gefühl des Zu-kurz-Ge­kom­men-Seins. Man kann in Ruhe darüber nachdenken, wie man die Sichtweise einer Situa­tion, sein Verhalten in die­ser Situation, - und auch die Stimmung -, etwas modifizieren könnte, um einen Zustand größerer Zufrie­den­heit zu errei­chen. „Große“ Wunschziele, in Übereinstimmung mit all unseren Er­wartungen werden wir sel­ten erreichen, mit oder ohne Geduld, aber es gelingt uns mit Geduld und Gelassenheit mit größerer Wahrscheinlichkeit, einer Situation „das Beste“ abzu­gewinnen. – Ein Zustand höhe­rer Zufriedenheit ist oft ein Zustand höherer Be­dürfnisintegration. Man muss vorsichtig sein sich einzureden, man hätte zwingende Gründe zur Unzufriedenheit. Es führt zu Stress und „Muss-Turbation“. (A. Ellis)

 

In der Operette „Zum weißen Rößl am Wolfgangssee“ singt Leopold: „Zu­schaun kann i net!“– Es geht bei Leopold um das Gefühl und die Ver­haltens­weise der Eifersucht wegen der Zuneigung einer Frau. Das Ziel, die Zuneigung einer Frau zu gewinnen, ist bekanntermaßen ein Haupt­punkt männlichen Bestrebens. Es ist, für sich selbst betrachtet, ein akzeptables Ziel, Verhaltensweisen der Eifersucht, der Konsequenzmacherei und der Vorwürfe aber, wenn es Schwierigkeiten gibt, sind nicht empfehlenswert. Genau genommen übt man dadurch Mani­pulation, Stimmungs­mache und subtile Nötigung aus, was der höheren Moral einer gleichen Freiheit [in der Selbstbestim­mung] [aller Betei­ligten] wi­derstreitet.

 

Exkurs über widersinnige Denk- und Verhaltensmuster: Eifersucht, Vorwurfshaltungen und viele andere, uns nahe liegende Verhaltens- und Empfin­dungsweisen, bewirken sehr oft das Gegenteil von dem, was wir eigentlich wünschen. – Es sei denn, man geht davon aus, es sei hauptsächlich unser Wunsch, giftige und unsym­pathische Denk- und Verhaltensprogramme um ihrer selbst willen auszuagie­ren. Diese sind irgendwie kontraproduktiv und verderben jedem die Laune. - Heiterkeit ist die Quelle günstiger Einfälle, wie Vauvenargues schrieb. Man darf ergänzen: „Weil eine gewisse Art von Heiterkeit die Quelle günstiger Einfälle ist, ist es eine ernsthafte Aufgabe, sich darum zu bemühen.“ - Dass man das freie Einvernehmen der Ge­fühlserwi­derung, also die Resonanz zarter Herzens­empfindungen durch Vorwürfe, Konse­quenzmache­rei, Eifersucht, Groll, kleine Rache- und Vergeltungsakte, Pflege von Animositäten u. dgl. herbeizuführen können glaubt, grenzt an Wahnsinn. Es ist ein besonderes Problem, wie es dazu kommen kann, dass man zarte und gif­tige Empfin­dungsweisen so leicht miteinander verknüpft. Sa­rastro in Mozarts Zauberflöte ist da schon etwas weiter, wenn er mit seinem kollosalen Bass, in getragener Erhabenheit, singt: „Zur Liebe kann ich dich nicht zwingen, doch geb’ ich dir die Freiheit nicht!“ Durch solche Gesten verliert der Ernst des Le­bens seine Schrecken, weil diese Gesten ein Stück ironischer Selbstdistanzierung bein­halten. Ist ihm, Sarastro, erst einmal klar, dass er Pamina nicht zur Liebe zwin­gen kann und darf, wird er bald auch nicht länger versuchen, sie gefangen zu hal­ten. – Aller­dings gibt es die verzwickten Sonderfälle einer „ideologischen“ Umdeutung des Gefängnisses als „Nötigung zur Besserung“, „erzieherische Maßnahme“ usw.. – Von diesen Fällen, in denen man eine Pädagogik nötigender Maßnahmen angeblich oder wirklich zum Zwecke der Freiheitsent­faltung ausübt, sehe ich hier ab. Besonders bei erwachsenen Men­schen kann man davon aus­gehen, dass „erzieherische Maßnahmen“ verletzend wirken und der gemeinsamen Freiheit nicht dienlich sind. – Wir sind bereits erzogen und stehen jetzt vor der Aufgabe, aus freiem Ermessen von unseren Lebenskräften zweckmäßigen Gebrauch zu ma­chen.

 

Die Nöti­gung eines Freiheitswesens ist ein Kampf. Ein Kampf um [die Aufrechterhaltung von] Nicht-Anerkennung, der eine Gleich­gewichts­störung in der Möglichkeit einer Harmonie freiheitsbe­gabter Wesen hervorruft. Umgekehrt: der Kampf um Anerkennung ist, wie Hegel gesehen hat, ein „dialektisches“ Re­alphänomen des menschlichen Lebens und der sozialen Realität und kann, je nach Ge­schmack, im „Ge­schlechterkampf“, in „Klassenkämpfen“ in Min­derheits- und Dritte-Welt-Problematiken aufgezeigt werden. – Klassenkampf finden wir bei K. Marx, Geschlechterkampf, Dialektik der Anerkennung und des Selbstbewusstseins, mit Verzweigungen auf Reflexionen bezüglich Masochismus- und Sadismus z. B. bei Sartre, in dessen frühem Hauptwerk „das Sein und das Nichts“. Im Grunde genommen läuft der „Kampf um Anerkennung“ darauf hinaus, dass der Mensch seinen Mitmenschen unter dem Einfluss irgendwelcher Interessen nicht mehr als seinesgleichen erkennt, sondern „instru­mentalisiert“. - In „verblendetem Wahn“, wie ein theatralischer Dichter schreibt [Empedo­kles]. Axel Honneth spricht von „An­erkennungsvergessenheit“, in interessanter Parallele zu Heideggers „Seinsvergessenheit“. In der Abarbeitung unserer Stressprogramme geht uns oft der Blick für die Mitmenschlichkeit anderer Menschen verloren. - Ende des Exkurses über die widersinnigen Haltungen.

 

Zurück zu Leopold und dem „Weißen Rössl“:

 

Da Leopolds Eifersucht im Rahmen einer komödian­tischen Handlung bleibt, also den Exzess der Tragödie vermeidet, gibt es dennoch einen für alle Beteiligten günstigen Aus­gang. – Im wirklichen Leben ist es ratsam, das „Zuschaun“ zu erlernen. Und zwar am besten: ohne Bitter­nis und Missgunst. Warum? – Es gibt meh­rere Ge­sichtspunkte: 1. Man schafft sich durch die gegenteilige Haltung sekundäres Lei­den. 2. Man schwächt seine Fähigkeit, der Si­tuation das Beste abzu­gewinnen. 3. Verhaltens­weisen der Ruhe und Gelassenheit entsprechen mehr der geistigen Natur des Menschen als Aufre­gung und agitierte Betriebsamkeit. – Sowohl unter Freiheits- als auch unter Glückselig­keitsge­sichtspunkten empfiehlt sich also die Haltung der Geduld und des bedächti­gen Abwar­tens. – Nur ein relativierendes Bedenken sei hier ge­nannt, aber ausdrücklich verwor­fen: Frauen sind, wie Männer auch, schwache und zum Teil unver­nünftige Wesen, welche den hohen Wert von Geduld und As­kese oft nicht zu schätzen wis­sen. In einer Mi­schung von großsprecherischer Geste und Ironie belehrte Richard Wagner seinen jungen Freund Friedrich Nietzsche: „Das Weib verab­scheut die Askese, und zwar in jeder Gestalt.“ – Sie hatten es von Vegetarismus und Fleischesserei. - Wenn man die Bedeu­tung von „As­kese“ zu „gedul­diger Übung“ mildert, wird es aber ein­leuchtend, dass die Milderung wilder Leiden­schaften das Beste für alle Beteiligten ist.

 

Trotz alle dem ist es richtig, sich einzugestehen, dass einem „das Zuschaun“ schwer fällt. Nicht unsere Bedürfnisse und Wünsche, nicht einmal unsere Begehrlichkeit[en], sind das Problem, sondern der „Schaden“, den wir anrichten, wenn wir eine Situation zu erzwingen versuchen, die sich im fairen Miteinander, sozusagen im freien Spiel der Lebenskräfte, nicht ergibt. Nur die „Zusätze“ unserer Unzufriedenheit, die Destruktivität infolge des Nicht-Zu­schaun-Könnens und die widersinnigen Haltungen sind problematisch. Wer die Unzufrieden­heit gene­rell verwirft, - nicht nur ihre destruktiven Formen, verhindert eine sinnvolle Bedürf­nis­integ­ration und pflegt damit ebenfalls ein „lebensfeindliches“, destruktives Ideal. – Der Gesichtspunkt der Realitätsverleugnung und des Wahrnehmungsverlustes, weil er bestimmte Ansatzpunkte sinnvollen Handelns verwehrt, spricht gegen die Empfehlung des „positiven“ Denkens. Um­gekehrt kann aber auch nicht zu negativen Pauschalurteilen u. dgl. geraten wer­den. Hier ergibt sich die Frage, ob ein Übergang zu Ausgeglichenheit und ergänzenden Sichtweisen generell ratsam ist. Dadurch könnten wir unsere Handlungsfähigkeit ja ebenfalls gefährden.

