Der Menschenhai

 

Der Menschenhai ist ein [von innerem Drang] beseeltes, aber kein rechtsfähiges Wesen. Aus dem Recht der vernunftbegabten Natur entsteht uns kein Grund, sein Leben zu schonen. Stünde es in seiner Macht, seinen Willen zu steuern und uns, nach entsprechender Vereinba­rung, nicht als Beute zu jagen, dürften auch wir ihn nicht jagen.

 

Wegen seiner Empfindungsfähigkeit sollten wir ihn dennoch nicht grundlos, „unverhält­nis­mäßig“ und ohne Anlass quälen. Mit der entsprechenden Maxime tragen wir der Tatsache Rechnung, dass auch wir Teil der empfindungsfähigen Natur sind. Die Fähigkeit der sprach­lich-gedanklichen Verhaltenssteuerung des Menschen setzt auf der Empfindungsfähigkeit auf, die wir mit der Tierwelt gemeinsam besitzen.

 

Weil der Menschenhai sich nicht für die Menschenjagd verantworten kann, können wir ihn nicht vor Gericht stellen. Er kann uns auch nicht vor Gericht stellen, wenn wir ihn jagen und fangen. Es gibt hier keinen Streitfall wegen Freiheitsberaubung oder Ärgerem.

 

Es gibt mit ihm weder ein außergerichtliches Einvernehmen noch eine Entscheidung über ihn im „Streitfall“ oder Interessenkonflikt. Wobei er sich an diese Entscheidung dann zu halten hätte. Es gibt kein sprachlich oder gedanklich [„komunikativ“] abstimmbares Verhalten mit ihm, selbst wenn er sich auf Rohkost umstellen ließe. – Selbst wenn wir uns aus Zartgefühl für die empfindungsfähige Natur auf vegetarische Ernährung umstellen würden, können wir nicht erwarten, vom Menschenhai seinerseits ebenfalls aus Zartgefühl geschont zu werden, wenn er unserer Person als Leckerbissen habhaft werden könnte.

 

Auch mit menschlichen Babys und schwerkranken Alzheimer-Patienten gibt es weder außer­gerichtliches Einvernehmen noch gerichtlich durchsetzbare Rechtsbestimmung. Der Unter­schied zum Hai besteht hier in folgender Tatsache: auch der zu willentlicher Verhaltenssteue­rung Befähigte war einmal ein Baby. Auch der zu willentlicher Verhaltenssteuerung Befä­higte kann ein schwerkranker Alzheimer-Patient werden. Er kann überhaupt leicht in Zu­stände eingeschränkter Willensbestimmung geraten. Das führt er zum Teil sogar willentlich herbei, und es gefällt ihm sogar bisweilen, wenn damit ganz besondere Bewusstseinszustände verbunden sind. Aus dem Hai aber kann kein Wesen mit einer sprachlich-gedanklichen Ver­haltenssteuerung werden. Und er war auch niemals ein solches Wesen.

Gelänge es allerdings, durch entsprechende Operation, diese Fähigkeit in ihm zu erwecken, dann hätte das schwerwiegende Konsequenzen.

Man kann nicht oft genug betonen, dass wir froh sein können, dass unsere prähistorischen Vorfahren ausgestorben sind. Als evolutionären Zwischengliedern zwischen Tier und Mensch hätten wir bei ihnen garantiert große Probleme zu entscheiden, welche wir in den Zoo ein­sperren dürften, und welche wir frei herumlaufen lassen sollten. Die vorausschauende Natur hat uns glücklicherweise erspart, für solche Fälle einen hinreichend scharfen Begriff „vom Rechtssubjekt“ auszubilden. Die Diskussionen um die „Rechtssubjektivität“ von Embryonen reichen aus, um uns auch ohne weitere Herausforderung gehörig zu verwirren.

Auch in diesem Thema treffen wir auf das Phänomen, dass eine ganze Menge unserer grund­legenden Begriffe nicht präzise genug sind, um in allen – durchaus denkbaren – Situationen auszusagen, ob sie zutreffend sind oder nicht. Selbst wenn das, was in diesen Begriffen liegt, hinreichend analysiert werden kann, so reicht es doch nicht aus, um in allen denkbaren Situa­tionen eine Entscheidung über die Gültigkeit der entsprechenden Klassifikation zu treffen.

 

Ein Lebewesen mit der Fähigkeit, sein Verhalten sprachlich-gedanklich zu steuern, besitzt nach Kants und Hegels Sprachgebrauch einen ‚Willen’. Insofern ist ‚Wille’ hier ‚etwas Geis­tiges’: ein sprachlich-gedanklich modifizierbares Selbstbestimmungs- und Begehrungsvermö­gen. - Daher auch, in Parenthese, der endlos hin und her wogende Kampf um Sprachregelun­gen und Gedankeninhalte. Menschliche Handlungen erfolgen weitgehend aufgrund von mate­riellen Bedürfnissen und Interessen. Aber die Handlungsweise ist mehr oder weniger modifi­zierbar durch sprachlich gedankliche Erwägungen. Deshalb gibt es den Kampf um die tonan­gebende, maßgebliche Meinung. - Schopenhauer weicht vom Sprachgebrauch des Willens als gedanklich modifizierter Verhaltenssteuerung ab. Bei ihm ist der Wille einfach „innerer Drang“, der uns Menschen nicht wesentlich bewusst sein muss und im Falle des Menschen­hais diesem wahrscheinlich nicht einmal bewusst sein kann. Wenn man von der sprachlich-gedanklichen Steuerung ‚des Willens’ spricht, wäre diese Redeweise nach Schopenhauers Terminologie gerechtfertigt.. Nach Kants und Hegels Sprachgebrauch aller­dings hätte man damit so etwas wie einen Willen des Willens angesetzt, indem der Mensch die Fähigkeit hätte, seinen Willen gedanklich zu steuern und mit dem Willen dann weiterhin das Verhalten. Es genügt aber, den Willen,  - bei Kant gelegentlich als „begrifflich bestimmtes Begehrungs­vermögen“ bezeichnet, - als Fähigkeit der sprachlich-gedanklichen Verhaltenssteu­erung aufzufassen.

 

Es darf uns nicht irritieren, dass wir im Bereich menschlichen Verhaltens auch der willentli­chen Herbeiführung eines Zustands der Willenlosigkeit begegnen. Vielleicht möchte der Mensch hierbei erleben, wie es ist, ein lediglich durch unbewussten Drang beseeltes Lebewe­sen zu sein. Vermutlich ein sonderbares Befreiungsexperiment bezüglich gedanklicher Hem­mung und innerpsychischen Konflikts. Die willentliche Herbeiführung eines Zustands, in dem die sprachlich-gedankliche Verhaltenssteuerung gelingt und zudem noch ein hohes Maß an Bedürfnisintegration wegen Aufrechterhaltung der immer gefährdeten Stabilität dieses Zu­stands wäre natürlich das „moralisch“ wertvollere Ziel.

 

Meinungs- und Stimmungsmache u. dgl. lassen sich auch als Angriffe auf die Fähigkeit zu gedanklich-sprachlicher Verhaltenssteuerung auffassen, insofern dabei versucht wird, den Einfluss mehr durch Überredung als durch Überzeugung zustande zu bringen.