Von Partnerwahl und Fortpflanzung

 

Der Gedanke, den ich in diesem Artikel verfolge, besteht darin, dass unzählige potentielle Lebenskeime körperli­cher und geistiger Art auf  Verkörperung lauern. Ihre Verkörperung geschieht durch fortwährende Kombinati­onsversuche und Indienstnahme „verkörperungsgeeigenter“ Materialien, Werkzeuge und Ressourcen.

 

Gene z. B. sind biologische, zur Replikation befähigte „Einheiten“, bzw. „Mechanismen“ [molekularbiologischer Art]. Bisweilen, in evolutionsgeschichtlichen Zeiträumen, gelingt ihnen sogar eine selbst­optimierende Replika­tion, wobei sich die Selbstoptimierung am Fort­pflanzungserfolg des Gens in Relation zu den Genen kon­kurrie­ren­den Arten [in einer sich teilweise ändernden Umwelt] bemisst. Gene sind Teile evolutionär entstande­ner, natürli­cher Selbstbehauptungs- und Fortpflanzungs­strategien [artgeprägter Individuen]. „Meme“ [Susan Black­more, „Macht der Meme“] sind in Analogie hierzu kulturell erzeugte Lebens-, Daseins- und Fortpflanzungs­muster [typisch menschlicher Verhaltens- und Redeweisen]. Es handelt sich bei „Memen“ um [typische] Prä­gungen menschlichen Verhaltens, Empfindens und Denkens, teil­weise kollektiver, teilweise familiärer und teil­weise sogar individueller Art. Eine Differenzierung in „bewusst“ und „un­bewusst“ kommt hinzu. Zu betonen ist der Gesichtspunkt, dass sich Meme, in Analogie zu den Genen, in weit verzweigten Rückkopplungsmecha­nis­men replizieren.

Die Seelen der Abgeschiedenen in der antiken Mythologie, als blutleere Schatten in einer eigenen Welt, gieren und lechzen nach dem Lebenssaft „Blut“, um erneut in’s körperlich-handgreifliche Dasein zu gelangen. Ebenso befin­den sich auch kulturelle Lebensmuster, sowie vielerlei „Daseinsprägungen“ in beständi­ger Suche [Dränge­lei und Hetzjagd] nach einer geeigneten Gelegenheit zur Realisation und Fortpflanzung. Sie versuchen, zweck­dienliche Materialien für die eigene Manifestation und Propagation an sich zu bringen. Dasein, Wohlsein, Selbststärkung, Fortpflanzung, im menschlichen Fall selbstver­ständlich auch ausreichende Geldmittel, Sponso­ren und Ressourcen, das sind im Großen und Ganzen die typi­schen Zwecke aller zur Verkörperung drängenden Reproduktions- und Fortpflanzungsmechanismen [Repli­katoren].

 

Schopenhauer meint an einschlägiger Stelle [Welt als Wille, II, 44, „Metaphysik der Ge­schlechtsliebe“]: Im skrupulös abschätzenden Blick, den Menschen verschiedenen Ge­schlechts insgeheim [unbewusst, „betriebsblind“] aufeinander werfen, wenn sie sich erstmals begegnen, ereignet sich eine Eig­nungsprüfung zwecks etwaiger gemeinsamer Fortpflanzung. Diese Erwägung geschieht als unbewusstes oder halbbewusstes „Nachdenken“ darüber, wel­che Art von Individuum [mit welchen erblichen Eigenschaften] ein Mitglied der kommenden Generation werden könnte. Weil von der kommenden Generation unzählige zukünftige Gene­rationen in Abhän­gigkeit stehen, also die Beschaffenheit der zukünftigen Menschheit insge­samt, sei diese An­gelegen­heit eine Sache von großer Wichtigkeit.

