Von
Partnerwahl und Fortpflanzung
Der
Gedanke, den ich in diesem Artikel verfolge, besteht darin, dass unzählige
potentielle Lebenskeime körperlicher und geistiger Art auf Verkörperung lauern. Ihre Verkörperung
geschieht durch fortwährende Kombinationsversuche und Indienstnahme
„verkörperungsgeeigenter“ Materialien, Werkzeuge und Ressourcen.
Gene
z. B. sind biologische, zur Replikation befähigte „Einheiten“, bzw. „Mechanismen“
[molekularbiologischer Art]. Bisweilen, in evolutionsgeschichtlichen Zeiträumen,
gelingt ihnen sogar eine selbstoptimierende Replikation, wobei sich die
Selbstoptimierung am Fortpflanzungserfolg des Gens in Relation zu den Genen konkurrierenden
Arten [in einer sich teilweise ändernden Umwelt] bemisst. Gene sind Teile
evolutionär entstandener, natürlicher Selbstbehauptungs- und Fortpflanzungsstrategien
[artgeprägter Individuen]. „Meme“ [Susan Blackmore, „Macht der Meme“] sind in
Analogie hierzu kulturell erzeugte Lebens-, Daseins- und Fortpflanzungsmuster
[typisch menschlicher Verhaltens- und Redeweisen]. Es handelt sich bei „Memen“
um [typische] Prägungen menschlichen Verhaltens, Empfindens und Denkens, teilweise
kollektiver, teilweise familiärer und teilweise sogar individueller Art. Eine
Differenzierung in „bewusst“ und „unbewusst“ kommt hinzu. Zu betonen ist der
Gesichtspunkt, dass sich Meme, in Analogie zu den Genen, in weit verzweigten
Rückkopplungsmechanismen replizieren.
Die
Seelen der Abgeschiedenen in der antiken Mythologie, als blutleere Schatten in
einer eigenen Welt, gieren und lechzen nach dem Lebenssaft „Blut“, um erneut
in’s körperlich-handgreifliche Dasein zu gelangen. Ebenso befinden sich auch
kulturelle Lebensmuster, sowie vielerlei „Daseinsprägungen“ in beständiger
Suche [Drängelei und Hetzjagd] nach einer geeigneten Gelegenheit zur Realisation
und Fortpflanzung. Sie versuchen, zweckdienliche Materialien für die eigene Manifestation
und Propagation an sich zu bringen. Dasein, Wohlsein, Selbststärkung,
Fortpflanzung, im menschlichen Fall selbstverständlich auch ausreichende
Geldmittel, Sponsoren und Ressourcen, das sind im Großen und Ganzen die typischen
Zwecke aller zur Verkörperung drängenden Reproduktions- und Fortpflanzungsmechanismen
[Replikatoren].
Schopenhauer meint an einschlägiger Stelle [Welt als Wille, II, 44, „Metaphysik der Geschlechtsliebe“]: Im skrupulös abschätzenden Blick, den Menschen verschiedenen Geschlechts insgeheim [unbewusst, „betriebsblind“] aufeinander werfen, wenn sie sich erstmals begegnen, ereignet sich eine Eignungsprüfung zwecks etwaiger gemeinsamer Fortpflanzung. Diese Erwägung geschieht als unbewusstes oder halbbewusstes „Nachdenken“ darüber, welche Art von Individuum [mit welchen erblichen Eigenschaften] ein Mitglied der kommenden Generation werden könnte. Weil von der kommenden Generation unzählige zukünftige Generationen in Abhängigkeit stehen, also die Beschaffenheit der zukünftigen Menschheit insgesamt, sei diese Angelegenheit eine Sache von großer Wichtigkeit.