 

Dass man nicht schmerz- und zwanglos von etwas Abstand nehmen kann, bedeutet: we­gen einer „Sache“ und eines Lustgefühls, das man hier und jetzt entbehren muss, erzeugt man sich zu­sätzlich das schmerzliche Gefühl des Entbehrens. „Zusätzlich“ und „sekundär“, weil man mit dem Gefühl der Schmerzlichkeit des Entbehrens irgendwie übertreibt. Es liegt hier eine Realdialektik bezüglich des Täter- und des Betroffener-Seins vor. In der Art meiner Reaktion bin ich Akteur, sollte man beden­ken. Wenn ich etwas erleide, dann bin ich daran beteiligt [zumindest] mit einer zweckmäßig zu wählenden Art des Erleidens. – In der „Praxis“ tue ich allerdings fast regelmäßig noch etwas mehr hinzu, oft nämlich ein Aufsuchungsverhalten und bestimmte Überreakti­onen.

 

Worin liegt das Problem, in schwierigen Situationen Denk- und Verhaltensweisen zu vermei­den, welche die Situation in aller Regel noch ver­schlimmern? Denn eigentlich ist es doch tri­vial, dass es das Beste wäre, auch einer schwierigen Situation das Beste abzugewin­nen.

 

Die Nichterfüllung entstandener Wünsche und Erwartungen macht uns mehr zu schaffen, als wir es vorausgesehen hatten. Schmerzliches Ent­behren ist die Kehrseite inniger Wünsche. In diesem Fall tut es weh, sich der Wünsche zu entschlagen. Es ist ein Leiden der Fixierung und der Anhaftung. Man kann auch sagen, ein Leiden der Anklammerung oder Blockade. Die An­klamme­rung bezieht sich hier auf den Wunsch, den man nicht aufgeben möchte, obwohl man die „Sa­che“, um die es geht, vorausgesetztermaßen nicht haben kann, jedenfalls nicht ohne weiteres. Es geht uns hier um den unerfüllbaren, aber inten­siven Wunsch. – Dabei ist klar, welche Wün­sche es sind, durch die wir uns besonders verwir­ren bzw. verrückt machen: die Aner­ken­nung von­seiten anderer, Liebe, Macht und Geld, aber auch sex, drugs und rock and roll. – Verhaltens­muster der Ungeduld und des Stresses sind das Problem. Wir besprechen das an­hand der Fabel von Äsop und Phaidrus, in welcher ein Fuchs nach süßen Trauben lechzt, die er aber nicht erreichen kann.

 

Wenn ich die die psychoanalytische Rede von „Objektbesetzung“ richtig verstehe, entspricht sie genau dieser Anklammerung bzw. Fixierung der Psyche auf einen Wunsch, wobei der Wunsch ein Wunsch bezüg­lich einer äußeren Sache ist, bzw. bezüglich eines vermittelst dieser äußeren Sache erreichbaren Wunschzieles. – „Ihr habt mehr mit euren Vorstellungen von den Dingen als mit den Dingen selbst zu tun“, kann man anmerken. - Es ist die „Besetzung“ des Wunsches mit einer psychischen „Energie“. Diese „Besetzung“ macht es schwer, sich des Wun­sches zu enthalten, auch dort, wo es unumgänglich ist, weil z. B. diese äußere Sache [das „Lustobjekt“] völlig unerreichbar oder endgültig verloren ist. Da­mit kann man sich aber nicht abfinden, man wird nicht fertig damit. Der „Ener­gie“gesichtspunkt imponiert mir dabei wenig, ich sehe in dieser Redeweise lediglich eine An­lehnung an eine physikalische Sprechweise, wahr­scheinlich deshalb ausgewählt, weil es „wissenschaftlich“ klingt. – Glaube an „ Wissenschaft“ ist ja eine weit verbreitete Religion unserer Zeit. - Interes­sant finde ich die Vorstellung, dass unser „Geist“, also das Denk- und Aussagevermögen, vermittelst der subjektiv affek­tiven Qualitäten von Lust- und Schmerzgefühlen mit dem Körper und seiner Umwelt „ver­bunden“ ist. Dies ist die Art, wie  nach der Vorstellung Platons der höhere Geist unserer selbst im Körper „gefan­gen“ ist. Ein Denkvermögen, das sich von Lust- und Schmerzgefühlen nicht völlig überwältigen lässt, sondern eine gewisse Eigenständigkeit  wahrt, wäre demnach weniger durch den Kör­per und die Lust- und Schmerzgefühle gefangen und insofern mehr oder weni­ger „befreit“ oder „erlöst“. – Zunächst also er­strebt der Mensch die Lust und meidet den Schmerz. Dann aber fixiert er sich u. a. auch auf unerfüllbare Wün­sche und Ziele und erzeugt sich irgendwelche Leiden der Anhaftung. Er fixiert sich auf [momentan] für ihn Un­mögliches und übersieht das durchaus Machbare. Er reagiert ungeduldig und destruktiv, wenn ihn die Situation frustriert.

 

Dabei erheben sich verschiedene Fragen: „Warum braucht ein Fuchs süße Trauben, um zu­frieden und glücklich zu sein?“ „Werden sie ihm wirklich so gut schmecken, wie er sich das vorstellt?“ „Werden sie ihm bekömmlich sein?“ „Würde ihn die genussvolle Erfüllung seines Wunsches so sehr zufrieden stellen und beglücken, wie er zuvor erwartet hat?“ Es ist erfah­rungsgemäß ja oft so, dass wir uns vom Glück des erfüllten Wunsches zuviel erwarten. – Manchmal wird uns sogar Schlimmes zuteil, wenn wir erhalten, wonach wir schmachten. „Diese Trauben muss ich haben!“ meint der Fuchs zunächst. Wir äußern hier den Verdacht, dass er mit diesem „Muss“ eine selbstschädigende Denkweise angenommen [ausgewählt] hat.

 

Der unerfüllte, aber innige Wunsch verbindet sich leicht mit einem bitteren Gefühl der Unzu­friedenheit und des schmerzlichen Entbehrens. Haben wollen, aber nicht haben können, bringt uns aus der Fassung. Es stürzt uns in „Verwirrung des Herzens“. Wir können uns damit ver­rückt ma­chen. Bezeichnet man Bitternis und Ressentiment als den Reichtum der Armen, ist eine bit­tere Ironie im Spiel, ähnlich wie wenn man von einem „entbehrungsreichen“ Leben spricht. Es ist dann von unfreiwilligem Verzicht und nicht gelin­gender Entsagung, also von einem erheblichen Mangel an Bedürfnisintegration auszugehen. Gelingt jedoch eine Entsa­gung und ein freiwilliger Verzicht auf das, was man nicht haben kann, wird die „Verwirrung“ vermie­den. Der Zustand der Bedürfnisintegration kann also nicht rein objektiv erfasst werden, weil ein Moment der subjektiven Einstellung dabei mit im Spiel ist. Wir treffen hier auf ein Zu­sammenspiel subjektiver und objektiver Ge­gebenheiten, also auf eine Variante des Leib-Seele-Problems. [Ich gehe davon aus, dass das Wechselspiel subjektiver Empfindung und objektiver Geschehnisse nicht ausschließlich ein objektiver Kausalzusammenhang sein kann.]

 

Man hat gesagt: Nicht der, der wenig hat, sondern der, der vieles schmerzlich entbehrt, ist wahrhaft arm. Damit versucht man dem Phänomen gerecht zu werden, dass wachsender Wohlstand nicht zwangsläufig zu höherer Zufriedenheit führt. Das heißt natürlich nicht, dass sinkender Wohlstand zu höherer Zufriedenheit führt, obwohl es in einzelnen Fällen möglich ist. Es be­deutet lediglich, dass das Phänomen „Bedürfnisintegration“ eine subjektive Kompo­nente hat. Empirisch objektiv allein, ohne Bezug auf  subjektive Empfindungsweisen, ist die Frage der Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit bzw. „Bedürfnisintegration“ nicht zu behan­deln.

 

Der Ausdruck „Bedürfnis“, besonders wenn man ihn mit „notwendigem Bedarf“ bezüglich unverzichtbarer Lebensmittel in Zusammenhang bringt, bezeichnet etwas weitgehend Objek­tives, eventuell etwas, das uns fehlt, um in einem Gleichgewichts- oder „Sollzustand“ zu sein. Es gibt es notwendigen Bedarf, weniger notwendigen Bedarf und „luxurierenden“ Bedarf. „Luxuri­are“ bedeutet „üppig wachsen“, eventuell „ausarten“. Das geht auf eine Klassifikation in Be­dürfnisse nach Notwendigem und weniger Notwendigem, auch Überflüssigem und Ent­behrli­chem zurück. Dabei ist die Frage der Notwendigkeit in vielen Fällen umstritten. Um das Thema noch etwas komplizierter zu machen, verwendet man auch die Unterscheidung in „objektives“ und „subjektives“ Bedürfnis, obwohl jedes Bedürfnis eine Komponente subjek­tiven Befindens beinhaltet.

