Ein Aspekt von Nietzsches Wille zur Macht

 

Wille zur Wahrheit ist Wille zur Macht, sagt Nietzsche. Der Satz klingt martialisch, beinhal­tet aber in einer bestimmten Lesart einen weitreichenden ideologiekritischen Gesichtspunkt. – Es ist ein aus dem Umgang mit gesprochenen und geschriebenen Texten gewonnener allgemeiner Ge­sichtspunkt bezüglich der Art unseres Denkens und Sprechens. – Das Prädikat „ideologisch“ verwenden wir, wenn wir es mit einer einseitigen Ansicht zu tun haben, die in verfestigter Form auftritt, und wenn diese Verfestigung etwas mit einem „Interesse“ zu tun hat.

 

Das Vorliegen von Ideologie ist im Einzelfall nur schwer zu „objektivieren“, weil in der Regel ein undurch­dringli­ches Gemisch von Wahrheit, Dichtung und Falschheit vorliegt, und oft nicht wesentlich in betrü­gerischer Absicht. – Durch die Einschränkung einer ideologischen Ansicht auf gewisse Aspekte kann also aus Ideologie Wahrheit werden. Und umgekehrt kann aus wahren Sätzen, je nach Auffassung [Interpretation] und verschiedener Kontext-Gebung etwas Halb-Wah­res oder gar Falsches werden. – Darwins Gesichtspunkte von Variation [vererbter Eigenschaften] und Selektion soll hier als Beispiel dienen. Irgendwo, z. B. bei der Entstehung von therapieresis­tenten Bakterienstämmen ist Darwins Hypothese ein erhellender Gesichtspunkt. Aber es wurden auch ideologischer Unsinn und unsinnige Verbrechen damit verbrämt.   

 

Der Kampf um die Orientierung verschaffenden Grundbegriffe [in unserem Denken, Spre­chen und Verhalten] ist eine Form des Kampfes [von Menschen] um Geltung und Anerkennung in Diskussionen, in der öf­fentlichen Meinung und in der sozialen Realität. Oft sind diese Begriffe mehrdeutig- oder we­nig-sagend, im Einzelfall nicht hinreichend präzise, und trotzdem orientieren wir uns in Wahrheitsfragen, in unseren Situationsbeschreibungen und –beurteilungen, und erst recht in Entscheidungs­fragen an ihnen. Es sind Mythen der Alltagskultur wie z. B. Leistung, Ver­dienst, Liebe, Frei­heit, Fortschritt usw.. – Ein Mythos ist eine „Erzählung“ [„Text“] oder ein Klassifikationsschema, das sich in beständiger Wiederholung und Überlieferung verfestigt hat. - Es handelt sind bei den orientierenden Grundbegriffen oft um die wertende Gesichts­punkte mit assoziierten Konnota­tionen. Als Beispiele nenne ich Beg­riffsversuche wie Ge­rechtigkeit, Chan­cen­gleichheit, Terro­rismus, Religion, Glaube, Aber­glaube, Pflicht und Schuld, Verantwortung, Vernunft, wissen­schaftliche Wahr­heit.

 

Bei näherem Hinsehen sind die weithin gebräuchli­chen Grundbegriffe und Deutungsmuster, wel­che uns [im Nachdenken] Orientie­rung verschaffen, nicht so wirklichkeitsmächtig, wie sie zu­nächst er­scheinen könnten. Jeden­falls besteht keine allgemeine Übereinstim­mung bezüglich ihres Inhalts. Für sehr viele Situationen besteht nicht einmal eine hinreichende Präzi­sion, um eine strit­tige Beurteilung für den Einzelfall leisten zu können. Man kann sich auch nicht auf einen aner­kannten Minimalkonsens bezüglich des Inhalts der leitenden Grundbeg­riffe und Grund­annahmen berufen. Die beobachteten Regeln ihres tatsächlichen Gebrauchs lassen einen er­heblichen Spiel­raum offen. Und es gibt keinen allgemein anerkannten Mini­malkon­sens. – Wer z. B. [in der Phi­losophie] anerkannte Minimalkonsense bezüglich Wahr­heit und Gerechtigkeit ermitteln und fest­schreiben möchte, wird die Erfahrung machen, dass es in der Diskussion darüber keine allge­meine Übereinstimmung geben wird.

