Der Pfälzer, die Quantenphysik und die Hermeneutik

 

„S’iss, wie mer’s nemmt“, sagt der Pfälzer und befindet sich damit in Übereinstimmung mit einer der bestbestätigten Fundamentaltheorien der modernen Naturwissenschaft, nämlich der Quanten­physik. Mit Experimenten nötigen wir die Natur, Farbe zu bekennen. Sie bekennt Farbe, in­dem die Versuchsanordnung mit dem Versuchsresultat in Wechselwirkung tritt. Je nach Ver­suchsanordnung zeigt uns das Naturgeschehen Teilchen- oder Welleneigenschaften; - je nach experimenteller Anordnung also Phänomene dieser oder jener Art. Das experimen­telle Arran­gement nötigt das Geschehen, sich unter einem bestimmten Aspekt zu zeigen und übt realen Einfluss aus auf die Art der gemessenen Größen und Phänomene. Z. B. verhalten sich Photonen je nach experimentellem Arrangement [in Doppelspalt-Experimenten] wie Teilchen [Korpuskel] oder wie Wellen-Pakete. Gemäß genau definierten Unschärferelatio­nen, z. B. für Ort und Impuls, oder für Energie und Zeit, bleibt in allen Experimenten eine unüberwindliche Unschärfe, wobei die genaue experimentelle Feststellung einer Größe die Unschärfe der „komplementären“ Größe nach sich zieht.

 

„Schrödingers Katze“ ist ein Gedankenexperiment, in dem es um die Kopplung einer quan­tenphysikalischen Wahrscheinlichkeit [„subatomarer“, mikrophysikalischer Art] mit dem makroskopischen Zustand „tot“ oder „lebendig“ geht. Da der Quantenzustand unabhängig von seiner experimentellen Messung „unbestimmt“ ist, also wesentlich und unüberwindlicher Art ein Wahrscheinlichkeitszustand, ist auch die Katze unabhängig von der experimentellen Überprüfung in einer Zustandsunbestimmtheit bzw. „Zustandsüberlagerung“. Sie ist sowohl tot als auch lebendig, bzw. weder tot noch lebendig. Die Alltagslogik sagt uns: tot oder leben­dig muss sie sein, entweder – oder, eins von beidem, tertium non datur. Die mikro­physikalische Natur aber sagt: es kommt ganz darauf an. Nämlich: ob und wie ihr die Sache überprüft. Unabhängig von der experimentellen Beobachtung ist ein mikrophysikalischer Zustand unbestimmt. Also ist auch die Katze in diesem Experiment unabhängig von der Beobachtung nicht auf tot oder lebendig fixiert. – In der Alltags-Intuition arbeiten wir mit dem Konzept einer beobachtungsunabhängigen Realität. Auch wenn niemand hinsieht, existiert der Mond. Auch wenn niemand hinsieht, ist die Katze tot oder lebendig. – Deshalb sind die mikrophysikalischen Unschärferelationen so befremdlich.

 

Das Gedankenexperiment „Schrödingers Katze“ wurde ursprünglich zur Illustration des „kontraintuitiven“ Charakters der Quantenphysik entwickelt, scheint aber der Natur der Sache wegen des enormen Bestätigungsgrades der Quantenphysik zu entsprechen.

 

In quantenphysikalischer Sicht haben die „Dinge“ [die „subatomaren“ Quantenobjekte bzw. Quantenphäno­mene] keinen festen Ort, sondern lediglich eine Aufenthaltswahrscheinlichkeit. Bzw. sie ha­ben einen festen Ort nur unter der Bedingung eines nicht exakt festgelegten Be­wegungsimpul­ses. Ebenso „entschlüpft“ uns der genaue Wert der „Energie“, wenn wir den Zeitpunkt eines Geschehens im Experiment exakt messbar machen. Und umgekehrt: Ge­lingt uns ein experimentelles Arrangement, um den Energiebetrag eines Quanten“objekts“ zu er­mitteln, „verwischt“ sich zwangsläufig die genaue zeitliche Lokalisation. „Verwischt sich“ heißt: der exakte Wert der jeweils komplementären Größe ist unter genau definierten Bedin­gungen nicht vorhanden und deshalb nicht messbar. Ein Teil der Wirklichkeit, also das je­weils Komplementäre, ist nicht auf „Ja“ oder „Nein“ fixiert. [Lediglich die Wahrscheinlich­keit eines Zustands ist auf „Ja“ oder „Nein“ fixiert.]