 

Psychologisch gesehen gibt es den Fall, dass man ein Bedürfnis hat, aber nichts davon be­merkt. Das ist das „Unbewusste“ und das „Verdrängte“, auf das die Psychoanalyse wir­kungsmächtig hingewiesen hat. Es gibt Bedürfnisse und Motive, zu denen wir uns nicht be­kennen, weil sie uns unakzeptabel erscheinen, die wir aber dennoch „betriebsblind“ ausagie­ren. Dazu gehören sehr oft uneingestandene sexuelle und machtlüsterne Aspirationen und Ambitionen. Nach meiner Auffassung sind „bewusst“ und „unbewusst“, also beides, subjek­tive Bewusstseinsqualitä­ten. Unbewusst ist uns z. B. die Tendenz und die Art unserer Auf­merksamkeit und unseres Den­kens. Insofern ist „unbewusst“ Bewusstseinsart. Es sind mir einige Motive und einige Zwecke meines Denkens und Handelns bewusst, aber einige andere, die ebenfalls im Spiel sind, möchte ich mir selbst und andern nicht zugestehen. Derart kann man eine Klassifikation unserer Be­dürfnisse in „bewusst“ und „unbewusst“ propagieren. Diese Unterscheidung sollte man aber nicht mit der Unterscheidung in „subjektives“ und „objektives“ Bedürfnis gleichsetzen. „Le­bensnotwen­dig“, „unabdingbar“ und „unverzichtbar“ kann man zunächst biologisch, dann gesellschaftlich kulturell „definieren“, wobei die Unter­scheidungen wohl nicht sehr präzise ausfallen wird und „unentscheidbare“ Übergangsbereiche existieren. – „Genug ist eine karge Mahlzeit, mehr als genug, das ist wie ein Fest“, meinte Oskar Wilde. Und dass der Mensch manchmal auch ein Fest „braucht“, weil er ja nicht immer traurig sein kann, ist klar. – Das alles gehört zum Thema „Systematik und Klassifikation der Bedürfnisse“. Wir möchten uns durch die Rede von „objektiven“ Bedürf­nissen nicht verwir­ren lassen und betonen deshalb, dass auch das Bedürfnis nach notwendi­gem Lebensbedarf wie z. B. Trinkwasser und Nahrungsmittel mit subjektiver Empfin­dung verbunden ist.

 

Versuche der Klassifikation menschlicher Bedürfnisse gibt es seit dem Altertum, z. B. bei Platon, Aristoteles und Epikur. Auch Maslows Bedürfnispyramide [1943] ist ein System der Bedürfnisklassifikation. Da der Mensch aufgrund von Bedürfnissen, Situationseinschätzungen und Zuträglichkeitserwartungen handelt, ist eine Bedürf­nissystematik ein wichtiger Betrag in puncto „Erklären und Verstehen menschlichen Verhal­tens“. Maslows Pyramide lässt sich als Aussage über Motivationswahrscheinlichkeiten auf­fassen. Erst wann z. B. körperliche Grund­bedürfnisse erfüllt worden sind, strebt man nach Statussymbolen und künstlerischer Selbst­verwirklichung. Solche Zusammenhänge und Prioritäten besitzen hohe Wahrscheinlichkeit, aber es gibt Ausnahmen, und gerade diese Ausnahmen gelten oft als besonders interessant.

 

Eine Klassifikation menschlicher Bedürfnisse läuft also auf eine Klassifikation menschlicher Verhaltensweisen hinaus, um „der Menschen mannigfach Gebaren“ zu „erklären“ und zu „verstehen“. Eine interessante Frage in diesem Zusammenhang ist die Frage, warum es kein allgemein oder weitgehend anerkanntes Klassifikationssystem in dieser Angelegenheit gibt. Hängt das damit zusammen, dass es viele solcher Systeme gibt, die keine allgemeingültige Wahrheit, sondern lediglich Zweckmäßigkeit unter verschiedenen Gesichtspunkten beanspru­chen können? Hängt es mit der Vagheit und Vieldeutigkeit der Sprache zusammen, an die unsere Selbstverständigungsversuche gebunden sind? Oder hängt es damit zusammen, dass wir gar nicht so genau wissen wollen, was wir tun, um uns gegen Kritik zu immunisieren? – Schließlich sind wir ja Freunde der Beharrlichkeit und der festen Angewohnheiten. In der Selbst-Opazität des Menschen [„dass er sich selbst nicht recht zu durchschauen vermag“] ist wohl von allem diesem etwas enthalten. Das „We­sen“ liebt es, sich zu verbergen, wie Hera­klit orakelhaft anmerkte.

 

Ein interessanter Fall in dieser Betrachtung ist das sexuelle Bedürfnis. Ist es natürlich, ist es verzichtbar, ist es von Natur aus unverzichtbar? – Gerade in diesem Fall redet man ja oft von der misslin­genden Verdrängung. Nicht ohne Recht, denke ich. Aber ich halte es nicht für erweis­lich, dass sexuelle Ent­haltsamkeit zwangsläufig schadet. Die Erfahrung lehrt lediglich, dass die Menschen oft dazu bereit sind, sich in problematisches Engagement zu verwickeln, wenn ihnen die Um­stände schmerzlichen und unfreiwilligen Verzicht auferlegen. – In diesem Sinne der Seufzer von La Bruyère: „Tout notre mal vient de ne pouvoir être seuls.“ - Also gibt es keine allgemein­gültige Antwort z. B. auf die Frage der Unnatürlichkeit, der Gesundheits­schädlichkeit usw. eines Verzichts in diesen Dingen. Sub­jektive Selbsterfahrung und ein un­voreingenommener Blick auf das Spekt­rum menschlicher Verhaltensweisen kann uns aber dazu anleiten, für uns selbst stimmige Ant­worten in der Frage persönlicher Bedürfnisintegra­tion und Zufriedenheit zu finden. Einen Freiraum, jenseits von Gut und Böse, gibt es m.E. dabei nicht, wer Unvernunft und Unverantwortlichkeit in diesen Fragen für nötig hält, der lebt gefährlich und eben auch effektiv unverantwortlich. Wir brauchen eine ver­nünftige Moral und eine Empfindung für unsere Be­dürf­nisse und Gelüste gleichermaßen. Am besten wohl eine Moral gemeinsamer Freiheit und nicht eine Moral gemeinsamer Unfreiheit und ausufernder sozialer Kontrolle. Stand­punkte in solchen Themen fallen uns nicht einfach zu, sondern müs­sen in vergleichender Gedankenar­beit [bezüg­lich divers propagierter Positio­nen] aufgebaut werden. Dies fällt uns natürlich we­gen der Brisanz der Themen schwer. – Selbst der Freigeist Bertrand Russell gab in diesen Fragen ein theoretisches Versagen zu. Eine Diskrepanz von Theorie und Leben. An Erfahrung mangelte es ihm nicht, denn er war vier Mal verheira­tet.

 

Die Sexualität ist eines der heikelsten Themen zwischenmenschlicher Art, das es gibt. Wir befinden uns in dieser Angelegenheit nicht jenseits von Gut und Böse, wie ich angemerkt habe. Anderseits zerstören wir uns jede Freude, wenn wir irrationale Schuldgefühle und übermäßige Angst in unser Sexualverhalten mit hinein nehmen. Man muss sich also von irra­tionalen Schuldgefühlen befreien und eine Moral des freien Einvernehmens propagieren, wel­che Zwanghaftigkeit, sowie sadistische und masochistische Verhaltensweisen vermeidet, weil diese dem Ideal des freien selbstbewussten Menschseins widerstreiten.

 

Wenn man nun seine Ausflucht dazu sucht, viele Vorgaben beachten zu wollen, weil diese ja berechtigt sein könn­ten und „schöne Ideale“ darstellen, verfällt man vielleicht auf den Gedan­ken, sich derart eine Sicherheit vor Schuld- und Angstgefühlen zu verschaffen, dass man die hergebrachten Rol­lenbilder über Ehe- und Familienleben akzeptiert und alle Bedingungen erfüllt. Nach dem Motto: „Ein guter Katholik ist ein Mensch mit einer großen Wohnung, einer Familie, Dienern und einem Automobil.“ Damit sitzt man ebenfalls in der Falle, weil es eben nicht in jeder­manns Macht steht, eine entsprechende gesellschaftliche Stellung zu erreichen. Und falls man diese Stellung unbedingt erreichen möchte, kommt es durch ein Übermaß an Anstrengung, Anpassung und Vorsicht vielleicht doch wieder zu zwanghaften und schuldbe­sessenen Gedanken, zum Verlust der Unbefangenheit. Der Mann, wenn er endlich soweit ist, dass er eine Familie standesgemäß ernähren kann, - was viele nie erreichen -, erfreut sich eventuell nicht mehr seiner Sexualfunktion. Wenn er „darf“, „kann“ er nicht mehr, da kann das Leben sehr gemein sein. – Deshalb plädiert das kleine Kind in uns für Bedürfnisbefriedi­gung hier und jetzt. Aber das geht natürlich so auch nicht.

 

Der gesellschaftliche Stress verdirbt uns also die Fähigkeit zu einem ausgeglichenen Sexual­verhalten. Dann liest man z. B. Schriften, dass man es lernen muss, ohne Angst- und Schuld­gefühle „zu lieben“. Damit ist man dann fast schon auf Weg, trotz ursprünglich besserer Vor­sätze Unbefangenheit und Verantwortungslo­sigkeit als Bedingung einer glücklichen Sexuali­tät zu propagieren.