 

Sogar der schlicht-alltägliche Wahrheitsbegriff gehört hierher. Wahrheit kann weder definiert noch erklärt werden im Sinne einer Rückführung auf Unproblematischeres und Bekannteres, als sie selbst es ist: Man setzt die Annahme eines Unterschiedes von wahren und falschen Be­haup­tungen schon von Beginn an jeglicher Ausführung voraus. Man kann auf das Phäno­men „Wahr­heit“ lediglich schüchtern hinweisen: es ist so etwas wie eine unvermeidliche Voraus­setzung un­seres alltäg­lichen Denkens, denn wir halten die Unterscheidung von wahren und falschen Aussa­gen für bemerkenswert. Ein von der Wahrheit unabhängiges Kriterium [Merk­mal] der Wahrheit ha­ben wir aber nicht. Irgendwelche Annahmen gelten uns als wahr, andere wiederum nicht, und es sind nicht nur die wissenschaftlich erhärteten und allgemein aner­kannten, die uns Genüge tun. Wahrheit verstehe ich hier im Sinne des Wahrseins irgend­wel­cher Be­hauptungen [von Sachver­halten], wobei es als facon de parler gelten soll, dass eine Behaup­tung genau dann wahr ist, wenn der formulierte Sachverhalt besteht. Und umgekehrt: ein ent­sprechender Sachverhalt besteht ge­nau dann, wenn eine diesbezügliche Aussage Wahr­heit besitzt. „Tatsächlich bestehend“ muss ich in Bezug auf den bestehenden Sachver­halt nicht sagen. „Bestehen“ genügt insofern, weil beste­hende Sachverhalte nicht unterschie­den werden können in solche, die tatsächlich bestehen und solche, die zwar bestehen, aber auf nicht-tat­sächliche Weise. Fiktive Sachverhalte bestehen nicht. Sie zählen nicht zu den Tatsa­chen.

 

Besonders schillernd und viel-bedeutend ist der Begriff bzw. der Begriffsversuch der Freiheit. Wir kennen viele solcher Versuche. Freiheit zu tun, was man will; Freiheit zu wollen, was man will; Frei­heit zu tun, was man kann; Freiheit zu tun, was man gemäß seinem Gewissen verant­worten kann; Freiheit zu tun, was man soll; Freiheit des Bürgers in der Polis; Freiheit der Politik von religiöser Bevormundung. Freiheit der Religion von politischer Einfluss­nahme, Freiheit der Wirtschaftsordnung, Freiheit der Kunst; Freiheit des frei laufenden Hun­des; Freiheit des frei fal­lenden Körpers usw.. In vielen dieser Fälle bemerken wir eine Rela­tion des „Los-seins von“. Ist das ein gemeinsamer Bedeu­tungskern bei dieser Vielfalt von Gegenständen so unter­schiedlicher „Typizität“, die in der Rela­tion des „Los-seins-von“ offenbar stehen können? Das wäre die „es­sentialistische“ Voraussetzung Platons gewe­sen, heute neigt man mehr zum Konzept der „Fami­lienähnlichkeit“ bei diesem Bedeutungs­spekt­rum. Dabei gilt: ist A bedeu­tungsähnlich mit B, B bedeutungsähnlich mit C, dann ist A nicht unbedingt bedeutungsähn­lich mit C. Die Transitivität der Relation ist also fraglich. Zudem ist die Frage, ob wir nicht Fälle von „Los-sein von“ finden, in denen wir nicht von Freiheit reden würden.

In Mozarts Don Giovanni gibt es eine Szene, in der verschiedene Menschen, alle zusammen, also tutti, ein Lob der Freiheit singen: „Viva la libertà!“ [1. Akt, 21. Szene.] Sie singen alle den glei­chen Wortlaut, aber die „Freiheit, die sie meinen,“ ist jeweils eine andere. Donna Anna, Elvira und Don Ottavio meinen die Freiheit des Wortes und des Bürgers, dem Aristo­kraten Don Giovi­anni gegenüber. Leporello meint die Freiheit von drückendem Dienst. Und Don Giovanni selbst, der böse Aristokrat, meint die Freiheit und Lust des sexuellen Abenteu­ers. Wenn also verschie­dene Menschen gemeinsam das Loblied der Freiheit singen, ist es klug, damit zu rechnen, dass sie nicht dasselbe meinen.

