Einleitung

Philosophie ist eine bestimmte Art von Literatur, - mit dem Spezialfall des Denkens des Sokrates, der selbst nicht literarisch publizierte, aber andere zu folgenreichen Traktaten angeregt hat. Traditionelle Interessenfelder sind: Erkennen, Denken, Sein, Wahrheit, allgemeine Aussagen über die Wirklichkeit, Gott und Welt, Begründbarkeit unseres angeblichen bzw. wirklichen Wissens, bezogen auf Dinge, wie sie sind, und auf Absichten und Verhaltensweisen, wie sie von Natur, Gott, Konvention und Vernunft gefordert sein könnten.

Aristoteles sagt über die Philosophie, sie sei die am wenigsten notwendige Wissenschaft, aber dennoch die vortrefflichste. Der Mensch könne eigentlich niemals in den Besitz des philosophischen Wissens gelangen, und doch sei es seiner nicht würdig, nicht danach zu suchen. (Metaphysik, 982b –983a) Dieser Kennzeichnung sowie auch einer anderen Kennzeichnung des Aristoteles, dass nämlich philosophisches Denken um seiner selbst willen und nicht wegen eines anderen Nutzen gesucht werde, stimme ich nachdrücklich bei. Denn anderer Nutzen als eine Art von denkerischem Genügen ist in philosophischen Betrachtungen nicht gegeben, wenn man nicht gerade ein von Kollegen und Studenten anerkannter Philosoph an der Universität mit beruflicher Absicherung ist, der wiederum neuen philosophischen Nachwuchs ausbildet. – Folglich lässt sich der Nutzen der Philosophie auch bezweifeln und mit einem anderen Hinweis auf A. sogar verspotten:

"Weder zum Schaufeln noch Pflügen verliehen die Götter ihm Weisheit, noch zu sonstigem Werk." (siehe Nikomach. Ethik, 1141 a 19, wo A. den Homer zitiert)

Ich denke, A. hat mit den vorgenannten Äußerungen Glanz und Elend des philosophischen Denkens auch im zwanzigsten Jahrhundert mustergültig beschrieben. Es ist ein Fragen und Denken um seines eigenen Genügens willen, zu keinem anderen Nutzen, zum bedürftigen Mängelwesen "Mensch" eigentlich nicht recht passend und ihm doch besonders erstrebenswert und unentbehrlich, sozusagen eine Art Luxus, den man braucht.

Die Formulierung „denkerisches Genügen“ klingt in manchen Ohren vielleicht schwülstig. Gemeint ist folgendes: Sowohl unsere Fragen als auch unsere Antworten sollen verschiedenen Rückfragen nach ihren Voraussetzungen, Evidenzen usw. standhalten. Es wird zwar manchmal behauptet, dass es keine dummen Fragen gebe, tatsächlich aber muss man auf fast jedem Gebiet eine ganze Menge wissen, um die richtigen Fragen zu stellen. „Welche Beziehungen bestehen zwischen den vier Elementen und den vier Körpersäften?“ ist z.B. eine Frage in der Medizin des Mittelalters gewesen. Wir verdanken W. Ross Ashby („Einführung in die Kybernetik“, Ende des zweiten Teils“) den Hinweis, dass diese Frage nie gelöst sondern einfach aufgegeben wurde, weil ihre „Grundvoraussetzungen“ „vom heutigen Standpunkt her in Heiterkeit erregender Weise falsch waren.“

Es sollte uns also gelingen, unsere Fragen so zu stellen, dass diese Fragen weder explizit noch implizit unhaltbare Voraussetzungen enthalten. Die Aufstellung und Rechtfertigung philosophischer Fragestellungen führt uns auf das Problem des Wissenkönnens und der allgemeinen Vernunft zurück. „Denn eben darin besteht Vernunft, dass wir von allen unseren Begriffen, Meinungen und Behauptungen ... aus ... Gründen Rechenschaft geben können.“ (Kant, K.d.r.V. B 642)

Wenn wir in irgendwelchen Texten Meinungen und Behauptungen lesen, - das gilt auch, wenn sie implizit in irgendwelchen Fragestellungen enthalten sind -, so stellt sich die Frage, was für und was gegen diese Meinungen und Behauptungen spricht und auf welche empirischen und/oder nichtempirischen Evidenzen wir uns berufen können.