 

Das ganze Problem tritt natürlich nur dadurch auf, dass uns die Unterscheidung zwischen ir­rationalen und berechtig­ten Schuldgefühlen so schwer gelingt. Diese Unterscheidung ist in der Tat sehr schwierig. Wer es allen recht machen will, der hört am besten gleich auf. Es gibt keine allgemein anerkannten Standpunkte in Fragen der Unterscheidung der vernünftigen von den unvernünftigen Schuldgefühlen. Und dennoch gerät man auf die Spur der Unverantwort­lichkeit, wenn man daraus die Folgerung zieht, man könnte dann eben machen, was man will. Erstens sind ja nicht alle wirklich frei, die ihrer Ketten spotten. Und zweitens wird man ef­fektiv und nicht nur nach irrationalem Maßstab schuldig, wenn man sich von dem Gedanken der gegenseitigen Achtung gleicher Freiheit verabschiedet. – Der Gedanke der gleichen Frei­heit beinhaltet übrigens auch die Anerkennung der Wertvorstellungen anderer, auch wenn man sie nicht nachvollziehen möchte und für „lebensfeindliche“ Ideale hält.

 

Der Freund der freien Liebe muss sich also sehr hüten, z. B. mit Spott über die kleinliche Vorur­teile anderer Manipulation zu Verführungszwecken auszuüben. Allzu ernst, rechthabe­risch und selbstgewiss darf er also gar nicht sein mit seinen persönlichen Optionen. – Die Freunde der Freiheit müssen mit den Feinden derselben auf eine anständige Weise verfahren. Ansonsten machen sie sich schuldig, und zwar nicht nur nach irrationalen Maßstäben. - Und dann gibt es ja auch immer noch das kleine Problem, wer wirklich im Irrtum ist und wer im Recht. Und wie man sich da so sicher sein kann. – Mein Lösungsvorschlag: Wir akzeptieren die sokratische Regel des bewussten Nicht-Wissens in vielen, vielleicht sogar den meisten Dingen. Hierüber behaupten wir ein Wissen, nicht aber darüber, was für uns das Beste ist. Und wir verbinden dieses sokratische Wissen des Nicht-Wissens mit dem Gehalt der Golde­nen Regel, dass wir uns als Freiheitswesen wechselseitig anerkennen. Und die Gefahr des Ausuferns eines Übermaßes an sozialer Kontrolle und ethi­schem Terror sehen wir auch.

 

Das ist das Ende unseres Exkurses über das sexuelle Bedürfnis. Ein unerschöpfliches Thema, an dem man sich üben kann, pro et contra zu diskutieren. Leider aber ist die Geistesschulung in solchen Fragen nicht sehr beliebt.

 

Stichwort „historische Dimension der menschlichen Bedürfnisstruktur“.

 

Art und Weise menschlicher Bedürfnisbefriedigung, auch viele Bedürfnisse selbst, sind kulturell und damit his­torisch und gesellschaftlich, durch eine soziale und sozialpsychologische Situation, [multifaktoriell] „bedingt“. Dieser Punkt soll hier ebenfalls erwähnt sein. Essen und trinken musste der Mensch zu allen Zeiten, aber die Art der Güterproduk­tion, sowie viele neu entstandene Bedürfnisse selbst, besitzen die Qualität eines historisch-gesellschaftlichen und kulturellen Zustands. Arbeitsteilung, Warenproduktion, Geldwesen, Buchhaltungssys­teme, kompensatorische Freizeitbedürfnisse und vieles mehr fallen unter wirtschaftliche, soziale und sozialpsy­chologische Gesichts­punkte und besitzen die Dimension des historischen Geworden-Seins. – Der Mensch ist von Natur aus ein Kultur erzeugendes Wesen und bringt im Zusammenspiel vieler Denk- und Verhaltensweisen, in weit verzweigtem Rückkopplungsgeschehen, alle diese Dinge hervor. – Dabei verändern sich diese Denk- und Verhaltensweisen in der Rückkopplung ebenfalls.

 

Zurück zu unserem Fuchs:

 

Der Anblick der süßen Trauben löst „im Geist“ unseres Fuchses das „Gelüst“, bzw. den Wunsch aus, sie zu es­sen. Der Wunsch okkupiert den Geist, der sich darauf fixiert und inso­fern seinen Horizont stark verengt. Es ist das Gefühl einer erwarteten Lust, woran sich der Geist des Fuchses hef­tet. Er lässt sich dadurch gefangen nehmen. Es sind nicht die süßen Trauben selbst, welche die An­heftung hervorbringen, sondern die Empfänglichkeit des Fuch­ses für den Gedanken, welchen Genuss es ihm bereiten würde, sie zu verspeisen. Diese Er­wartung, verbunden mit einer Projektion der Einbildungskraft, engt seine Perspektive ein.

 

Wer Schmerzen hat, der erstrebt einen schmerzhaften Zustand, mag man denken, obwohl es nur näherungsweise stimmt. Denn es gibt die Sonderfälle der Schmerzlust, wo wir lustvoll leiden. Und man darf hinzu setzen: Hier wird der eigene Schmerz zu etwas, das wir irgendwie auch bejahen und irgendwie auch wollen. – Manchmal will man sein Leiden, das süße Schmachten tut irgendwie der Seele gut. – Manchmal muss man in aller Härte willentlich ei­ner erstrebten Sache entsagen, um sich wieder etwas wohler zu fühlen. Entscheidend ist dabei die Frage, ob es sich wirklich um eine gelungene Entsagung handelt, oder ob man sich bloß vormacht, an einem bestimmten Wunsch nicht mehr zu hängen. Aber einen Wunsch offen zu lassen, ob er nicht doch vielleicht erfüllt werden könnte, also weder explizit darauf zu ver­zichten, noch sich schmachtend in Sehnsucht zu verzehren, ist eine Verhaltensweise, die be­sondere Meisterschaft erfordert.

 

Deutlich ist die Willentlichkeit der Hal­tung  bei der Unzufriedenheit. Wer unzufrieden ist, der strebt nicht einfach nach Zufrieden­heit. Oft will er unzufrieden sein, oft finden wir eine Kul­tur [Übung] der Unzufriedenheit. Es hat sich jemand eine Haltung und Mentalität mehr oder weniger zueigen gemacht, er hat diese Haltung in langer unentwegter Übung aufgebaut. Schwierig bei der Betrachtung dieses Phä­nomens ist die Un­terscheidung von konstruktiver und destruktiver Unzufriedenheit. Diese Unterscheidung ist in konkreten Einzelfällen schwer zu treffen, dennoch ist sie wichtig. Die konstruktive Unzufriedenheit ist eine „sinnvolle“ Un­zufriedenheit, weil sie ein Motiv zur Veränderung der Situation hinsichtlich höherer Bedürf­nisintegration darstellt. Destruktive Unzufriedenheit dagegen wird zur self fullfilling prophecy, eventuell zum Aufbau einer Haltung aus Qual, unerfüllter Sehnsucht, Unruhe und Todesverlangen. Sie ist sozusagen ein Fluch bzw. ein tragisches Skript. Ich setze hinzu: ein „romantisches“ Skript. [Beispiel ist der Fliegende Holländer.]

 

Die Unzufriedenheit eines Menschen hat be­sondere emotionale Qualitäten im menschlichen Mit- und Gegeneinander, es ist auch eine taktische und strategische Position. Wer es zu sehr gelernt hat, schweigend zu leiden, wird u. U. nicht gehört. Durch Äußerung der Unzufrieden­heit wird seine Unzufriedenheit eventuell doch wahrge­nommen und berücksichtigt. Deshalb schreien kleine Kinder gleich von Geburt an. Sie fühlen sozusagen die schmerzliche Diskre­panz zwischen dem, was sie haben und dem, was sie brauchen. In ihrer anfänglichen Ohn­machtsituation muss man ihnen dies zubilligen. Ihr Repertoire an Ver­haltensstrategien ist ja noch sehr begrenzt.

 

Das Schreien des Säuglings kann leicht symbolisch und metaphorisch gedeutet werden. – Das Vorhandensein einer Stimme [beim Säugling] deutet auf  seine „Bestimmung“ hin. - Die Existenz seines ausdrucksstarken Stimmorgans erregt die Aufmerksamkeit der anderen hinsichtlich der „Bestimmung“. Trotz des Zustands relati­ver Hilflosigkeit ist der Säugling ein Mensch wie wir alle. Stimme und Bestimmung sind ihm „zueigen“ bzw. „ge­geben“, obwohl er noch nicht mit andern sprechen und sich auch noch nicht auf gemeinsame Regeln des Mitein­ander mit ihnen einigen kann. Er ist noch nicht verhandlungsfähig, kann man sagen.  Potentiell ist er ein gleich­berechtigtes Mitglied der Menschengemeinschaft. Wir müssen nach seinem potentiellen Einverständnis und seiner potentiellen Einwilligung fragen, wenn unser Tun und Las­sen Auswirkungen für ihn hat. Seine Fä­higkeit zur Mitbestimmung in gemeinschaftlichen Belangen des mensch­lichen Lebens muss sich allerdings erst zur ausgebildeten Fähigkeit der artikulierten, vernünftigen Rede entwi­ckeln. Bis dahin ist er ein unmündiges Kind, das nach und nach, mehr und mehr, zum Zustand der Mündigkeit heranwächst. Die „Mündigkeit“ qualifi­ziert ihn zur gemeinschaftlichen Beratung mit andern bezüglich gemein­sam abzusprechen­der Regelungen des Miteinan­der.  Seine „Bestimmung“ ist insofern die Freiheit, nur solchen Regeln [des menschlichen Miteinan­ders] zu unterliegen, bei denen er ein zu­mindest [immerhin?] potentielles Mitspracherecht hat. Seine „Natur“ ist mit ei­nem Anspruch auf Mitbestim­mung [in gemeinschaftlichen Angele­genheiten] verbunden.