Diese „Theorie“ ist nach Schopenhauer eine „transzendente Spekulation“. Aus meiner eige­nen Sicht handelt es sich um eine Art „Erklärbarkeitsbehauptung“ mit heuristischem Wert z. B. in der Psychologie des menschlichen [erotischen] Mit- und Gegeneinanders. Ich erweitere diese Theorie an dieser Stelle um folgenden Gesichtspunkt:

Neben biologisch-evolutionär geprägten Fortpflanzungsmechanismen in der Natur gibt es kultu­rell entstandene „Propagatoren“ gesellschaftlicher und psychologischer Art. Bei der „freien“ Partnerwahl der neueren Zeit [in affaires de coeur] geht es weitgehend um die wech­selseitige Eignung zwecks Verbreitung [„Sprossung“] von Lebensplänen, Le­bensprogram­men. Es geht um die Eignung zwecks Verwirklichung von projektierten Lebensmustern, Denk- und Empfindungsgewohnheiten. Wir sind, biologisch gesehen, Agenten ir­gendwelcher Gene, und wir sind, gesellschaftlich- kulturell gesehen, Agenten irgendwelcher Meme. In beiden Fällen wissen wir nicht sonderlich viel davon, aber das erhöht das Interesse an der Sache sogar noch. Die Entstehung einer Arbeitsteilung von Programmfestlegung und der tat­sächlichen Ausfüh­rung [des Programms durch andere] ist wahrscheinlich selbst ein zweck­mäßiger, überlebens­fähiger und sich selbst stabilisierender Fortpflanzungsmechanismus. Die Replika­tion der Replikatoren erfolgt infolge der Verkörperungstendenzen daseinshungriger, auf Ver­einnah­mung von Agenten und Organen drängender „Geister“. Im Falle der menschli­chen Fortpflan­zung hat man gesagt, das Individuum sei ein Abfallprodukt der Liebe. Aus ei­nem anderen Gesichtspunkt möchten wir nunmehr behaupten, Eltern und Kind seien die Agenten verkörpe­rungswilliger Replikatoren biologischer und kultureller Art, welche die ent­sprechende Stim­mung für ihren Auftritt zu erzeugen vermögen.

 

Ich spreche in diesem Fall von „Geistern“, weil es sich um „Gestaltprägungen“ und „Daseinsmuster“ abstrakter Art handelt. Sich selbst erhaltende Gesetzmäßigkeiten, typische Daseinsmuster, typische Ablauffolgen und auch typi­sche Gewohnheiten des Verhaltens und Denkens können in unterschiedlichen konkreten Situationen erneut reali­siert werden. Entstehende typische Situationen und Situationsfolgen mit entsprechendem Beharrungs- und Wie­derho­lungsvermögen, z. B. auch die Entstehung von schwer zu entwurzelnden schlechten Angewohnheiten rechne ich derart dem Daseins- und Verkörperungsdrang von „Gestaltungskräften“ [„Wiederholungsmustern“], „poten­tiellen Wesen“ oder „Geistern“ zu. Auch wenn es sich in diesem Fall um „Ungeister“ handeln würde. „Un­geister“ und „Plagegeister“, der materiellen Wirklichkeit sozusagen besonders „verhaftet“, „unerleuchtet“ und in schwa­chen Stunden sehr „erlösungsbe­dürf­tig“, sind weitaus „daseinshungriger“ als alle andern gestaltbil­denden Mächte. Der zur Realisation drängende Typus des Geschehens ist in meiner Sprechweise eine in’s Da­sein drän­gende Ges­taltbildung typischer und nach Wiederholung strebender Art. Wir sprechen von einem  in Wartestellung befindli­chen Keimling. Ein Geist oder Ungeist ist er, weil er die materielle Realisation u. U. noch nicht besitzt, sondern lediglich danach drängelt.

Schopenhauers Wendung „transzendent spekulativ“, die hier kein Verdikt darstellt, sondern lediglich eine kriti­sche Selbstbesinnung andeutet, soll heißen: „nach strengen Maßstäben erfahrungswissenschaftlicher Verfah­rensweise überschwänglich“ oder „ mehr behauptend, als man aus nüchternen Beobachtungsbefunden wirklich schöp­fen kann“. Begriffe von „absichtsvoll wirkenden Seelen“, „Absicht hegenden, Pläne hervorbrin­genden We­sen“ und  „auf Gelegenheit lauernden Geistern“, noch dazu „potentieller“ oder „virtueller“ Art, sind aus der Sicht nüchtern konstatierender Erfahrung sehr gewagt, kommen aber durch die Rede von „Eignung“, „Zweck­mäßigkeit“ usw. in’s Spiel [der Betrachtung]. Wir behaupten in diesen Fällen mehr, als die nüch­terne Einzelbe­obachtung hergibt. Andererseits setzt uns die vielleicht ungewohnte Betrachtungsweise in die Lage, Zusammen­hänge zu sehen, die vorher unserer Aufmerksamkeit entgingen. [Große Gefahr ist hier: die Bildung von ‚Ver­schwörungs­theorien’, die Ausbildung eines paranoiden Denkmusters.] Nach einem Wort des Familientherapeu­ten Helm Stier­lin: „Statt eingleisiger Ursache-Wirkungsfolgen erkennen wir zirkulär vernetzte Ursache-Wir­kungsketten. Einfa­cher gesagt: Das Tun des einen erweist sich als das Tun des anderen.“ Dennoch ist alles ein ziemlich typisches Geschehen.