 

Man kann in Bezug auf den Bereich allgemein-menschlicher, aber auch einiger anderer Phä­no­mene von sokratischen Phänomenen sprechen, weil es Sokrates und seine Schüler wa­ren, welche die Unentscheid­barkeit vieler solcher Angelegenheiten in ihren zum Teil freizü­gigen und ironi­schen Diskus­sionen entdeckten. Unsere Begriffsversuche in elementaren menschli­chen Dingen sind oft unzureichend, vage und oberflächlich, was sich beson­ders dann zeigt, wenn man of­fene Gespräche und Diskussionen zulässt. In alltäglichen Hand­lungssituationen vergessen wir dann allerdings in interesse-bedingter und einseitiger Weise den proviso­ri­schen Charakter dieser Beg­riffs­versuche. Sie erscheinen uns dann nicht als Begriffsversu­che, son­dern als klare und feste Beg­riffe mit analysierbarem, eindeutig und endgültig feststellba­rem Inhalt. Tatsächlich aber sind sie vage und mehr­deutig. Man kann also sagen, Wahrheit sei in vielen Fällen lediglich zurecht gelegte Illusion, deren Zurecht-Legungs-Charakter man in all­täglichen Situationen allzu oft ver­gessen hat. Eine Einsicht, die sich in N.s Aufsatz über „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ findet.

 

Stichwort „Kampf um Anerkennung“: Dieser Kampf ist interesse-bedingtes Lebensthema sowohl einzelner als auch von Gruppen. Wahrscheinlich geht er, zumindest teilweise, auf das historisch-gesellschaftliche Grundphänomen zurück, dass der einzelne Mensch außerhalb von Sozialver­bänden nicht überlebensfähig ist. Wir alle sind nicht Robinson, unsere Fähigkeiten sind sehr weitgehend gesellschaftliche Erzeugnisse. Wir leben unter Vorbedingungen und Vorausset­zun­gen, die wir nicht selbst geschaffen haben. Lediglich die modifizierende Aneig­nung von Vorge­fundenem ist unser Anteil. Außerhalb von Sozialverbanden vermögen wir im Grunde genommen aber nichts. Daher die unmäßige Interessiertheit an der Meinung anderer über uns, das ganze Gefühl für Ehre, Schande, soziale Anerkennung, Billigung, Missbilligung, Achtung, Missach­tung usw..

 

Nicht nur Menschen und Gruppen, auch Gedan­keninhalte, Begriffe und „Begriffsversuche“ ste­hen in einem Kampf um Anerkennung und Überleben. Der einzelne bedient sich der mäch­tigsten und gängigsten Deutungsmuster, wenn es ihm selbst kurz- und mittelfristig nützlich erscheint. Er wird dadurch zum Werkzeug quasi selbstläuferischer Gedankeninhalte bzw. Ideen. Schwankende Rohre im Wind des jeweils herrschenden Zeitgeists, reden wir so, wie es üblich ist und ge­billigt wird, und wie wir es für zweckmäßig und wirksam halten. In weit verzweig­ten Rückkopplungs­mechanismen verstärkt sich die Gebräuchlichkeit mancher dieser Gedan­keninhalte, die Ge­bräuchlichkeit anderer dagegen schwächt sich ab. Dabei spielt oft mehr Stimmungsmache als analysierbare Einsicht eine Rolle. Es kommt hinzu, dass die Ge­sichts­punkte, unter denen wir unsere Wirklichkeit betrachten, regelrechten Moden unterlie­gen, wie wir sie auch aus dem Be­reich der Kleidung kennen. Man macht sich unmöglich, wenn man darauf keine Rücksicht nimmt.

 

So also legen wir uns mächtig in’s Zeug für die wirksamsten Schlagworte. Wichtig-sein und Sich-wichtig-machen ist hier ein einschlägiges Thema. Dies gilt jedenfalls dann, wenn nicht be­reits das bloße Überleben bedroht erscheint. Es bilden sich [im allseitigen Mit- und Gegen­einan­der] po­litisch wirksame Schlagworte, sozusagen für die Gestaltung allgemeiner Rah­menbedin­gungen des Mit- und Gegeneinander, es bilden sich gewohnheitsartige Mentalitäten für die for­melle und informelle Regelung alltäglicher Konflikte. Da es ein Ende der Diskussi­onen nicht gibt, wenn man sie allzu unbefangen führt, müssen aufgrund der sozialen Hie­rar­chie [soziale Hack­ordnung, ev. ein hierarchisches Buckelsystem] in vielen Situationen Macht­sprüche erfolgen. Gerade für hierarchische Strukturen im menschlichen Mit- und Gegeneinan­der ist ein selbst­zweckartiges Selbstläufertum von „Befindlichkeiten“ und „Besitzständen“ bekannt, welches die maßgeblichen Gesichtspunkte im Sinn der tonangebenden Kreise nahe legt. Es ist völlig klar, dass hier Fragen der „Macht“ und des „Vermögens“ berührt werden. Fragen individueller Macht und individuellen Vermögens auf der Grundlage eines arbeitsteili­gen Gesamtprozes­ses. Das sind Fragen der individuellen, eventuell „klassenspezifischen“ Begünstigung in kom­plexen, überindi­viduellen Gesamtprozessen. Manch ein Individualinte­resse wird „struktu­rell“ begünstigt, anderes „strukturell“ abgeschwächt oder gar unterdrückt. Bezüglich der für rele­vant gehaltenen Themen und Gesichtspunkte unterliegen wir einer „strukturellen Zensur“.