Hinzu kommt: Es besteht außer der Gefahr einer auf Irrtum beruhenden Frage auch die Gefahr ihrer Unbeantwortbarkeit oder Unentscheidbarkeit. Fragen z.B. nach Gott, der Welt, dem großen Ganzen und dem Allerkleinsten könnten ganz einfach unentscheidbar sein; - gemäß irgendwelcher zu nennender Kriterien. Unsere Urteile sind wahr aus verschiedenen Gründen, wenn sie wahr sind. Unsere Fragen sind unbeantwortet oder sogar unbeantwortbar aus verschiedenen Gründen, wenn sie es sind. – Immer fallen wir auf die Art des Wissenkönnens in diesen Angelegenheiten zurück.

Manchmal sieht die Lösung eines Problems anders aus als erwartet. Das Ei des Kolumbus ist ein Beispiel. Die Messbarkeit der Diagonale eines Quadrats in ganzzahliger Relation zur Seitenlänge war für Phytagoras und seine Leute ein unlösbares Problem. Spätere führten die irrationale Zahl als Lösung ein und erwiesen die Unlösbarkeit des Problems unter den von P. geforderten Voraussetzungen. Ähnlich die Quadratur des Kreises oder die Verdopplung eines Quaderinhalts. Die Unlösbarkeit eines Problems unter angenommenen Voraussetzungen wurde erwiesen. Solche Lösungen gibt es m. E. auch in der Philosophie. [Die naturwissenschaftliche Zurückführung von subjektivem Erleben, Bewusstsein und Denken ist m. E. aus Gründen ausgeschlossen, die selbst nicht naturwissenschaftlicher Art sind: das Bewusstsein subjektiver Empfindung z.B. gründen wir nicht auf objektive Evidenz (bezüglich der uns umgebenden Wirklichkeit), die Erkenntnis logischer Evidenzen nicht auf Beobachtung und Experiment.]

Kant hat im großen Stil versucht, Unlösbarkeitsbeweise (bezüglich nicht-empirischer, „metaphysischer“ Fragestellungen) in der Philosophie einzuführen. Als Gültigkeitskriterium sachbezogener Wahrheitsbehauptungen (im Gegensatz zu einer allgemeinen Norm rationaler Nötigung in Sollensfragen wie z.B. ‚was soll [unbedingt] sein?’, ‚was darf keinesfalls sein?’) versuchte er, den Bezug auf raum-zeitlich lokalisierbare Gegebenheiten in’s Spiel zu bringen. Dieser Bezug sollte ein allgemeines, minimales Gültigkeitskriterium für alle sachlich erweisbaren Wissensansprüche und ‚sinnvolle’ Fragestellungen [deskriptiver und theoretischer Art] darstellen. [Leider hat Kant seine Raum-Zeit-Lehre mit der Auszeichnung der euklidischen Geometrie [und auch anderer damals allgemein akzeptierter Vorurteile] verknüpft, so dass sein Ansatz z.B. durch die Einführung nichteuklidisch geometrischer Strukturen in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie wiederum in die Defensive geraten ist.]

Wir möchten nochmals auf Aristoteles zurückkommen. Man kann seiner Meinung gemäß einige Fragen um ihrer selbst willen aufwerfen. Genau die philosophischen zählt er zu dieser Sorte. Er behauptete, dass es den Freigeborenen nicht zieme, in allen Dingen nach dem Nutzen zu fragen; - und ein Philosoph sei ein Mensch, der ein Wissen um unglaublich schwierige Dinge erwerben wolle, das für das Leben überhaupt keinen Nutzen abwerfe. [Politik, Buch 8, 1337 a –b; NE 1141 b 6 –8] – Dass ‚in unserer Seele von Natur ein Vermögen“ sei, „das Wahre zu lieben und alles um seinetwillen zu tun“, das hatte schon Platon mit großem Pathos betont. [Philebos, 59 d]

 

Es ist interessant, zu beobachten, dass Aristoteles seine Metaphysik mit allgemeinen Betrachtungen darüber eröffnet, was denn Wissen und Wissenschaft eigentlich sei. In diesem Zusammenhang seine Feststellung: „Wir glauben, etwas zu wissen, wenn wir den Grund erkannt haben.“ [994 b 29] Wissen um „Gründe“ ist also „Modus“ des Wissens und Erkennens. Hier schließt Aristoteles seine berühmte Klassifikation von Warum-Fragen an (unter dem Titel „Vierursachenlehre“ bekannt) an.