 

Schopenhauer liebte den Gestus des esprit fort, der drastische Wahrheiten zu verkünden hat. Insofern neigte er dazu, das geistig-mentale Einvernehmen der Partner gering zu schätzen und verschiedene Gesichtspunkte [unbe­wussten] körperlichen Wohlgefallens hervorzuheben. Un­ter diesem Aspekt sind wir Agenten der fortpflanzungs­fähigen Natur.

 

Die Geringschätzung geistig-mentalen Einvernehmens [in Fragen einer Theorie der Partner­wahl] ist m. E. aber nur dann zu rechtfertigen, wenn man Geistig-Mentales mit geheucheltem Inte­resse, ober­flächlicher Parteinahme, affektierter ästhetischer Empfindsamkeit u. dgl. gleichsetzt. Unsere angeblichen Interessen sind oft nicht unsere wirklichen und selten unsere einzigen, das gilt in hohem Maße auch in Fragen men­talitätsbe­stimmter Ver­haltensweisen. Dasjenige Geistig-Mentale, das ich hier unter dem Titel „Meme“ zur Geltung bringen möchte, sind „tief“-sitzende Arten und Verfahrensweisen unseres Denkens und Handelns, die wir selbst nur schwer durchschauen, verbunden mit gängigen „Projektionen“ (typischen Produkti­onen der Einbildungskraft) und verbreiteten Wunschbildern. [Der Inhalt unserer „Subjektivi­tät“ ist gar nicht so persönlich-individuell, wie wir zunächst glauben.] Man kann von psycho­logi­schen Skripten oder Programmen sprechen, z. B. in Anleh­nung an Eric Berne und seine psycho­logische Transak­tions­analyse. Unter diesem Aspekt sind wir Agenten der uns prägen­den Mentalitäten, und unsere Partnerwahl erfolgt be­triebsblind aufgrund einer zeitweise be­stehenden Harmonie der „Skripte“ und „Pro­gramme“. Es ist merkwür­dig, dass uns die Denk­art selbst unseres Denkens und Handelns weitgehend „un­bewusst“ ist.

 

Rotkäpp­chen z. B., im Märchen, sieht sich selbst als ein unschuldiges Mäd­chen, das Opfer eines im Walde schweifenden Wolfes wird. Diese Betrachtungsart ist nicht völlig unrichtig, hat aber nur ein relatives Recht. Man kann nämlich auch sagen, dass der arme Wolf ein Opfer von Rotkäppchen wird, die ihn letztlich mit Hilfe eines Jägers grausam zur Strecke bringt. Er hat den Fehler begangen, sich in etwas unvorsichtiger und gieri­ger Weise auf Lie­besabenteuer einzulassen, eine Mentalität die bei Männern leider stark verbreitet ist. Sein Interesse gilt in bedenklicher Weise Rotkäppchen und einer unternehmungslustigen Großmutter gleicherma­ßen, die allein in einem Waldhaus wohnt, ohne ihre Tür zu ver­schließen.

 

Hier entsteht ein Zusammenspiel von Op­fer- und Täter-Mentalitäten, die in einer Art von pre­kärer Resonanz wechselseitig wirken. Die Denk- und Verhaltens­muster sind den Betei­ligten dabei aber nur in einge­schränktem Maße bewusst. – Es ist ihnen nicht klar, was sie sich selbst und andern antun. [vgl. Eric Berne, „Was sagen Sie, nachdem Sie „Guten Tag“ gesagt haben?“, Kapitel 2, Rotkäppchen.] Das Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ ist als eine Art Zauber­spiegel menschlichen Mit- und Gegeneinanders [in erotischen Dingen!] zu betrachten, man könnte es unter den Begriff eines magischen Realismus subsumieren. Es handelt sich im Grunde ge­nommen nicht um ein Thema für kleine Kinder, sondern um ein ziemlich frivoles und anzügliches Erwachse­nen-Thema.