Diese „Theorie“ ist nach Schopenhauer eine „transzendente Spekulation“. Aus meiner eigenen Sicht handelt es sich um eine Art „Erklärbarkeitsbehauptung“ mit heuristischem Wert z. B. in der Psychologie des menschlichen [erotischen] Mit- und Gegeneinanders. Ich erweitere diese Theorie an dieser Stelle um folgenden Gesichtspunkt:
Neben biologisch-evolutionär geprägten Fortpflanzungsmechanismen in der Natur gibt es kulturell entstandene „Propagatoren“ gesellschaftlicher und psychologischer Art. Bei der „freien“ Partnerwahl der neueren Zeit [in affaires de coeur] geht es weitgehend um die wechselseitige Eignung zwecks Verbreitung [„Sprossung“] von Lebensplänen, Lebensprogrammen. Es geht um die Eignung zwecks Verwirklichung von projektierten Lebensmustern, Denk- und Empfindungsgewohnheiten. Wir sind, biologisch gesehen, Agenten irgendwelcher Gene, und wir sind, gesellschaftlich- kulturell gesehen, Agenten irgendwelcher Meme. In beiden Fällen wissen wir nicht sonderlich viel davon, aber das erhöht das Interesse an der Sache sogar noch. Die Entstehung einer Arbeitsteilung von Programmfestlegung und der tatsächlichen Ausführung [des Programms durch andere] ist wahrscheinlich selbst ein zweckmäßiger, überlebensfähiger und sich selbst stabilisierender Fortpflanzungsmechanismus. Die Replikation der Replikatoren erfolgt infolge der Verkörperungstendenzen daseinshungriger, auf Vereinnahmung von Agenten und Organen drängender „Geister“. Im Falle der menschlichen Fortpflanzung hat man gesagt, das Individuum sei ein Abfallprodukt der Liebe. Aus einem anderen Gesichtspunkt möchten wir nunmehr behaupten, Eltern und Kind seien die Agenten verkörperungswilliger Replikatoren biologischer und kultureller Art, welche die entsprechende Stimmung für ihren Auftritt zu erzeugen vermögen.
Ich
spreche in diesem Fall von „Geistern“, weil es sich um „Gestaltprägungen“ und
„Daseinsmuster“ abstrakter Art handelt. Sich selbst erhaltende
Gesetzmäßigkeiten, typische Daseinsmuster, typische Ablauffolgen und auch typische
Gewohnheiten des Verhaltens und Denkens können in unterschiedlichen konkreten
Situationen erneut realisiert werden. Entstehende typische Situationen und
Situationsfolgen mit entsprechendem Beharrungs- und Wiederholungsvermögen, z.
B. auch die Entstehung von schwer zu entwurzelnden schlechten Angewohnheiten
rechne ich derart dem Daseins- und Verkörperungsdrang von „Gestaltungskräften“
[„Wiederholungsmustern“], „potentiellen Wesen“ oder „Geistern“ zu. Auch wenn
es sich in diesem Fall um „Ungeister“ handeln würde. „Ungeister“ und „Plagegeister“,
der materiellen Wirklichkeit sozusagen besonders „verhaftet“, „unerleuchtet“
und in schwachen Stunden sehr „erlösungsbedürftig“, sind weitaus „daseinshungriger“
als alle andern gestaltbildenden Mächte. Der zur Realisation drängende Typus
des Geschehens ist in meiner Sprechweise eine in’s Dasein drängende Gestaltbildung
typischer und nach Wiederholung strebender Art. Wir sprechen von einem in Wartestellung befindlichen Keimling. Ein Geist
oder Ungeist ist er, weil er die materielle Realisation u. U. noch nicht
besitzt, sondern lediglich danach drängelt.
Schopenhauers
Wendung „transzendent spekulativ“, die hier kein Verdikt darstellt, sondern
lediglich eine kritische Selbstbesinnung andeutet, soll heißen: „nach strengen
Maßstäben erfahrungswissenschaftlicher Verfahrensweise überschwänglich“ oder „
mehr behauptend, als man aus nüchternen Beobachtungsbefunden wirklich schöpfen
kann“. Begriffe von „absichtsvoll wirkenden Seelen“, „Absicht hegenden, Pläne
hervorbringenden Wesen“ und „auf
Gelegenheit lauernden Geistern“, noch dazu „potentieller“ oder „virtueller“
Art, sind aus der Sicht nüchtern konstatierender Erfahrung sehr gewagt, kommen
aber durch die Rede von „Eignung“, „Zweckmäßigkeit“ usw. in’s Spiel [der
Betrachtung]. Wir behaupten in diesen Fällen mehr, als die nüchterne Einzelbeobachtung
hergibt. Andererseits setzt uns die vielleicht ungewohnte Betrachtungsweise in
die Lage, Zusammenhänge zu sehen, die vorher unserer Aufmerksamkeit entgingen.