Es handelt sich bei all diesen „Eigen­schaften“ „lediglich“ [bzw. „immerhin“] um Potentialitäten, die in der Rea­lität nur mehr oder weniger realisiert werden. – Dass wir alle, soweit als möglich, Mitspracherechte in menschli­chen Angelegenheiten haben, wodurch, wenn uns diese Rechte faktisch zugestanden wären, ein Zustand größt­mögli­cher gemeinsamer Freiheit bestehen würde, ist „lediglich“ [bzw. „immerhin“] ein Ideal. Ein Zustand größtmöglicher Freiheit wäre dies insofern, weil wir dann nur selbstbestimmten [jedenfalls mitbestimmten] Ein­schränkungen unterliegen würden. Wo wir fremdbestimmten Ein­schränkungen [also ohne Mitspracherecht] unterliegen, sind wir unfrei.

Zur Wortverwandtschaft des Wortes „Stimme“ gehört auch das Wort „Stimmung“. – Weiterhin liegt der Ge­danke einer „Stimmungserzeugung“ bzw. „Stimmungs­mache“ nahe.  Dies ist ein anderer, weniger erhabener, aber sehr realistischer Aspekt zum Thema „Bestimmung“. Der Mensch ist u. a. auch ein Wesen, das in besonde­rem Maße auf Stimmungsmache und manipulatorische Wech­selwirkung angelegt ist. Für sich selbst allein ver­mag er wenig. In Zusammenwirkung mit andern, auf der Grundlage eines Systems weit entfalteter Arbeitstei­lung, vermag er aber sehr viel. Gelingt es ihm also, Stim­mung  für sich zu machen, übt er Einfluss in seinem Interesse auf andere aus. –

 

Viele Denk- und Verhaltensweisen im menschlichen Leben sind je nach den Umständen manchmal empfehlenswert, manchmal weniger empfehlenswert oder sogar abzulehnen. – Es kann also sein, dass eine Haltung, die wir in einer bestimmten Situation als de­struktive Unzu­friedenheit bewerten, ehemals sich als eine Haltung unter besonderen Überle­bensbedingungen herausgebildet [„aufgebaut“] hat. Diese Haltung war irgendwie zweckmäßig und „berechtigt“, jetzt aber kann, muss oder sollte sie als unzweckmäßig angesehen werden. – Man spricht dann von „Fehlan­passung“ oder „schlechter Angewohnheit“. Es ist eine Ermessensfrage, in wel­chen Fäl­len ein „Recht“ auf Untröstlichkeit besteht. Man kann auf den Gedanken verfallen, dass uns im Prinzip allein schon der Umstand zu Weltschmerz berechtige, dass sehr viele Men­schen ein unangenehmes Leben leben und einen qualvollen Tod sterben müssen. Die Wirk­lichkeit bietet reichhaltig Stoff für Schreckensvisionen. Oft muss man den Trost aus der Tat­sache schöpfen, dass es faktisch zumindest nicht so schlimm ist, wie es im Prinzip sein könnte. Niemand von uns hat eine Si­cherheit dafür, dass ihm ein großes Unglück nicht ge­schieht. Es kann so kom­men. „Sehr zu beneiden ist nie­mand, sehr zu beklagen unzählige“, meinte Arthur Schopen­hauer. Es ist schwer zu ent­schei­den, welche Art von Unzufriedenheit hier vorliegt. Konstruk­tiv? Destruktiv? Mit einem Schuss von Zynismus und Galgenhumor? – Nach ähnlichem Muster hat er, Arthur S., viele Aphorismen gebildet, z. B. auch: „Die Freu­den dieser Welt sind karg bemessen, ihre Leiden unermesslich groß“ – Die Versuche Eduard v. Hartmanns, Glück und Un­glück aufzurechnen und Schopenhauers Aphorismen „wissen­schaftlich“ zu er­härten, übergehe ich. An diese Art von Quantifizierbarkeit glaube ich nicht.

 

Die Hiob-Geschichte des alten Testaments ist eines der bedeutendsten Zeugnisse dieser Un­zufriedenheits- und Weltschmerz-Problematik. Man kann zu Hiob nicht einfach sagen: „Stay cool and keep swinging!“ Dafür ist sein Unglück zu groß. Seine Kinder sterben, seine Frau wendet sich von ihm ab, er ist krank und isoliert, niemand hilft ihm, niemand mehr will etwas von ihm wissen. Man kann sagen: eine Phantasie völliger Ohnmacht und unüberbietbaren Unglücks wird hier sehr eindrucksvoll gestaltet. Hiobs Freunde bieten ebenfalls keinen Trost, sondern werfen obendrein die Frage auf, ob er sein Unglück nicht selbst mitver­schuldet hat.

 

Wer misst das Ausmaß von Glück und Unglück einerseits, dann, andererseits, wer misst das Ausmaß an Selbstverschuldung unseres Unglücks? Hier treffen m.E. mehrere wesentlich un­entscheidbare Fragen zusammen. Wer vergleicht hier was mit welchen Kriterien? Wir über­trei­ben oft in eigenem Leid, weil es unserem Ausdrucksbedürfnis so entspricht. Und weil uns der eigene Schmerz besonders nahe geht. Bei andern denken wir, es sei alles halb so schlimm. Selbst die eigene Not, wenn sie entfernt in der Vergangenheit oder in der Zukunft liegt, be­rührt uns we­nig. Daran sieht man, wie sehr unser Empfinden, aber auch unser Denken auf die unmittelbare Gegenwart eingeschränkt ist. Man tut z. B. et­was für sein Wohlbefinden und provoziert Leid und Schaden auf längere Sicht. So geht es z. B., wenn wir Zigaretten rauchen oder gar einer Sucht frönen: unsere Leiden auf etwas längere Sicht nehmen wir leichten Her­zens in Kauf. Diese Phänomene zeigen, wie stark wir der Tyrannei [Despo­tismus] kurzfristi­ger Bedürfnisse und Stimmungen unterliegen. Man will den schnellen Stimmungswandel, den kurzfristigen Er­folg, es mangelt uns an Ge­duld, uns konstruktiv bezüglich unserer unerfüllten Wünsche zu verhalten. Unser Bedürfnis drängt auf kurzfristige, allenfalls mittelfristige Be­friedigung, was unseren Gesichtskreis stark beschränkt. Wir übersehen und übergehen dabei, was wir andern und uns selbst mit dieser Bedürfnis-, Launen- und Stimmungstyrannei antun.

 

Hier nun eine Bemerkung über das romantische Liebesideal, welches eine besondere Kompli­kation unserer etwas allgemeineren Problematik darstellt. Wenn Leopold sich in Josepha ver­liebt und keine Resonanz findet, dann wird er sich nicht leicht überzeugen lassen, wenn man ihm erklärt, er leide die Leiden des eingeschränkten Gesichtskreises und solle sich doch mit sei­nen Liebesre­gungen ganz ein­fach einer anderen Dame zuwenden, die seine Gefühle zu schät­zen weiß und vielleicht so­wieso viel besser zu ihm passt. Es ist klar, dass der angenom­mene Be­zug auf die Individuali­tät der Dame die Angelegenheit gleichermaßen individuell-personal und kompli­ziert macht. Die in sächlichen Wünschen so unempfehlenswerte Fixie­rung ergibt sich hier fast zwangsläu­fig. Es wäre gar nicht schön, wenn uns an der Individua­lität der von uns verehrten und ge­liebten Personen nicht viel liegen würde. Dennoch ist es ratsam, auch in affaires du coeur eine gewisse Flexibilität zu fordern. Erst dann, wenn sich zwei Personen zur Sexual­partnerschaft entschlossen haben, erhebt sich die Frage eines mono­gamen oder poly­gamen Beziehungsmo­dells. Bringt man Fragen der Exklusivität [Ausschließ­lichkeit] vorschnell in’s Spiel, wo es um die Anknüpfung von Kontakten und gemeinsame Unternehmungen geht, besteht die Tendenz einer unzweckmäßi­gen Dramatisierung unserer Liebesnöte. – Es handelt sich sozusagen um vorschnelle Besitzergreifung, womit wir zu Be­trachtungen über den Unterschied von Besitz ergreifender und „freier“ Liebe übergehen kön­nen.

 

Hier ergibt sich übrigens das interessante Folgeproblem, aus welchen Gründen wir z. B., wie ich einmal anneh­men möchte, für ein monogames Beziehungsmodell optieren könnten oder sollten. Sind es diätetische Gründe? Sind es Gründe, wel­che aus einer Moral der gemeinsamen Freiheit zu folgern sind, wie Kant und J. Ebbinghaus behaupteten? Oder sind es, was sicherlich den schlimmsten Fall darstellen würde, Gründe aus einer Moral der gemeinsamen Unfrei­heit? – Ich lasse diese Fragen wegen ihrer enormen Weitläufigkeit hier auf sich beruhen. Allerdings möchte ich mir folgenden Hinweis gestatten: Betrachtet man die historisch [von Menschen für Men­schen] propagierten Regelwerke der Eheannullierung, der Ehescheidung oder die modernen Lebensabschnitts­partnerschaften in unserer westlichen Gesellschaft, so kann man leicht auf den Gedanken verfallen, dass wir faktisch alle tendenzielle Polygamisten bzw. lediglich sequenzielle Monogamisten sind.