 

Die Meme und mentalitätsgesteuerten Üblichkeiten, die hier in Erscheinung treten, sind z. B. „Täter“, „Opfer“, „Leckerbissen“, „Veführung“, „Verfolgung“ und „Bestrafung“. Unter die­sen Aspekten haben sich die Beteilig­ten gesucht und gefunden. Es ist ein Geschehen mit un­bewusster, betriebsblinder Teleologie. – Meme, als Dispostionen zu beobachtbaren, aber denkart-gesteuerten Verhaltensweisen, nisten sich sozusagen ein in Körper und Geist der Ge­schehensbeteiligten.

 

Von den „eigentlichen“ Interessen, denen wir dienen, besitzen wir lediglich vage Vorstellun­gen. Daseinsprägungen biologischer und kultureller Art lauern auf Festsetzung, Selbsterhal­tung, Expansion und Fortpflanzung. Weil viele „Daseinsgebilde“ ihr Leben zu Lasten [und auf Kosten] von anderen zu sichern und zu steigern versuchen, läuft dies bisweilen auf einen grausamen Kampf der Arten, Individuen und ‚Ideen’ hinaus. Konzepte, Deutungsmuster, Ideen usw., die wir ebenfalls als lauernde Wesen in’s Spiel setzen, kämpfen übrigens beson­ders um die Ressource „Aufmerk­samkeit“, „Relevanz“ und „Wichtigkeit“

In jedem von uns wohnt ein Gott, es fragt sich nur, welcher es ist, schrieb Seneca. Nehmen wir den Gott in uns hier als das für uns maßgebliche, innere Gepräge. Das in unserem Innern errich­tete Bild einer meist eifer- und machtsüchtigen Gottheit erfordert Opfer des persönli­chen Wohlerge­hens. Dieser Gesichtspunkt erklärt, warum im Extremfall ein Individuum so­gar dazu bereit sein kann, sich selbst mit seinen bescheidenen realen Glücksmöglichkeiten als Opfer für ein innerlich maßgebendes Programm darzubringen. Der Psychologe W. Schmid­bauer verwendete in diesem Zusammenhang die Hypothese einer Destruktivität der Ideale. Der Mensch, auch wenn er nicht allzu viel zu verlieren hat, möchte ganz einfach im Sinne einer höheren Sache tätig sein.

 

Zunächst jedoch beginnt die Ahnung einer Gelegenheit der Programmfortpflanzung mit Lust und Entzücken vonseiten der entflammten Individuen. Um einer erwarteten Resonanz der Lebensschwingung und eines unbestimmten Anklangs willen nähern wir uns einander an. Mit der oft gar nicht unterschwelligen Tendenz, essentielle Prägungen kundzutun und durch Wer­bung dafür zu fördern. Der Mitmensch wird uns auf diese Weise leicht zum Werkzeug der eigenen Lust und des eigenen Programms. Er wird uns zum Mittel der in uns bei entsprechen­der Gelegen­heit [zufällig] erregten Erwartung, die letztlich vielleicht doch nur einseitig be­steht. Hier tritt der Besitz ergreifende, zum Teil gefährliche, eventuell sogar „terroristische“ Charakter der entsprechenden Art von Liebe und Programmsteuerung hervor.

 

Man sollte also immer vorsichtig sein und daran denken, dass Menschen in einer gewissen Hinsicht programmgesteuerte und auf typische Wiederholungsmuster angelegte Lebewesen sind. Sie handeln unter Einfluss von „Zutritt heischenden Geistern“. Oft besteht bereits Ver­einnahmung, die Besitzergreifung ist längst geschehenes Ereignis. Er ist längst Parteigänger einer über ihn hinausgehenden Bewegung geworden und reagiert auf die Parole, welche die tonangebenden Kreise seiner Sache ausgegeben haben.