[Große Gefahr ist hier: die Bildung von ‚Verschwörungstheorien’, die
Ausbildung eines paranoiden Denkmusters.] Nach einem Wort des Familientherapeuten
Helm Stierlin: „Statt eingleisiger Ursache-Wirkungsfolgen erkennen wir
zirkulär vernetzte Ursache-Wirkungsketten. Einfacher gesagt: Das Tun des
einen erweist sich als das Tun des anderen.“ Dennoch ist alles ein ziemlich
typisches Geschehen.
Schopenhauer liebte den Gestus des esprit fort, der drastische Wahrheiten zu verkünden hat. Insofern neigte er dazu, das geistig-mentale Einvernehmen der Partner gering zu schätzen und verschiedene Gesichtspunkte [unbewussten] körperlichen Wohlgefallens hervorzuheben. Unter diesem Aspekt sind wir Agenten der fortpflanzungsfähigen Natur.
Die Geringschätzung geistig-mentalen Einvernehmens [in Fragen einer Theorie der Partnerwahl] ist m. E. aber nur dann zu rechtfertigen, wenn man Geistig-Mentales mit geheucheltem Interesse, oberflächlicher Parteinahme, affektierter ästhetischer Empfindsamkeit u. dgl. gleichsetzt. Unsere angeblichen Interessen sind oft nicht unsere wirklichen und selten unsere einzigen, das gilt in hohem Maße auch in Fragen mentalitätsbestimmter Verhaltensweisen. Dasjenige Geistig-Mentale, das ich hier unter dem Titel „Meme“ zur Geltung bringen möchte, sind „tief“-sitzende Arten und Verfahrensweisen unseres Denkens und Handelns, die wir selbst nur schwer durchschauen, verbunden mit gängigen „Projektionen“ (typischen Produktionen der Einbildungskraft) und verbreiteten Wunschbildern. [Der Inhalt unserer „Subjektivität“ ist gar nicht so persönlich-individuell, wie wir zunächst glauben.] Man kann von psychologischen Skripten oder Programmen sprechen, z. B. in Anlehnung an Eric Berne und seine psychologische Transaktionsanalyse. Unter diesem Aspekt sind wir Agenten der uns prägenden Mentalitäten, und unsere Partnerwahl erfolgt betriebsblind aufgrund einer zeitweise bestehenden Harmonie der „Skripte“ und „Programme“. Es ist merkwürdig, dass uns die Denkart selbst unseres Denkens und Handelns weitgehend „unbewusst“ ist.
Rotkäppchen z. B., im Märchen, sieht sich selbst als ein unschuldiges Mädchen, das Opfer eines im Walde schweifenden Wolfes wird. Diese Betrachtungsart ist nicht völlig unrichtig, hat aber nur ein relatives Recht. Man kann nämlich auch sagen, dass der arme Wolf ein Opfer von Rotkäppchen wird, die ihn letztlich mit Hilfe eines Jägers grausam zur Strecke bringt. Er hat den Fehler begangen, sich in etwas unvorsichtiger und gieriger Weise auf Liebesabenteuer einzulassen, eine Mentalität die bei Männern leider stark verbreitet ist. Sein Interesse gilt in bedenklicher Weise Rotkäppchen und einer unternehmungslustigen Großmutter gleichermaßen, die allein in einem Waldhaus wohnt, ohne ihre Tür zu verschließen.
Hier entsteht ein Zusammenspiel von Opfer- und Täter-Mentalitäten, die in einer Art von prekärer Resonanz wechselseitig wirken. Die Denk- und Verhaltensmuster sind den Beteiligten dabei aber nur in eingeschränktem Maße bewusst. – Es ist ihnen nicht klar, was sie sich selbst und andern antun. [vgl. Eric Berne, „Was sagen Sie, nachdem Sie „Guten Tag“ gesagt haben?“, Kapitel 2, Rotkäppchen.] Das Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ ist als eine Art Zauberspiegel menschlichen Mit- und Gegeneinanders [in erotischen Dingen!] zu betrachten, man könnte es unter den Begriff eines magischen Realismus subsumieren. Es handelt sich im Grunde genommen nicht um ein Thema für kleine Kinder, sondern um ein ziemlich frivoles und anzügliches Erwachsenen-Thema.