 

Wir sagten: Genaue Werte einer bestimmten Art sind je nach experimenteller Aufstellung nicht vorhanden und eben deshalb nicht messbar. Damit scheint ein dezisionistisch, kon­struktivistisches Element in die Betrachtung einzufließen. Dennoch rate ich dazu, konstrukti­vistischen Überschwang zu mäßigen. Die Unbestimmtheit und „Wertverschmierung“ bezieht sich nicht auf irgendwelche Größen, sondern auf die jeweils durch Unschärferelationen an­einander gekoppelten Größen. Lege ich durch mein experimentelles Arrangement ein Stück experimentell zu bestimmende Wirklichkeit fest auf die Genauigkeit einer Ortskoordinaten-Messung, verwische ich zwangsläufig den Wert für den Impuls. Ich kann dem Dualismus von Teilchen und Welle nicht entkommen. Die Mikronatur enthält, gemäß den Unschärferelatio­nen, in bestimm­ter Weise gegebene Kopplungen von Determiniert- und Undeterminiertsein, Alternativen charakteristischer Art. Einzelne Glieder der Alternativen einfach frei erfinden, das kann der Experimentator nicht. Unter der Bedingung der genauen Festlegung einer expe­rimentellen Anordnung komple­mentiert sich die natürliche Wirklichkeit durch eine Offenheit [Nicht-Festlegbarkeit] komplementärer Art.

 

Auch in der ganz alltäglichen, makroskopischen  Erfahrung, ohne Berücksichtigung der son­derbaren Quantenwahrscheinlichkeiten, trifft der Spruch des Pfälzers zu. Man tritt oft mit va­gem Begriff an eine vieldeutige Situation heran und fragt: „Ist es A oder B?“ und muss lernen: „Sonderbar kompliziert ist die Natur. Wenn man sich fragt, ist es A oder B, dann sagt die Natur sehr oft, teils A, teils B.“ Oder sie sagt: „Es kommt ganz darauf an.“ Vor allem wohl darauf, wie man A und B definiert. Wobei aus dem alltäglichen Sprachgebrauch selten hinreichend scharfe Defi­nitionen zu gewinnen sind, die in den fließenden Grenzbereichen eindeutige Entscheidungen auf wahr oder falsch, zutreffend oder nicht zutreffend, gestatten würden. [Beispiele: Tier oder Pflanze im Falle mancher Algen, lebendig oder unlebendig im Falle von Viren.] Und ganz besonders in menschlichen Situationen, also bei der Einschätzung unserer Mitmenschen und der Beurteilung menschlicher Verhaltensweisen [z. B. „welches Spiel wird hier gespielt?“] gilt: Wir stehen mit unpräzisen und unanalysierten Begriffen vor überraschend mehrdeutigen Situationen. Z.B. mit der Frage: Was von dem, was sich ein Mensch als eigene, aus ihm selbst kommende Leistung zurechnet, ist ihm zugefallen, und was hat er sich wirklich selbst erwor­ben? Was tat er selbst, und was taten andere für ihn?

 

In allen „Wissenschaften vom menschlichen Leben“ hat der Pfälzer Recht. Nur, dass sein Wis­sen vielleicht nicht zum rechten „Selbstbewusstsein“ erhoben werden konnte. [Hegel-Leser gibt es hier wenige.] Hier haben wir es zwar nicht mit Quantenphysik und präzise bere­chenbaren Unschärfen zu tun. Aber wir haben es mit einer Logik der unpräzisierbaren Prä­suppositionen zu tun. Und mit  problematischen Vorentscheidungen und Erwartungen.

 

Sichern wir irgendwelche Thesen durch Befragungen, z. B. über Werthaltungen in der Bevöl­kerung, ergibt sich das Problem der sozial erwünschten Antworten. Fast alle Menschen ant­worten entsprechend der Art des Fragens und der in der Situation herrschenden Stimmung. Unter Beobachtung verhalten wir alle uns anders als unbeobachtet. - Allzu oft spiegelt das Ergebnis der entsprechenden Untersuchungen nicht viel mehr als den Inhalt des leitenden Vorverständnisses. Allerdings, ohne dass wir den ‚Zirkel’ bemerken. Generell besteht ein Problem der Vorstrukturierung von Forschungsbefunden durch die von vornherein [im Befragungsplan] als relevant geltenden Aspekte. Wir stoßen auch hier auf die strukturierende Kraft des Ansatzes und vor allem auf die Kraft sozialer Situationen und „settings“, bei entsprechenden Fragestellungen entspre­chende Phänomene hervorzubringen.