 

Es gibt kaum eine Sache in der Welt, die nicht zu Lasten (und auf Kosten) von anderem [und anderen] ginge. Insofern sehe man nicht nur den „konstruktiven“ Aspekt einer sich selbst erhaltenden „Daseinsprägung“. Die meisten sich selbst reproduzierenden Typenbildungen haben an anderer Stelle destruktive Auswirkungen. So reali­siert sich s. B. das Phänomen menschlicher Streitigkeiten mit destruktiver Eigendynamik immer wieder erneut, mit typischen Mustern der Entstehung, der Eskalation, Beilegung usw., zu Lasten von vielen Betroffe­nen. Aber der „Krieg“ ernährt sich dennoch lange Zeit selbst [zu Lasten von Betroffenen] und entflammt nach seiner Auszeh­rung an anderer Stelle erneut in einer für ihn typischen Art und Weise, z. B. anlässlich der ver­schiedenartigen Auslegung einer ehemals getroffenen Vereinbarung [vor dem Hintergrund aktuell verschiede­nen Interesses].

 

Arten von „freiem, interesselosem Wohlgefallen“ [am Schönen] oder gar „rein rationalem [moralischem] Wohlgefallen“ [am Guten] [beide von Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ be­sprochen] sind für uns Men­schen zu wenig aufregend und leidenschaftlich, um uns ähnlich effektiv [wie andere Pro­gramme] zu motivieren. Sex, Macht, Geld und Gewalt faszinieren die Menschen seit alters her am meisten, auch wenn sie, zumindest die Gewalt, diese Dinge am eigenen Leib nicht erfahren möchten. Das sind sozusagen die Typen [bzw. Archetypen], wel­che den hirnarchäologisch älteren, teil­weise genetisch vorbedingten Hirn- und Verhaltens­strukturen korrespondieren.

 

Platon hat wahrscheinlich auf tiefgründige Weise Recht behalten, als er im Eros das Verlan­gen erkannte, „im Schönen zu zeugen.“ [Symposion] Schön nennen wir dabei allerdings dasje­nige, was unserem persönlichen, vielleicht gar nicht so guten Geschmack in besonderem Maße entspricht.

 

Ein Dichter sagt: „Sie erriet, was still er begehrte.“ Zeigt sie sich nun gewährend, weil er die Bedingungen eines geeigneten Bewerbers erfüllt, dann entsteht der erotische Ernstfall. Sie pflücken die goldene Frucht [der Aphrodite], wechselseitige Erwartungen und Lebensmuster verhaken sich, und daseinshungrige Geister treten nach und nach auf den Plan. Bei Licht be­trachtet sind es aber die ewig alten. Das nennt man in buddhistischer Tradition das „Rad“ von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Es gilt nicht nur für die Menschen, sondern auch für die typischen Denk- und Verhaltensmuster.

 

Die Natur bedarf des Lockmittels der Lustverheißung zu ihrem Zweck  Dass dieses Lockmit­tel für den individuellen Menschen vielleicht als die Hauptsache erscheinen mag, für den Fortlauf der Dinge aber eine Nebensache darstellt, schuldet sich einer gewissen Tücke der existierenden Fortpflanzungsmechanismen, derer sich die „souveräne“ Natur als „Strategem zu ihren Zwecken“ [Schopenhauer, a. a. O.] bedient. Gäbe es in der Natur keine Lock- und Verführungsmittel, kämen die geplagten Individuen sehr schnell auf den Gedanken, das höchste Ziel allen Strebens in der seligen Ruhe des Nichts zu erblicken.

 

Der polnische Aphoristiker S. Lec bezeichnet in seinen „Unfrisierten Gedanken“ die „subjek­tive“ Perspektive zu diesem objektiven Geschehen sehr genau, wenn er schreibt: „Der Mensch ist das Abfallprodukt der Liebe.“ Wir alle sind solche Abfallprodukte. Zum Teil sind wir aber auch sehr zweckmäßige Werkzeuge und Agenten „höherer“ und „eigentlicher“ Inte­ressen.

 

Wenn zwei Menschen [verschiedenen Geschlechts] sich [zwecks Steigerung gemeinsamen Lebensgefühls und selbstverständlich irgendwelcher „Sprossungen“] zusammentun, gibt es wesentlich mehr Beteiligte, als der oberflächliche und leichtfertige Betrachter denkt. Zu Neu­geburt drängende Wesen sind dabei, die ihren Zeugungsakt fordern. „Wesen“ heißt in diesem Fall: ein „potentielles Daseinsgebilde“, und zwar im Sinne eines biologischen, gewohnheits­mäßigen und gesellschaftlich- kulturellen Prägungsmusters. Und die Vorfahren, Erzieher und Verwandten der Protagonisten sind auch dabei. Wohlgemerkt: daseinsmächtige Prägungen und nicht lediglich propagierte Bildungsideale, gute Absichten u. dgl.!