Die Meme und mentalitätsgesteuerten Üblichkeiten, die hier in Erscheinung treten, sind z. B. „Täter“, „Opfer“, „Leckerbissen“, „Veführung“, „Verfolgung“ und „Bestrafung“. Unter diesen Aspekten haben sich die Beteiligten gesucht und gefunden. Es ist ein Geschehen mit unbewusster, betriebsblinder Teleologie. – Meme, als Dispostionen zu beobachtbaren, aber denkart-gesteuerten Verhaltensweisen, nisten sich sozusagen ein in Körper und Geist der Geschehensbeteiligten.
Von den „eigentlichen“ Interessen, denen wir dienen, besitzen wir lediglich vage Vorstellungen. Daseinsprägungen biologischer und kultureller Art lauern auf Festsetzung, Selbsterhaltung, Expansion und Fortpflanzung. Weil viele „Daseinsgebilde“ ihr Leben zu Lasten [und auf Kosten] von anderen zu sichern und zu steigern versuchen, läuft dies bisweilen auf einen grausamen Kampf der Arten, Individuen und ‚Ideen’ hinaus. Konzepte, Deutungsmuster, Ideen usw., die wir ebenfalls als lauernde Wesen in’s Spiel setzen, kämpfen übrigens besonders um die Ressource „Aufmerksamkeit“, „Relevanz“ und „Wichtigkeit“
In jedem von uns wohnt ein Gott, es fragt sich nur, welcher es ist, schrieb Seneca. Nehmen wir den Gott in uns hier als das für uns maßgebliche, innere Gepräge. Das in unserem Innern errichtete Bild einer meist eifer- und machtsüchtigen Gottheit erfordert Opfer des persönlichen Wohlergehens. Dieser Gesichtspunkt erklärt, warum im Extremfall ein Individuum sogar dazu bereit sein kann, sich selbst mit seinen bescheidenen realen Glücksmöglichkeiten als Opfer für ein innerlich maßgebendes Programm darzubringen. Der Psychologe W. Schmidbauer verwendete in diesem Zusammenhang die Hypothese einer Destruktivität der Ideale. Der Mensch, auch wenn er nicht allzu viel zu verlieren hat, möchte ganz einfach im Sinne einer höheren Sache tätig sein.
Zunächst jedoch beginnt die Ahnung einer Gelegenheit der Programmfortpflanzung mit Lust und Entzücken vonseiten der entflammten Individuen. Um einer erwarteten Resonanz der Lebensschwingung und eines unbestimmten Anklangs willen nähern wir uns einander an. Mit der oft gar nicht unterschwelligen Tendenz, essentielle Prägungen kundzutun und durch Werbung dafür zu fördern. Der Mitmensch wird uns auf diese Weise leicht zum Werkzeug der eigenen Lust und des eigenen Programms. Er wird uns zum Mittel der in uns bei entsprechender Gelegenheit [zufällig] erregten Erwartung, die letztlich vielleicht doch nur einseitig besteht. Hier tritt der Besitz ergreifende, zum Teil gefährliche, eventuell sogar „terroristische“ Charakter der entsprechenden Art von Liebe und Programmsteuerung hervor.
Man sollte also immer vorsichtig sein und daran denken, dass Menschen in einer gewissen Hinsicht programmgesteuerte und auf typische Wiederholungsmuster angelegte Lebewesen sind. Sie handeln unter Einfluss von „Zutritt heischenden Geistern“. Oft besteht bereits Vereinnahmung, die Besitzergreifung ist längst geschehenes Ereignis. Er ist längst Parteigänger einer über ihn hinausgehenden Bewegung geworden und reagiert auf die Parole, welche die tonangebenden Kreise seiner Sache ausgegeben haben.
Es
gibt kaum eine Sache in der Welt, die nicht zu Lasten (und auf Kosten) von
anderem [und anderen] ginge. Insofern sehe man nicht nur den „konstruktiven“
Aspekt einer sich selbst erhaltenden „Daseinsprägung“. Die meisten sich selbst
reproduzierenden Typenbildungen haben an anderer Stelle destruktive
Auswirkungen. So realisiert sich s. B. das Phänomen menschlicher
Streitigkeiten mit destruktiver Eigendynamik immer wieder erneut, mit typischen
Mustern der Entstehung, der Eskalation, Beilegung usw., zu Lasten von vielen Betroffenen.