Kant und Julius Ebbinghaus sind von mir sehr geschätzte philosophische Autoren. Ebbinghaus mehrteiligen Aufsatz über „den Grund der Notwendigkeit der Ehe“ habe ich ausführlich und oft studiert. Es geht hier nicht um den „Grund der Möglichkeit“, sondern um einen „Grund der Notwendigkeit“ im Sinne einer Moral der freien Sitte. Ich gestehe hier allerdings freimütig, dass ich den „Grund der Notwendigkeit der Ehe“ mit all seinen Kon­sequenzen heute nicht mehr für überzeugend halte. Dies betrifft z. B. gewisse Konsequenzen der „dinglichen Art“ des persönlichen Rechts. Welche Art Rechtsansprüche sollen hier im Streitfall einklagbar und durchsetzbar sein? – Auch bei Menschen, die sich ehemals sehr geliebt haben, kann es m. E. zu schwierigen Konflikten kom­men, bei denen eine nicht übermäßig komplizierte Trennung die humanste Lösung ist. Wir sind sterbliche Men­schen und wissen oft nicht recht, was für uns das Beste ist. Es kann geschehen, dass der Falsche der Falschen ewige Treue gelobt. Dann sollte es einen humanen Ausweg geben, ohne allzu großen Krieg mit juristischen Fi­nessen usw..

Ich gebe also zu, dass ich damit das freie Einverständnis der Betei­ligten für eine ausreichende Bedingung für Sexualpartnerschaft halte, die dann auch wieder beendet werden kann, wenn einer der Beteiligten nicht mehr will. Ohne dass ein Gericht allzu viel darüber zu befinden hat. Ein solches „System der nicht-institutionellen Liebe“ beein­trächtigt gewisse Schutzbedürfnisse, vielleicht sogar besonders der Frauen, was ich als bedauerlich empfinde, es erscheint mir aber im Endeffekt humaner als vielleicht jahr­zehntelange „dicke Luft“, emotionale Verwirrung, doppelte Moral usw.. – Für die öffentliche Gerichtsbarkeit bleiben m. E. nur Fragen wegen wirt­schaftlicher Verabredungen, Kindesunterhalt und entsprechende Folgeprobleme. Wenn man in all diesen Fragen auf Einzelfallge­rechtigkeit großen Wert legt und dem fast unvermeidlichen Zynismus eines pauschalen Urteils entgehen möchte, sollte man es m E. von vornherein vermeiden, ein allzu kompliziertes Knäuel an Beziehungs­abhängigkeiten zu schnüren. Eine Hand voll subjektiver Freiheit und Nonchalance ist wahrscheinlich besser als zwei Hände voll von Paragraphen und Regelstriezerei. [Das Wort „striezen“ gehört vermutlich nicht in die Hochsprache. Ich müsste also sagen: „mit Regeln schikanieren“.]

Ich möchte mich hier nicht gegen die Schutzbedürfnisse von Frauen und Kindern aussprechen, da soll kein Missverständnis entstehen. Aber nach meiner Erfahrung stellt z. B. die eigene Berufstätigkeit der Frau einen we­sentlich größeren „Schutz“faktor für sie dar als die Scheidungsfolgeregelung im Fall einer traditionellen Hausfrau­en­ehe. Die Hausfrauen- und „Dazu-Verdiener-Ehe“ war in der Generation meiner Eltern weit verbrei­tet. Dieses „Konglomerat“ persönlicher und wirtschaftlicher Gesichtspunkte, verbunden mit einem lebenslangen Finanzie­rungsmodell für ein Familieneigenheim, halte für ein: Zuviel an miteinander verbundenen  Dingen. Es führt m. E. in „unerotische“ Abhängigkeiten und gesellschaftliche Zwänge. Da kann z. B. Arbeitslosigkeit trotz der sozialen Sicherheitssysteme zu Familienkatstrophen führen. Angst und Sorge lauern überall, und gerade, wenn es schwierig wird, reagieren wir ja besonders unvernünftig. Die Hausfrauen- und Dazuverdiener-Ehe in der modernen westlichen Industriegesellschaft halte nicht für der Weis­heit letzten Schluss. Trotz Kants und Ebbinghaus Versuch, in der Sittenlehre etwas Apodiktisches zu sagen.

 

Zurück zu unserer Unterscheidung in konstruktive und destruktive Unzufriedenheit:

 

Unser Wohlbefinden hängt also, wie ich meine, weitgehend von der Unterscheidung in kon­struktive und destruk­tive Unzufriedenheit ab. Destruktiv ist unsere Unzufriedenheit, wenn wir nicht bemer­ken, dass wir uns selbst damit Unzuträgliches bzw. Unbekömmliches antun. Wir hätten eine Ver­haltensalternative, die uns eine Situation erträglicher machen könnte, sind uns dessen aber nicht in genügendem Maße bewusst. Konstruktiv ist unsere Unzufriedenheit, wenn sie uns dazu motiviert, in vernünftiger und zweckmäßiger Weise einen Zustand höherer Zufriedenheit anzustreben, also ohne andern und uns selbst zu schaden. Für alles, was wir auf diese Weise erreichen können, gibt es keinen Entsagungs- oder Verzichtsgrund. Natürlich ist es in fast jedem Einzelfall umstritten, womit ich jemandem schade und womit nicht. Hier müssen Rechtsauffassungen und Üblichkeiten berücksichtigt werden. Eine Abweichung von konventionellen Erlaubnissen und Verboten ist u. U. in einem höheren Sinne erlaubt, im Sinne der „wahrhaften“ und „eigentlichen“ Moral. Bestehende Konventio­nen können tatsäch­lich Unsitten sein. Allerdings kann man von bestehenden Kon­ventionen auch abweichen, in­dem man hinter den in ihnen erreichten Stand „wahrhafter“ Mo­ralität zu­rückfällt, obwohl man sich auf hohe Werte beruft. Dies ist ein häufig anzutreffender Fall. Nicht jedem, der nach Ge­rechtigkeit und Freiheit ruft, geht es wirklich um Gerechtigkeit und Freiheit, jedenfalls nicht ausschließlich. Es geht ihm vielleicht mehr um die Macht, dasjenige von anderen durch­führen zu lassen, was er nach seiner Gerechtigkeitsvorstellung für erforderlich hält. Er möchte even­tuell die ihm wichtigen Entscheidungen für andere und sich selbst treffen. Er möchte, dass ihm das letzte Wort zusteht, sozusagen nach dem Motto: „Roma locuta, causa finita.“

 

Grundlegend [im Falle des schmerzlichen Entbehrens] ist der Gedanke, was „wirklich“ in unserer Entschei­dungsmacht steht und was nicht, der Epiktet-Gesichtspunkt. – Manches hängt von uns selbst ab, manches nicht, begann er seinen Traktat. - Auch hier kann ich nicht konkret entscheiden, ob ich durch entsprechende Übung und Training die Fähigkeit zu einer be­stimmten Leistung erwerben kann oder nicht. Möglichkeitsfragen sind oft irgendwie offen, sie sind nicht konkret. Es handelt sich oft nicht um explizit zu formulierende Alternativen, zwi­schen denen einfach eine Wahl zu treffen wäre. Wenn ich Klavier spielen lernen möchte, muss ich üben. Indem ich mich für oder gegen die Übung entscheide, trete ich in einen Pro­zess der Entfaltung von Fähigkeiten ein. Die Frage, was ich erreichen kann und was nicht, ist keine hier und jetzt konkret zu beantwortende Frage. Aber es ist wichtig, mit dem unbe­stimmten Gedanken der Selbsttätigkeit zu beginnen.

 

Im Falle des Klavierspielens hängt es z. B. von mir selbst ab, mich zur Übung zu entschlie­ßen. – Wenn ich mich dazu nicht durchrin­gen kann, dann hängt vielleicht lediglich [bzw. im­merhin] von mir selbst ab, mich zu ent­scheiden, ob ich es unter diesen oder jenen Umständen würde lernen wollen. Es bedarf ja durchaus auch äußerer Ressourcen, der Gelegenheit zum Üben, einer Anleitung usw.. Aber an irgendeinem Punkt gibt es auch den Entschluss und die Entscheidung, die von mir selbst ab­hängt. Selbst zum Zögern muss man sich entschließen. An irgendeinem Punkt, irgendwo und irgendwie, ist jeder von uns zu etwas entschlossen, das ist unhintergehbar, ein Nicht-nicht-sein-können, ein absolutum. In Bezug worauf aber in conc­reto diese Entschließungs- oder Entscheidungsfähigkeit zu gehen vermag, lässt sich nicht subjektiv oder objektiv feststellen, weil die Antwort ist: soweit als möglich selbstbestimmt und frei zu handeln. Das ist eine wesentlich rätselhafte Antwort. „Soweit als möglich“ ist we­sentlich unpräzise.