 

Den Hauptpersonen ist die Hauptrolle in ihrem Leben nur scheinbar zugefallen, in höherer Perspektive spielen wir alle in unserem eigenen Leben nur eine Nebenrolle. Familiäre und gesellschaftliche Üblichkeiten und Erwartungen führen uns an der Nase herum und erzeugen mächtigen Erwartungsdruck. Da sich die Situation in gewisser Weise als überbestimmt dar­stellt, und viele Köche den Brei verderben, darf es uns nicht überraschen, wenn aus der gele­gentlichen Einheit von so viel unterschiedlichen Mächten mehr oder weniger überindividuel­ler Art auch wieder eine Disharmonie von Gegensätzen werden kann. Indem sich Verschiede­nes zu Einheiten gruppiert und dann wieder in unterscheidbare Bestandteile auflöst, schreitet das Leben in typischen Wendungen voran.

 

In dieser Betrachtung haben wir uns sozusagen auf Geisterseherei verlegt. Nach Zweckmä­ßigkeiten gestaltete Zusammenhänge mehr oder weniger geheimnisvoller Art spielen in dieser Geisterlehre die Hauptrolle. Es bleibt der abschließenden Erwähnung wert, dass die daseins­hungrigen Geister, die wir in’s Spiel gebracht haben, in aller Regel sich in Zuständen der Verblendung befinden.

 

Im Zustand der Verblendung und eines Mangels an Erleuchtung sich zu befinden, bedeutet im menschlichen Falle Folgendes: Die hungrigen Geister [und durstgequälten Gespenster] su­chen die Lust des verkörperten Da­seins zu Lasten von ihresgleichen und übersehen dabei, dass sie das, was sie einander antun, auf geheimnisvolle Weise sich selbst antun. Sie schaffen sowohl anderen als auch sich selbst die Leiden der Welt, die ebenfalls etwas Typisches haben. Bei aller Zweckmä­ßigkeit, nach der diese Geister handeln und gestaltend wirken, sie sehen die Not, die sie sich selbst und andern schaffen, nicht voraus. Das typische Defizit ihrer meist nur wenig bewussten Zwecksetzung [„sie wissen nicht recht, was sie sich antun“] ist der Mangel an Vorausschau bezüglich der sich weit verzweigenden Konsequenzen ihrer oft un­heil­schwange­ren Tätigkeit. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass sie so daseins- und ges­taltungs­hungrig am Augenblick kleben. Die äußerst selektiv wahrgenommene Gegenwart ist eine „mächtige Königin“, der sie anhängen und „anhaften“. Sie sitzen zunächst startbereit auf dem Sprung und möchten nicht allzu viel von „weiteren Konsequenzen“ hören, um Ener­gie und Tatkraft nicht zu gefährden. Aber letztlich, verstrickt in unvorhergesehene Nöte, er­leiden sie die Leiden der Welt und schmachten nach Erlösung. Unsere zunächst so hungrigen, durs­tigen, stark verblendeten Geister verfallen in Katerstimmung und erkennen die selbst ge­schaf­fene Not. Das wird so schlimm, dass sie nicht mehr ruhig schlafen können.

 

Einfache, unschuldige Genüsse sind dann die letzte Zuflucht komplizierter Wesen, sich au­ßergewöhnliche Empfindungen zu verschaffen. So O. Wilde, sehr treffend. Ruhigen Gewis­sens in einer einiger Maßen erträglichen Umgebung auf einer [Yoga-] Matte zu liegen, er­scheint ihnen [mit Se­neca] bereits als hohes Ziel. Und gar in einem schönen Garten zu sitzen und in einer distan­zierend meditativen Weise über den Lauf der Welt zu sinnen, geradezu als para­diesisches Glück.

 

Milden Sinnes wenden sie sich dann ab von der hektischen Impulsivität des ursprünglichen Verkörperungs- und Fortpflanzungsdrangs und sprechen das Lob der geläuterten Sitten und der apollinischen Künste. Darin erfahren sie, zumindest zeitweise, Zauber und Verwandlung.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2004