Aber der „Krieg“ ernährt sich dennoch lange Zeit selbst [zu Lasten von
Betroffenen] und entflammt nach seiner Auszehrung an anderer Stelle erneut in
einer für ihn typischen Art und Weise, z. B. anlässlich der verschiedenartigen
Auslegung einer ehemals getroffenen Vereinbarung [vor dem Hintergrund aktuell
verschiedenen Interesses].
Arten von „freiem, interesselosem Wohlgefallen“ [am Schönen] oder gar „rein rationalem [moralischem] Wohlgefallen“ [am Guten] [beide von Kant in der „Kritik der Urteilskraft“ besprochen] sind für uns Menschen zu wenig aufregend und leidenschaftlich, um uns ähnlich effektiv [wie andere Programme] zu motivieren. Sex, Macht, Geld und Gewalt faszinieren die Menschen seit alters her am meisten, auch wenn sie, zumindest die Gewalt, diese Dinge am eigenen Leib nicht erfahren möchten. Das sind sozusagen die Typen [bzw. Archetypen], welche den hirnarchäologisch älteren, teilweise genetisch vorbedingten Hirn- und Verhaltensstrukturen korrespondieren.
Platon hat wahrscheinlich auf tiefgründige Weise Recht behalten, als er im Eros das Verlangen erkannte, „im Schönen zu zeugen.“ [Symposion] Schön nennen wir dabei allerdings dasjenige, was unserem persönlichen, vielleicht gar nicht so guten Geschmack in besonderem Maße entspricht.
Ein Dichter sagt: „Sie erriet, was still er begehrte.“ Zeigt sie sich nun gewährend, weil er die Bedingungen eines geeigneten Bewerbers erfüllt, dann entsteht der erotische Ernstfall. Sie pflücken die goldene Frucht [der Aphrodite], wechselseitige Erwartungen und Lebensmuster verhaken sich, und daseinshungrige Geister treten nach und nach auf den Plan. Bei Licht betrachtet sind es aber die ewig alten. Das nennt man in buddhistischer Tradition das „Rad“ von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Es gilt nicht nur für die Menschen, sondern auch für die typischen Denk- und Verhaltensmuster.
Die Natur bedarf des Lockmittels der Lustverheißung zu ihrem Zweck Dass dieses Lockmittel für den individuellen Menschen vielleicht als die Hauptsache erscheinen mag, für den Fortlauf der Dinge aber eine Nebensache darstellt, schuldet sich einer gewissen Tücke der existierenden Fortpflanzungsmechanismen, derer sich die „souveräne“ Natur als „Strategem zu ihren Zwecken“ [Schopenhauer, a. a. O.] bedient. Gäbe es in der Natur keine Lock- und Verführungsmittel, kämen die geplagten Individuen sehr schnell auf den Gedanken, das höchste Ziel allen Strebens in der seligen Ruhe des Nichts zu erblicken.
Der polnische Aphoristiker S. Lec bezeichnet in seinen „Unfrisierten Gedanken“ die „subjektive“ Perspektive zu diesem objektiven Geschehen sehr genau, wenn er schreibt: „Der Mensch ist das Abfallprodukt der Liebe.“ Wir alle sind solche Abfallprodukte. Zum Teil sind wir aber auch sehr zweckmäßige Werkzeuge und Agenten „höherer“ und „eigentlicher“ Interessen.
Wenn zwei Menschen [verschiedenen Geschlechts] sich [zwecks Steigerung gemeinsamen Lebensgefühls und selbstverständlich irgendwelcher „Sprossungen“] zusammentun, gibt es wesentlich mehr Beteiligte, als der oberflächliche und leichtfertige Betrachter denkt. Zu Neugeburt drängende Wesen sind dabei, die ihren Zeugungsakt fordern. „Wesen“ heißt in diesem Fall: ein „potentielles Daseinsgebilde“, und zwar im Sinne eines biologischen, gewohnheitsmäßigen und gesellschaftlich- kulturellen Prägungsmusters. Und die Vorfahren, Erzieher und Verwandten der Protagonisten sind auch dabei. Wohlgemerkt: daseinsmächtige Prägungen und nicht lediglich propagierte Bildungsideale, gute Absichten u. dgl.!