 

Stichwort „Strukturwandel der Öffentlichkeit“: Man kann den Wandel in der Zensur öffentlicher Diskussionen von der Zensur einer eigens installierten Zensurbehörde zu einer Zensur durch gepflegte Üblichkeiten [z. B. der political correctness] als Strukturwandel der Öffentlichkeit auffassen. Dies ist eine Anspielung auf einen Buchti­tel von J. Habermas.

 

Bei den Freunden der zarteren Ge­danken bilden sich gefühlswirksame Wendungen für ver­schie­dene Arten von nicht-alltägliche Stimmungen. Deshalb setze ich hierher: die oft disku­tierte Un­mittelbarkeit, Innigkeit, Innerlichkeit und Subjektivität der Gefühle betrifft kulturell mittelbare Inhalte. Was wir da fühlen, ahmt kulturell und literarisch propagierte Vorgaben und Vorbilder nach. Das spricht sonderbarer Weise nicht gegen die subjektive Gegebenheits­weise unserer Ge­fühlsinhalte.

 

Oskar Wilde parodierte dieses Thema trefflich unter dem Gesichtspunkt einer Nachahmung der Kunst durch das Leben: Also das Leben ahmt die Kunst nach und nicht umgekehrt, wie mancher wohl geglaubt haben könnte. Das Leben, gestaltlos und dumpf in seinem Drang, sucht in der Kunst sein Vorbild und strebt so zum Ausdruck und Bewusstsein seiner selbst. Manche von uns sterben an gebrochenem Herzen und an Liebesleid allein aus dem Grund, weil ihnen die Literatur oder ein besonderer Kinofilm die Vorlage geliefert hat, den inneren Drang des dumpfen Lebens derart zu realisieren. In diesem Fall kann man wohl sagen, dass sich Gedankeninhalte sogar auf Kosten ihrer Träger fortpflanzen können, ganz ähnlich einem gefährlichen Virus.

 

Unsere öffentlichen Diskussionen sind zu einem großen Teil Wortgefechte um die Anerken­nung der für relevant zu erachtenden Gesichtspunkte für verschiedene Themenbereiche: ein Kampf um die politisch wirksamen Schlagworte, ein Kampf um stimmungs- und gefühlswirk­samen Schlag­worte, ein Kampf vermittelst der gewichtigen und wichtig-machenden Sicht­weisen und Schlag­worte.

 

Selten sind Ausnahmen unter den Menschen [wie der griechische Feldherr Phokion], die arg­wöh­nen, sie hätten etwas Falsches gesagt, wenn man ihnen Beifall zollt. Ein solches Selbst­bewusst­sein hat fast schon etwas Heroisches.

 

Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache, sagt Gadamer. Gänzlich Nicht-Sprachliches und absolut Unaussprechliches ist dem­nach Nicht-Verständliches, ergänzen wir: Außer-sprachliches Sein, das es natürlich auch gibt, und auf das wir uns besprechend vermittelst sprachlicher For­mulierungen beziehen, ist zumindest teilweise verständlich, insofern es sprachlich erfasst bzw. sprachlich gefasst werden kann: Es ist sprachlich „verfasst“.. – Spra­che ist also unvermeidliches Medium der Verständlichkeit, ohne eine entsprechende Sprache kann man sich selbst und andern nichts verständlich machen. Nehmen wir hinzu, dass wir uns nicht letztgültig und unmissver­ständlich aussprechen können. Nehmen wir hinzu, dass es kein endgültiges, „definitives“ Ver­ständnis unse­rer Äußerungen gibt. Das alles heißt dann: es gibt kein nicht-interpretieren­des Ver­ständnis von irgend etwas in der Welt, keine reine Wahrheit ohne interpretatorischen Zusatz. Ganz besonders nicht in menschlich-unmenschlichen Ange­legenheiten. – Fachspezifische Dis­kurse, Disziplinen mit strengerem Regelwerk, als es das alltägliche Sprechen beinhaltet, werden durch spezifische „Installationen“ im unvermeidli­chen Medium der Alltagssprache in Gang ge­bracht. Fachsprachen und spezielle Regeln der „Vali­dierung“ [Gültigkeitsfeststellung] fachspezi­fischer Aussagen können aber dem Medium „All­tagsprache“ gegenüber nicht völlig abgeschottet werden. Insofern sind sie einem Seeha­fen vergleichbar, dessen Funktion hinfällig gemacht würde, wenn man ihn vom offenen Ozean völlig abtrennen wollte. Der Hafen dient der Befahrung des Ozeans. Das spezielle Re­gelwerk einer Disziplin ist eine Hilfskonstruktion im Gesamtbereich unseres Verständlich­keitsmedi­ums „Alltagssprache“.

 

Die Standards eines Spezialgebiets erschöpfen sich nicht in Regeln für die Verwendung von Aus­drücken. Regeln für die Anerkennung von Feststellungen und Befunden kann z. B. auch die la­bormäßige Reproduzierbarkeit eines experimentellen Befundes sein. Vor dem Hinter­grund ir­gendwelcher gemeinschaftlicher und arbeitsteiliger „Übungen“ entsteht ein Regel­werk für die Anerkennung und „Objektivierung“ von „Befunden“. Das Regelwerk umfasst Rede- und Hand­lungsweisen gleichermaßen. – Ich weise darauf hin, dass die labormäßig re­produ­zierbare Wahr­heit nur ein kleiner Teilbereich dessen ist, was wir insgesamt für wahr halten. Selbst für den na­turwissenschaftlichen Bereich. Aussagen über die Entstehung von Gebirgen oder Aussagen über die Erdgeschichte und die Entwicklung des Lebens gehen über labormä­ßig abgesicherte Befunde weit hinaus.

 

Die Worte, die wir gebrauchen, geben Anlass zu Diskussionen darüber, ob es die richtigen Worte sind. Das Wort ist wohlfeiles Ungefähr. [Th. Mann]

 

Geläufige Worte verfestigen sich zu gängigen Wendungen und verdichten sich zu Schlag­worten, derer man sich in zweckmäßiger Weise bedient. Gemäß irgendwelchen aktuellen Prä­ferenzen persönlicher und überpersönlicher Art.

 

Oft überschätzen wir das Ausmaß unserer Übereinstimmung. In unvorhergesehenen Situatio­nen zeigen sich später eine ganze Menge Unklarheiten und Missverständnisse. Darüber freuen sich dann z. B. Juristen, die im Nachhinein feststellen und eventuell entscheiden dürfen, von welcher Art gültigen Einvernehmens man auszugehen hat, wenn man sich nicht mehr einig ist.

 

Mit den Begriffen z. B. von Schuld und Verantwortung wird in Alltag und Literatur so viel Schindluder getrieben, dass kritische und nach Aufklärung strebende Geister fast alle eine nihi­listische, zumindest bedeutungskritische Phase zu durchlaufen haben, in welcher sie sich in son­derbare Moralismen und Selbstdementis verstricken. Z. B. versuchen sie sich in der Haltung, moralisch wertende Stellungsnahmen zu vermeiden, was aber generell gar nicht möglich ist. Oder man sagt: „Folge dem Gefühl im Bauch! Sei spontan!“ Nietzsches Lehre, dass Wahrhei­ten gene­rell zurecht gelegte Interpretationen und Illusionen seien, ist auch von dieser Art. Aber ich halte es tatsächlich für wahr, dass vielleicht alle allge­meinen Ansichten über all­gemein Menschliches nichts- und wenig-sagend sind, dass sie zu diffizilen Endlosdis­kussio­nen führen, in denen kein allgemein anerkannter Konsens zu erwarten ist. Dennoch bleiben erfahrungsgemäß typische Wei­sen nichts- und wenig-sa­genden Denkens in Gebrauch. Es ist für uns unvermeid­lich, mit inter­pretatorischen Zusätzen und zweckmäßigen Vereinfa­chungen zu denken. Eine nackte Empirie mit knallharten Fakten ist Fiktion. Eine Sprache der reinen Beobachtung gibt es nicht.