 

Wir sind z. B. je nachdem für „die freie Fahrt freier Bürger“ oder für mehr Sicherheit auf den Straßen. Je nachdem sind wir für mehr Einzelfallgerechtigkeit bei den Abfallgebühren oder für unbürokratische Verfahrensweisen in der Verwaltung. Je nachdem dafür, dass Leistung sich lohnen sollte oder dass jedermann dasselbe, Glück oder Unglück, geschehen könnte. – Man könnte denken, das seien Anzeichen einer gewissen Widersprüchlichkeit oder gar Schi­zophrenie. Aber nein! Wir gleiten lediglich von einer Situation in Situationen anderer Art, in denen dann auch wieder andere Regeln und Üblichkeiten gelten. Oder andere Gesichtspunkte zählen.

 

Folgendes ist der Inhalt der Lehre von der hermeneutischen Situation: Wir müssen ein Vor­verständnis voraussetzen, wenn wir etwas verstehen und erkennen wollen. Erkenntnis erlan­gen wir lediglich als Modifikation eines bestehenden Vorverständnisses, das allerdings mit seiner strukturierenden Kraft einen gewissen Spielraum für seine Entwicklung offen lassen muss. Die Verstehens-Voraussetzungen stellen kein überzeitliches Apriori dar. Das leitende Vorverständnis ist weder starr noch unveränderlich. Bzw.: das leitende Vorverständnis sollte weder starr noch unveränderlich sein, weil es genau dann einseitig und ideologisch wird. Die entsprechenden Voraussetzungen [der üblicher Weise anzutreffenden Vorverständnisse] sind oft historische, überindividuelle Größen, z. B. „Elemente“ eines „Zeitgeistes“, eventuell auch einer typischen Antithese. Sie sind nicht leicht dingfest zu machen, weil sie auf der Seite der „strukturierenden“ Voraussetzungen stehen und sehr oft mit Interessenstandpunkten korrelie­ren.

 

„Vorwissen und kulturelle Prägung bestimmen entscheidend die Wahrnehmungsfähigkeit des beobachtenden Menschen. Wir sind blind für alle vermeintlich objektiven Tatbestände, die außerhalb der Reichweite unseres Vorverständnisses liegen.“ [Reminiszenz an Falk Fischer, einem meiner Lieblingsautoren in der Hörfunkreihe SWR2 Wissen.]

 

Ein ganz besonderer Fall, vielleicht der brisanteste, ist die Subjektivität des Menschen. Beo­bachtet und unbeobachtet ist sie nicht dieselbe. Ja sogar: Beobachtet von mir selbst und beo­bachtet von anderen ist sie nicht dieselbe. Und je nach Art der Fragestellung, die wir bezüg­lich ihrer aufwerfen, ist sie individueller oder überindividueller Natur. Ihre Inhalte sind form­bar und gestaltungsfähig durch die Art unserer Beschäftigung oder Nichtbeschäftigung mit ihr. Der eine verspürt die Versuchung und Anfechtung böser Geister und der andere lediglich Blähungen in Magen und Darm. Der eine gibt hier eine Empfehlung für Gebet und Meditation ab, der andere für. Gymnastik und Bewegung an frischer Luft.

Es wäre [in vielen Fällen] vermessen, zur endgültigen Entscheidung bringen zu wollen, was der Sachlage „wirklich“ entspricht.

 

So kann es auf die Frage, wer oder was wir sind, und was eigentlich geschieht, gar keine end­gültige und sichere Antwort geben. Die Eigenart der Natur und die Eigenart unseres Denkens mit den Mitteln leichtfertiger Begriffe und vager Redewendungen verwehren es uns glei­chermaßen.

 

H. G. Gadamer meinte dazu: „Wir werden klüger, wenn wir bemerken, dass wir uns niemals erschöpfend und endgültig aussprechen können.“ [In einem Interview.] – Ohne Kontext können wir uns wahrscheinlich nicht einmal hinreichend präzise aussprechen.

 

Es ist nicht so, dass in der Vagheit der Umgangssprache lediglich ein zu beanstandender Mangel festzustellen wäre. Das ist nur zum Teil der Fall. Die Flexibilität und Bedeutungsun­schärfe der Sprache ist andererseits Voraussetzung ihrer Art von Universalität. Durch übertra­gene [metaphorische] Wortverwendung z. B. erschließen sich z. B. neuartige Phänomene für unser Sprechen und Denken. Wenn das Wort nicht so „wohlfeiles Ungefähr“ wäre, wie es tatsächlich ist, stünden wir sprachlos in der uns umgebenden Welt.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003