Den Hauptpersonen ist die Hauptrolle in ihrem Leben nur scheinbar zugefallen, in höherer Perspektive spielen wir alle in unserem eigenen Leben nur eine Nebenrolle. Familiäre und gesellschaftliche Üblichkeiten und Erwartungen führen uns an der Nase herum und erzeugen mächtigen Erwartungsdruck. Da sich die Situation in gewisser Weise als überbestimmt darstellt, und viele Köche den Brei verderben, darf es uns nicht überraschen, wenn aus der gelegentlichen Einheit von so viel unterschiedlichen Mächten mehr oder weniger überindividueller Art auch wieder eine Disharmonie von Gegensätzen werden kann. Indem sich Verschiedenes zu Einheiten gruppiert und dann wieder in unterscheidbare Bestandteile auflöst, schreitet das Leben in typischen Wendungen voran.
In dieser Betrachtung haben wir uns sozusagen auf Geisterseherei verlegt. Nach Zweckmäßigkeiten gestaltete Zusammenhänge mehr oder weniger geheimnisvoller Art spielen in dieser Geisterlehre die Hauptrolle. Es bleibt der abschließenden Erwähnung wert, dass die daseinshungrigen Geister, die wir in’s Spiel gebracht haben, in aller Regel sich in Zuständen der Verblendung befinden.
Im Zustand der Verblendung und eines Mangels an Erleuchtung sich zu befinden, bedeutet im menschlichen Falle Folgendes: Die hungrigen Geister [und durstgequälten Gespenster] suchen die Lust des verkörperten Daseins zu Lasten von ihresgleichen und übersehen dabei, dass sie das, was sie einander antun, auf geheimnisvolle Weise sich selbst antun. Sie schaffen sowohl anderen als auch sich selbst die Leiden der Welt, die ebenfalls etwas Typisches haben. Bei aller Zweckmäßigkeit, nach der diese Geister handeln und gestaltend wirken, sie sehen die Not, die sie sich selbst und andern schaffen, nicht voraus. Das typische Defizit ihrer meist nur wenig bewussten Zwecksetzung [„sie wissen nicht recht, was sie sich antun“] ist der Mangel an Vorausschau bezüglich der sich weit verzweigenden Konsequenzen ihrer oft unheilschwangeren Tätigkeit. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass sie so daseins- und gestaltungshungrig am Augenblick kleben. Die äußerst selektiv wahrgenommene Gegenwart ist eine „mächtige Königin“, der sie anhängen und „anhaften“. Sie sitzen zunächst startbereit auf dem Sprung und möchten nicht allzu viel von „weiteren Konsequenzen“ hören, um Energie und Tatkraft nicht zu gefährden. Aber letztlich, verstrickt in unvorhergesehene Nöte, erleiden sie die Leiden der Welt und schmachten nach Erlösung. Unsere zunächst so hungrigen, durstigen, stark verblendeten Geister verfallen in Katerstimmung und erkennen die selbst geschaffene Not. Das wird so schlimm, dass sie nicht mehr ruhig schlafen können.
Einfache, unschuldige Genüsse sind dann die letzte Zuflucht komplizierter Wesen, sich außergewöhnliche Empfindungen zu verschaffen. So O. Wilde, sehr treffend. Ruhigen Gewissens in einer einiger Maßen erträglichen Umgebung auf einer [Yoga-] Matte zu liegen, erscheint ihnen [mit Seneca] bereits als hohes Ziel. Und gar in einem schönen Garten zu sitzen und in einer distanzierend meditativen Weise über den Lauf der Welt zu sinnen, geradezu als paradiesisches Glück.
Milden Sinnes wenden sie sich dann ab von der hektischen Impulsivität des ursprünglichen Verkörperungs- und Fortpflanzungsdrangs und sprechen das Lob der geläuterten Sitten und der apollinischen Künste. Darin erfahren sie, zumindest zeitweise, Zauber und Verwandlung.
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