 

Man weiß nicht, was man zu wissen glaubt, lehrte S.. Wegen einer für weite Wirklichkeitsbe­reiche charakteristischen Unschärfe unserer Begriffsversuche, wegen der Subjektivität der Wahr­nehmung, wegen der unvermeidlichen Selektivität der Wahrnehmung, wegen des un­vermeidlich interpretierenden Charakters aller Wirklichkeitsauffassung, wegen der unver­meidlichen inte­resse-bedingten Illusionen, wegen der unvermeidlichen Bedeutungsvielfalt der Wörter und wegen der tatsächlichen Aspektvielfalt der wirklichen Phänomene.

 

Wörter fügen sich zu geläufigen Wendungen, derer man sich gern und zweckmäßig bedient.

 

Mit Begriffen, die wir schon haben, treten wir in Situationen ein, die Neues bergen. In Situati­onen, die in vielerlei Weise aufgefasst werden können.

 

Eine präzise Betrachtung des alltäglichen Lebens mit den Mitteln einer Sprache in dehnbaren Begriffen, kann es das geben?

 

Es gibt kein Ende der Diskussionen. Die Entscheidung, selbst in Wahrheitsfragen, ist eine Sache der Vereinbarung, der Machtverhältnisse, des herrschenden Geistes. Also ist Wille zur Wahrheit Wille zur Macht. Ja, Wille zur Wahrheit muss unvermeidlicher Weise auch ein Wille zur Inter­pretation sein. Das Sein des Verständlichen ist durch seine unvermeidliche Un­eindeutigkeit deu­tungsbedürftig. Es kann allerdings, in entsprechenden Handlungszusam­men­hängen, jedenfalls manchmal, hinreichend präzisiert werden.

 

Wahrheit ist zu einem unvermeidlichen Anteil konstruktiv und interessen-bedingt kreativ. Sie besitzt einen Zurechtlegungs- und Zurechtmachungscharakter.

 

Nietzsche gebraucht den [provisorischen] Begriff „Macht“ unspezifisch. Es geht ihm nicht um gesellschaftliche Macht im besonderen, er schließt sie aber keineswegs aus. „Wollen be­freit. Dies ist die wahre Lehre von Willen und Freiheit,“ heißt es bei ihm, mit dem Hammer philo­sophiert. Wille, Freiheit und Macht stehen vermutlich in grundlegendem Zusammen­hang, denn ein freier Wille ohne jegliche Macht, wozu wäre er frei? Ein Nazi und ein anar­chisti­scher Existentialist verstehen das jeweils auf eigene Weise. Dabei neigt der Nazi mehr zu Gruppenegoismus, der Anarcho mehr zu individuellem Egoismus. Dem Willen zur ver­häng­nisvollen Konsequenz als unaufgebbarem Residuum der Freiheit huldigen aber beide. Der Wille jedenfalls macht Unein­deutiges eindeutig, er neigt zu reduktiven Sichtweisen, As­pekt­viel­falt blendet er gemäß seinem Interesse aus. Er huldigt der Grandiosität der pauscha­len, jedenfalls nicht allzu differenzierten Sichtweise. Das wird dann selbst wieder zu einem Prob­lem. Es führt zu Wahrnehmungs- und Realitätsverlusten.

 

Nietzsche sagt auch, ebenfalls pauschal: „Macht macht dumm.“ So seine Zeitdiagnose, nach­dem Deutschland den Krieg von 1871/72 „gewonnen“ hatte. Einigen wir uns also auf ein teil­weise harmonisches, dann aber auch wieder spannungsgela­denes Wechselspiel von Handlung, Denken und Wahrnehmung, für das es keine festen Regeln zu geben scheint. Ne quid nimis, mein­ten die Alten dazu, und dabei müssen wir es wohl belassen. Lassen wir es uns genügen an unvermeidlich interpretierenden, interessierten, dazu noch unpräzisierbaren Wahrheiten, wenn es nur wirklich Wahrheiten sind! Aber den Zurechtmachungs- und Zurechtle­gungscha­rakter unserer Wahrheiten sollten wir nicht vergessen. In vielen, wenn nicht den meisten Fäl­len legen wir uns ein Bild bzw. ein Modell der Wirklichkeit gemäß unseren Inte­ressen zu­recht. Das ist ein Gesichtspunkt, dessen Berechtigung durch viele einzelne Beispiele nahe gelegt werden kann.