Im weiteren wäre es nun eine lohnenswerte Aufgabe, zu verfolgen, wie er von diesem Anfang aus zu der Bestimmung kommt, dass die „erste Philosophie“ Ontologie sei (vom „Seienden, sofern es Seiendes ist“). Auch die übrigen Bestimmungen, dass die „erste Philosophie“ Wissenschaft sei von dem, was „am meisten wißbar“ ist und von dem, „was am meisten allgemein“ ist, letztlich auch vom dem, was „am meisten elementar“ ist, führt er in diesem Zusammenhang auf.

Nehmen wir unseren Faden wieder auf: Manche Fragestellungen ergeben sich aufgrund von Prämissen, deren Gültigkeit selbst fraglich sind.

Im Unterschied zu speziellen empirischen Fragestellungen zielen philosophische Fragestellungen in besonderer Weise auf verallgemeinerungsfähige und grundsätzliche Aussagen, ganz besonders darauf, ob es solche überhaupt geben kann und darf. Vorausgesetzt wird dabei, dass unsere Behauptungen nicht generell irrtümlich sein müssen. So wird sich bereits in der Anerkennung philosophischer Fragestellungen die Vernunft und das Denken [in der Fähigkeit zu haltbaren Fragestellungen] selbst zum Problem.

Was ist der Zweck philosophischer Überlegungen?

Die Erfahrung mit philosophischen Diskussionen und Texten zeigt u. a. folgendes:

Es bedarf vieler Worte, relativierender Wendungen und Einschränkungen, um das Wenige, das wir wirklich wissen und erkennen können, zum Ausdruck zu bringen und gegenüber Fehlauffassungen abzugrenzen. Dies gilt besondere für Fragen und Antworten von erheblichem Allgemeinheitsgrad.

 

Eine besondere Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung von gerechtfertigten, eventuell gültigen Bestandteilen unserer Erkenntnis von lediglich mutmaßlich gerechtfertigten oder mutmaßlich gültigen Annahmen. Diese Schwierigkeit ist mit der Natur begründenden [bzw. begründeten] Denkens eng verbunden. Im Laufe der Versuche, Fragestellungen, Antworten, Befunde, Verfahrensweisen zu nennen, zu präzisieren und als stichhaltig zu erweisen, erfahren wir eine Bewegung des Denkens, die uns von anfänglichen Themen zu anderen Fragen weiterführt und insofern den „Gegenstand des Denkens“ verändert. [Übrigens ein zentrales Motiv Hegels.] Man kann die Wahrheit in einer bestimmten Sache nur herausfinden, wenn man die richtigen Fragen stellt. Schließlich stoßen wir auf Fragen der Wiss- und Erkennbarkeit [bezüglich irgendwelcher Themen und Sachverhalte]. Auf die Frage, warum wir bestimmte Ansichten und Behauptungen [ev. relativiert auf bestimmte Kontexte] gelten lassen bzw. gelten lassen sollten.

Ein ergänzender Gesichtspunkt besteht darin, dass wir als „endliche“, in tausend Relativitäten verstrickte Wesen nicht wirklich fähig sind, in den verschiedensten Stimmungen und Situationen „identische“ Wahrheiten festzuhalten, sondern die für uns maßgeblichen Einsichten erneut aus gegebenen Denkinhalten verknüpfen und rekonstruieren müssen.

Den Versuch, sich der Gründe inne zu werden, warum wir [trotz allem] bestimmte Standpunkte und Argumentationsweisen gelten lassen [sollten] und andere nicht, halte ich für Philosophie. Man kann von einem Denken des Denkens, das selbst Denken ist, sprechen. Auch von einer Anatomie der gerechtfertigten Argumente oder von Argumentationsstrukturen kann man sprechen. Auch von Versuchen, sich der Rationalität irgendwelcher Fragestellungen und Erörterungen zu vergewissern.

Man setzt bei all dem voraus, dass die menschliche Vernunft imstande ist, Rationalitätsanforderungen auf verschiedenen Gebieten zu ermitteln und zu formulieren. Philosophie ist ein Phänomen der sich selbst suchenden und eventuell auch verfehlenden Vernunft.

 

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