 

Die alte Fabel von Äsop und Phaidrus erzählt von einem Fuchs, der süße Trauben genießen wollte, die ihm aber unerreichbar waren. Meistens erzählt man diese Geschichte mit einer spöttischen Tendenz. Der Fuchs erklärt die süßen Trauben für sauer, weil er sie nicht errei­chen kann. Er möchte so auch der Schadenfreude einiger Zuschauer entgehen, die ihn bei sei­nem erfolglosen Bemühen beobachtet haben. Fast zwangsläufig wird er so erst recht ein Opfer der Schadenfreude. Seine Haltung ist Abwehr und nicht souverän. Er erklärt süße Trauben für sauer, obwohl er insgeheim denkt, sie seien ganz besonders süß. Er denkt: „Diese Trauben muss ich haben.“ Sein Geist verwirrt sich durch Gefühle schmachtender Sehnsucht und Vor­stellungen genussvoller Erfüllung. – Frage ist nun, ob sich im Wiederholungsfall solcher Er­lebnisse nicht eine selbst-schädigende Denkweise in seinem Geist herausbildet, sozusagen ein Ungeist oder Dämon. – Man kann auch sagen: eine Mentalität. Diese Mentalität wäre als Dis­position zu beobachtbarem Verhalten letztlich auch auf der Verhaltensebene zu bemerken.

 

Der Ansatz zu einer ehrlicheren und auch konstruktiveren Betrachtung bestünde darin, dass er den Blick allein von den süßen Trauben weg auf die Gesamtheit der Situation lenkt und mit erweiterten Sichtweisen zu spie­len lernt.

 

Kann er ohne davon ausgehen, dass die Trauben wirklich so süß sind? Diese Frage hat Ähn­lichkeit zu dem Gedanken, die Trauben für sauer zu erklären. Nehmen wir aber einmal an, sie seien wirklich süß, so kommt doch die Tatsache hinzu, dass sie in der gegenwärtigen Situa­tion nicht erreichbar für ihn sind. Er kann sich bei seinen aufgeregten Sprungversuchen ver­letzen, z. B. ein Bein brechen, die Situation wäre dann durch sein forciertes Verhalten noch unangenehmer für ihn geworden, und er hätte die Trauben doch nicht erreicht. Es wäre also besser für ihn, Verzicht zu üben auf etwas, was er in der gegenwärtigen Situation nicht errei­chen kann. Er muss die Trauben des­halb nicht wider besseres Vermuten für sauer erklären. Aber er hat doch Recht, wenn er die Situation für ungeeignet und gefährlich erklärt und erst einmal darüber nachdenkt, was er ma­chen könnte. Er müsste das Gefühl der Schmerzlichkeit des Entbehrens irgendwie verwinden und zurückdrängen. Der Grund ist folgender: Die Fest­legung des Geistes auf irgendwelche Gründe, unzufrieden zu sein, wird rasch zu einer de­struktiven Art, unzufrieden zu sein. Konstruktiv wäre es, ein wenig Abstand zur gegenwärti­gen Situation herzustellen, wodurch er z. B. ein geeignetes Gestell bauen könnte, um die Trauben letztlich doch zu erreichen, weil sie ja doch so süß sein könnten. Zudem könnte er sich mit Sprungübungen gegen die Verletzungsgefahr beim Absturz trainieren. Der spieleri­sche Umgang mit den eige­nen Fähigkeiten und Einstellungen würde ihm eine Art von spiritu­ellem Vergnügen bereiten.

 

Vorbereitende Übung: Er wirft sich auf den Boden und wälzt sich im Staub. Mit dem Schwanz peitscht er den Staub um sich auf. – Dies ist eine theatralische Geste, die er sich aber gestatten darf, weil es nicht darum geht, sein Interesse an den süßen Trauben zu verleugnen. Er macht sich klar, dass ihn der Anblick dieser Trauben, nebst der Schmerzlichkeit seiner Entbehrung, tatsächlich sehr aus der Fassung bringt. Dies ist eine wichtige Voraussetzung dafür, eine Erwägung bezüglich der Anpassung seiner Denk- und Verhaltensweisen anzure­gen. In seinem Verhaltensrepertoire findet er noch keine Ver­haltensweise vor, die konstruktiv zur Situation passt. Nur ein Gefühl der Ohnmacht und des schmerzlichen Entbehrens. – Er erlaubt es sich allerdings nur ein einziges Mal, sich auf dem Boden zu wälzen. „Denn man kommt nicht viel weiter, wenn man dabei stehen bleibt, seine Gefühle zuzugeben und auszu­leben.“ [Rem. an Albert Ellis]

 

Albert Ellis [1913 – 2007], ein bedeutender amerikanischer Psychotherapeut, entwickelte in den 50-er Jahren des 20-ten Jahrhunderts eine Psychotherapiemethode namens „Rationale Emotive Verhaltens Therapie“. Diese The­rapieform betont den aktiven Eigenanteil an unseren emotionalen Problemen. Durch problematische Denkwei­sen, z. B. durch „Muss-Turbation“, dramati­sierendes Katastrophendenken und Selbstabwertung verursachen wir laut Ellis unsere emotio­nalen Störungen zu einem erheblichen Teil selbst, .bis hin zu Angst und Depression. Ellis Position unterscheidet sich von „Behaviourismus“ dadurch, dass er die Rolle von Einschätzungen, Meinungen und Überzeugungen [unter dem Titel „Kognitionen“] hervorhebt. Objektive Reize lösen hier nicht einfach [wie für den „klassischen Behaviouristen“] objektive Emotionen [als „Dispositionen zu beobachtbarem Verhalten“] und Reaktionen aus, sondern es hängt weitgehend von meiner Auffassung und Interpretation ab, wie ich auf ein Ereignis reagiere. Ellis Emotionstheorie fällt damit unter die sog. „Einschätzungs“- bzw. „Bewertungstheorien“ [„appraisal theo­ries“]. Er erkennt an, dass wir uns unserer grundlegenden Denk- und Verhaltensmuster sehr oft nicht in rechtem Maße bewusst sind, sondern sie „betriebsblind“ anwenden bzw. „ausagieren“. Die unzweckmä­ßigen Zusätze des Eigenanteils sowie Überreaktionen lassen sich vermeiden. Hier setzt der Therapeut an und versucht die Rückverwandlung neurotischen Unglücks in normale Misslichkeiten des Alltags.

In den „irrationalen“ Denk- und Verhaltensmustern Ellis’ finden wir m. E. die Entsprechungen z. B. zu E. Ber­nesTransaktionskripten“ [„Programmen“], bzw. zu psychoanalytischen Wiederholungszwängen. In undogmati­scher Lesart, cum grano salis, lassen sich diese Dinge m. E. zusammenbringen, obwohl die Psychoanalyse we­gen ihres ursprünglichen Anspruchs auf den Status einer Naturwissenschaft [bei S. Freud] zum Teil vielleicht wirklich ein Prob­lem mit dem „aktiven Eigenanteil“ hat[te]. Es läuft mit diesem aktiven Eigenanteil darauf hin­aus, dass der psychisch kranke Mensch zum Teil an selbstverschulde­ten Übeln leidet. Er erzeugt sich seine Lei­den zum Teil selbst durch seine eigenen Denk-, Reaktions- und Verhaltensmuster und muss deshalb diese Denk- und Verhaltensmuster derart modifizieren, dass sie weniger unangenehm und problematisch [wegen „ge­störter Gefühle“] auf ihn zurückwirken. – Die Gemeinsamkeit von Bernes Skriptanalyse und Ellis Analyse „irrationa­ler“ Überzeugungen besteht darin, dass beide in betriebsblind angewendeten Denk- Stimmungs- und Verhal­tensweisen das zu therapierende Problem erkennen.

 

Im Falle der „Schmerzlichkeit des Entbehrens“ würde der Transaktions-Analytiker wahrscheinlich ein „Opfer-Skript“ identifizieren, verbunden mit entsprechenden Kindheits-Ich-Dispositionen: „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“ Vielleicht reproduziert hier jemand die Ohnmacht des kindlichen Erleidens eines vermeintlichen oder wirklichen Unrechts. – Der REVT-Analytiker würde den Gedan­ken identifizieren: „Einfach unerträglich, so etwas aushalten zu müssen. Da wäre es doch nicht normal, wenn ich nicht in gewaltige Aufregung geriete.“ – Das ist, bei Licht betrachtet, das Motto: „Ich muss mich gewaltig aufregen, eventuell sogar verrückt machen!“ In beiden Sichtweisen ist die hot cognition betriebsblind vorhanden und die Beteilig­ten kommen nicht auf den Gedanken: „Wie könnte ich die Situation angehen, damit sie mich weniger belastet?“ – Deshalb ist es wichtige Skript-Frage: „Was machen Sie, wenn es Schwierigkeiten gibt?“ [Eric Berne, „Was sagen Sie, nachdem Sie „Guten Tag“ gesagt haben?“]

 

Erste Übung für unseren Fuchs wäre es, trotz des Anblicks der vermutlich so süßen Früchte sich in Seelenruhe und Gelassenheit zu üben. Er müsste sich um eine Fassung bemühen, die ihm den Anblick der süßen Früchte etwas leichter erträglich macht. Dies klingt ihm zunächst ein we­nig zynisch, aber er bemerkt schon bald, dass ihm die übermäßig angespannte Hal­tung auch nichts nützt. Er unterliegt dadurch eventuell einem Leiden der Horizontverengung. Wer sagt ihm denn, dass es nicht vielleicht an einem anderen Ort ebenfalls süße Trauben gibt, die er etwas leichter erreichen könnte? – Daran hat er eventuell gar nicht gedacht. Er hat sich ja dar­auf fixiert, die süßen Trauben hier und jetzt zu verspeisen, obwohl zu einer wirklich güns­tigen Gelegenheit noch ein wichtiges Ergänzungsstück fehlt. Anders ausgedrückt: „Es besteht ein Hindernis und insofern keine günstige Gelegenheit.“ Aber der Appetit wurde er­regt. Der an­geregte Appetit verstärkt die Schmerzlichkeit des Entbehrens.