 

Wenn wir mit Nietzsche von „Interpretation“ sprechen, bewegen wir uns auf dem Terrain mehr­deutiger und insofern missverständlicher Reden. Auch „Interpretation“ ist vieldeutig. „Interpre­tation“ kann sich 1. auf vielschichtige, mehrdeutige Situationen beziehen. 2. kann sich „Inter­pretation“ auf sprachliche Formulierungen beziehen, welche Situationen beschrei­ben. 3. kann man den Aspekt des interpretatorischen Zusatzes hervorheben. Damit ist ge­meint, dass man fast allgemein mehr behauptet als man nach strengen Maßstäben reinen Konstatierens beobachtet hat. Im letzen Fall trifft man sogar das Verfahren wissenschaftli­chen Vorgehens, welches die nackte Empirie gemäß zweckmäßiger Modellvorstellungen mo­del­liert. Die Wahrheit vermag sich, ähn­lich dem Proteus, in verschiedenartigen Gestalten zu zei­gen, nur nicht völlig nackt in ureigener Gestalt.

 

Eine Situation kann also unter verschiedenen Aspekten beurteilt werden. Unter verschiedenen Aspekten können wahre Aussagen über entsprechende Sachverhalte erfolgen, die sich letzt­lich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Das führt zu keinem Problem bezüglich der Wahrheit der unter verschiedenen Perspektiven erfolgenden Aussagen. Schwieriger wird die Sachlage unter Punkt 2 und 3 der Bedeutungen von „Interpretation“. Punkt 2 war der Ge­sichtpunkt, dass wir die Wahrheit nur vermittelst erläuterungsbedürftiger Formulierungen erkennen kön­nen. Das bedeu­tet, dass wir in Verlegenheit geraten, wenn wir sagen sollen, welche Wahrheit es denn war, die wir vermittelst einer vieldeutigen Formulierung erkannt haben. Man kann einen Ausweg folgen­der Art suchen: die in einem gegebenen Kontext hin­reichend präzise Paraphrase erhält die Aner­kennung als „wahr“. Aber es ist nicht ausge­schlossen, dass wir in einem anderen Zusammenhang erst richtig sehen, wie sehr es berechtigt und möglich gewe­sen wäre, eine Situation unter einem ganz anderen Gesichtspunkt zu beur­teilen, als wir es tatsäch­lich getan haben. Man sieht oft erst sehr viel später, wie wahr etwas ist.

 

Auch die Unvermeidlichkeit interpretatorischer Zusätze in der Wirklichkeitsauffassung wirft ein Wahrheitsproblem auf. Es besteht ja das Bedürfnis, faktisch gegebene und zu konstatie­rende Zu­sammenhänge von bloßen Deutungen zu unterscheiden. Ein eindeutiges k.o.-Krite­rium dafür, was als nicht konstatierbar, sondern lediglich gedeutet zu gelten hat, scheint es nicht zu geben. Nehmen wir einmal den Fall, man deutet eine durch Parasiten verursachte Seuche als von Men­schen selbst verschuldetes Übel. Diese Deutung kann auf einen tatsäch­lich existierenden Zusam­menhang verweisen: dass nämlich ein Mangel an Hygiene die Aus­breitung der Parasiten tatsäch­lich begünstigt hat. – Gehen wir weiter zur Auffassung einer Krankheit, z. B. der Syphilis, als Geißel Gottes. – Da kann man letztlich doch nur sagen: „Solche Sichtweisen sind in bestimmten Zusammenhängen weniger zweckmäßig als andere.“ Mit Wahrheit allein hat das nicht aus­schließlich zu tun.