 

Zusatz zur ersten Übung: Es ist wichtig, sich nicht einfach als Opfer einer Situation zu fühlen. Der Anblick der süßen Trauben bringt nicht zwangsläufig den Gedanken hervor: „Ich muss sie haben!“ Diese Art des Reagierens ist weder zwangsläufig noch zweckmäßig. Die zunächst vielen von uns vielleicht nahe liegende Art des Reagierens, die aber unumgänglich einen akti­ven Eigenanteil enthält, könnte gemildert werden. „Ich möchte diese wahrscheinlich sehr sü­ßen Trauben essen. Vielleicht kann ich die Gelegenheit herbeiführen, sie tatsächlich zu essen. Auf jeden Fall aber soll ein Schaden durch Überreaktion vermieden werden.“ [Also wieder: primum nil nocere! Kein Übereifer! Das Nicht-Handeln-Können bzw. Nicht-Handeln-Müssen im Handeln nicht vergessen!]

 

Zweite Übung für unseren Fuchs ist es, sich folgende Frage vorzulegen: „Bin ich bereit dazu, über eine Verhaltensalternative nachzudenken?“ – Er entbehrt schmerzlich den Genuss der süßen Trauben, das wird er zugeben. Wenn er aber nun in ehrlichem Blick auf sich selbst ent­decken sollte, dass er eigentlich gar nicht bereit dazu ist, über Verhaltensalternativen nachzu­denken, dann muss er sich eingestehen, dass er sein Leiden irgendwie auch selbst will.

 

Nun hören wir den Rat von Laotse. Dieser sagt: „Übe die Reglosigkeit, beschäftige dich mit Untätigkeit, finde im Verzicht Genuss! Und du siehst das Große im Kleinen, das Viele im wenigen.“ – Das klingt rätselhaft, vielleicht auch ein wenig ironisch oder gar zynisch. „Finde im Verzicht Genuss!“ was soll das heißen? – Das heißt im Prinzip, sich nicht durch den verlo­ckenden Anblick Genuss verheißender Dinge verrückt zu ma­chen und durch eine ruhige, maßvolle Verhaltensweise seine Handlungsfähigkeit zu wahren. Primum nil nocere, auf eine zu wah­rende innere Haltung kommt es an, die „wichtiger“ ist als der Genuss süßer Trauben. – Na­türlich ist es mächtig übertrieben, dass einem der Verzicht auch noch Spaß machen soll. Es grenzt an Gal­genhumor. Aber der Genuss süßer Trauben ist wirklich nicht das höchste Ziel eines Fuchslebens. Nicht das Höchste für den, der Sinn für die letzten Empfehlungsgründe unserer Verhaltensweisen hat. – Hier erheben sich die Fragen nach dem schlechthin Guten und nach den höheren Zielen menschlichen Strebens. – Was ist nun wichtiger als der Genuss süßer Trauben? – Versuch einer Antwort: „Wichtiger als der Genuss süßer Trauben ist es, sich nicht verrückt zu machen.“ – Es steht nicht in der Macht des Fuchses, die Trauben hier und jetzt zu erreichen. Aber es steht in seiner Macht, sich we­gen der Schmerzlichkeit seines Begehrens nicht in Verwirrung zu stürzen. Damit erfüllt er übrigens die beste Voraussetzung, das Hindernis vielleicht doch noch zu überwinden. Es ist ja nicht so, dass er bei der Option für „Sich-verrückt-machen“ die Trauben tatsächlich erhielte. Er soll ja nur für den Moment auf etwas verzichten, was er gegenwärtig ohnehin nicht haben kann.

 

Die Stoiker stoßen in dasselbe Horn wie Laotse: „Sustine et abstine!“ sagen sie. „Ertrage und entsage!“ Unser Fuchs übersetzt tendenziös: „Allem entsagen und alles ertragen!“ Hier sehen wir die Denkfigur der willkürlichen und tendenziösen Verallgemeinerung, mit der man sich selbst zusätzlich zum gegebenen Faktum deprimiert. Weil er die süßen Trauben hier und jetzt nicht haben kann, denkt er, sein Unglück sei ein für alle Mal ausgemacht. Er sieht sich in der Hiob-Rolle und fragt: „Warum ist gegeben das Licht den Mühseligen?“ Frage ist natürlich, warum er so sehr übertreibt.

 

Der Fuchs könnte denken: „Niemand hetzt mich, niemand will etwas von mir. Ich kann in Ruhe entscheiden, welche Anstrengung ich unternehmen möchte, mir den Genuss dieser sü­ßen Trauben zu verschaffen.“

 

Wir haben unserem Fuchs davon abgeraten, Trauben für sauer zu erklären, von denen er glaubt, sie seien süß. Mit einer solchen Erklärung gerät er in Widerspruch zu sich selbst. Diese Erklärung ist für ihn nicht stimmig. Dennoch gibt es einen guten Grund, auch über die Süßigkeit dieser Trauben „analytisch“ nachzudenken. Man muss sie nicht als sauer hinstellen, aber die Situation, in welcher die süßen Trauben für uns unerreichbar sind, ist eine „saure“ Situation. Hier macht es tatsächlich Sinn zu erwägen, ob man sich einer solchen quälenden Situation nicht doch entziehen sollte. Niemand muss sich in eine Situation schmachtenden Entbehrens begeben, wenn er bemerkt, dass er dadurch Gefühle der Unzufriedenheit erzeugt, die ihm nicht bekommen. – Ein anderer Fall ist es, wenn er die schwierige Situation zu Trai­ningszwe­cken herbeiführt, um sich beherrschen zu lernen.

 

So sehr wir uns also davor hüten möchten, süße Trauben als sauer hinzustellen, möchten wir doch darauf hinweisen, dass wir uns von erstrebten Zielen oft übermäßig viel versprechen. Der Durstende in der Wüste sagt: „Ein Königreich für einen Schluck Wasser!“ Wer aber mit Trinkwasser ausreichend versorgt ist, sieht das anders. Im politischen Kampf um die Königs­macht lässt man es sogar darauf ankommen, die Trinkwasserversorgung zu beschädigen. Die Schmerzlichkeit des Entbehrens wird also durch eine Tendenz unseres Bewusstseins zu über­höhten Erwartungen verstärkt. Das bedeutet nicht, dass die Trauben in Wirklichkeit sauer sind. Aber es bedeutet, dass uns der Genuss süßer Trauben prospektiv wahrscheinlich beglü­ckender erscheinen wird als retrospektiv. Wir überschätzen in der Regel die Zufriedenheit und das Glück, die uns durch die Erfüllung unserer Wünsche entstehen wird.

 

Ein weiterer Gesichtspunkt, den wir nicht völlig außer Acht lassen sollten: Manchmal wird uns Schlimmes zuteil, wenn wir erhalten, wonach wir streben. – Der Gedanke hat wiederum Ähnlichkeit mit dem Verfahren, die süßen Trauben als sauer zu erklären. In folgender Vari­ante aber wäre er berechtigt: Da wir uns tatsächlich manchmal über Zuträglichkeiten irren, vielleicht gerade in besonders süßen Freuden, könnten wir uns an den Eigenwert von Gelas­senheit und Stressfreiheit halten. In einer Situation des Nicht-Wissens, was genau auf etwas längere Dauer für uns das Beste ist, die ja tatsächlich besteht, kann uns dieser Gedanke hilf­reich sein. Das ist etwas anderes als die generelle Abwertung unerreichbarer Freuden. Die erreichbaren werden wir ja ergreifen, wenn wir einigermaßen Grund haben, sie für bekömm­lich zu halten.

 

Die unerreichbaren Trauben des Fuchses sind das Sinnbild einer verhinderten Gelegenheit. Die Gelegenheit, süße Trauben zu verspeisen, existiert hier nur partiell. Der Anblick lässt ei­nen Wunsch entstehen, der infolge eines Hindernisses nicht erfüllt werden kann. Das Lei­den, das hier entsteht, ist ein Mangel an günstigen Umständen bei gleichzeitiger Bedürfniser­re­gung, also im Endeffekt doch ein Hindernis und ein Gelegenheitsmangel. – Es gibt auch den umgekehrten Fall, den Mangel an Genussfähigkeit bei reichlicher Gelegenheit. Dies ge­schieht, wenn jemand sozusa­gen nicht alles essen kann, was er sieht. Auch hier entsteht das schmerzliche Gefühl eines Missverhältnisses. – In beiden Fällen gibt es Denk- und Verhal­tensweisen konstruktiver und destruktiver Unzufriedenheit. Entscheidend ist der Gesichts­punkt, dass wir in der Art unseres Reagierens doch irgendwie Akteure sind. Auch wenn man nicht nachweisen kann, in welchem Punkt genau. „Das Wesen liebt es, sich zu verber­gen“, schrieb Heraklit. Der orakelartige Spruch trifft hier zu.

 

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2007