 

Ein anderer, oft diskutierter Punkt, ist die Frage des „performativen“ Selbstwiderspruchs bei Äu­ßerungen wie z. B.: „Alle behaupteten Wahrheiten beruhen auf Interpretation.“ „Perfor­mativ selbstwiderprüchlich“ heißt in diesem Fall: Ich behaupte faktisch etwas, was ich in­haltlich be­streite. Auf einen Problemkreis wurde hingewiesen: Der Gegensatz von Interpreta­tion und „nacktem“ Gegebensein ist nicht leicht zu explizieren. Insofern ist nicht klar, ob In­terpretation überhaupt im Gegensatz zu Wahrheit stehen muss. Nur für diesen Fall aber ergibt sich das Thema des sich selbst verneinenden Denkens. Nehmen wir aber einmal an, es ge­linge uns ir­gendwie, einen solchen Unterschied [„Wahrheit- Interpretation“] zu begründen. Es ist dann nur die Allaussage: „Alle Behauptungen ...“, die vielleicht in einem ganz bestimmten Fall nicht zu­trifft. Insbesondere, wenn wir recht haben wollen, auf unsere eigene, überflie­gende Ansicht nicht zutreffen darf. „Alle behaupteten Wahrheiten, ausnahmslos, beruhen auf perspektivischer Scheinbarkeit, auf Illusion, auf interpretatorischem Zusatz.“ In dieser Fas­sung bekommen wir möglicherweise ein Problem, weil wir damit sogar die bloße Möglichkeit einer wahren Behaup­tung bestreiten. Sagen wir aber: „Fast alle, möglicherweise alle, jeden­falls alle von mir speziell geprüften Behauptungen der Wahrheit ...“, dann sieht es anders aus. Man kann also zu Nietzsche sagen: „Gut, aber die prinzipielle Schärfe, die Behauptung von Ausnahmslosigkeiten, derartige Denkfiguren, sie bringen möglicherweise ein Problem.“ In dieser Ausstattung haben wir eine Art Selbstdementi im Spiel. Warum aber der apodiktische Ton? Ohne Ausnahmslosigkeitsbehaup­tungen und ohne allzu strenge Disziplin hätten wir dieses Problem tatsächlich nicht. Wir hätten eine brauchbare hermeneutische Maxime und könnten die Weisheit des „ne quid nimis“ rühmen.

Die negative Existenzaussage: „Es gibt keine behauptete Wahrheit ohne interpretatorischen Zu­satz“, ist einer unbeschränkten Allaussage äquivalent. Dies war die problematische Denk­figur. „Für alle x gilt, nicht P(x)“ = „Es gibt keinen Fall von P(x).“

 

Wer den „performativen Selbstwiderspruch“ vermeiden möchte, der muss sich lediglich hü­ten, die Möglichkeit wahrer Behauptungen prinzipiell in Frage zu stellen. Nur die Behauptung einer prinzipiellen Ausnahmslosigkeit für alle möglichen Fälle von Wahrheitsbehauptungen, welche sachlich berechtigt erhoben werden könnten, setzt so etwas wie Erkenntnisansprüche bezüglich der prinzipiellen Möglichkeit von Wahrheiten voraus. Denn mit einer Durchmuste­rung einer bestimmten Menge anerkannter Fälle von wahren Aussagen ist es dabei nicht ge­tan. Ein solcher Ansatz [mit prinzipieller Ausnahmslosigkeit] läuft auf Konzepte von formaler und transzenden­taler Logik hinaus, in wel­chen ein Denken bezüglich des Denkens, welches selbst Denken ist, auftritt. Es kommt zu Erkenntnis­ansprüchen bezüglich der Möglichkeit des Denkens [„über­haupt“] und zu Erkenntnisansprüchen bezüglich der Möglichkeit eines thema­tischen Gegens­tandsbezugs des Denkens [„überhaupt“]. Ein Denken, welches selbst Erkennt­nisan­sprüche reali­siert. Das Ganze wäre eine erkenntnistheoretische Prinzipienphilosophie nach Kantischer Art. In derartigen Denkfiguren lässt sich herausfinden, was zur prinzipiellen Möglichkeit der Wahrheit gehört und was nicht. Also kann man ein solches Unternehmen so auffassen, dass es uns zeigt, mit welchen Behauptungsinhalten wir performative Selbstwider­sprüche vollziehen würden. Wo­bei wir, gemäß der Aufteilung in formale und transzendentale Logik, zum Teil Undenkbares be­haupten würden, zum Teil grundsätzlich Unerkennbares the­matisch zu erkennen behaupten wür­den. Diese beiden Felder eröffnen sich, wenn wir ele­mentare Aussagen prinzipieller Natur über die Möglichkeit von Erkenntnissen und Wissens­ansprüchen für möglich erachten. Halten wir es aber nicht für möglich, elementare Aussagen prinzipieller Art über die Möglichkeit von Erkennt­nis- und Wissensansprüchen zu treffen, kann auf der Nachweis selbstverneinender Denkungswei­sen nicht gelingen.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, Juli 2004