Ein
Aspekt von Nietzsches Wille zur Macht
Wille zur Wahrheit ist Wille zur Macht, sagt Nietzsche. Der Satz klingt martialisch, beinhaltet aber in einer bestimmten Lesart einen weitreichenden ideologiekritischen Gesichtspunkt. – Es ist ein aus dem Umgang mit gesprochenen und geschriebenen Texten gewonnener allgemeiner Gesichtspunkt bezüglich der Art unseres Denkens und Sprechens. – Das Prädikat „ideologisch“ verwenden wir, wenn wir es mit einer einseitigen Ansicht zu tun haben, die in verfestigter Form auftritt, und wenn diese Verfestigung etwas mit einem „Interesse“ zu tun hat.
Das Vorliegen von Ideologie ist im Einzelfall nur schwer zu „objektivieren“, weil in der Regel ein undurchdringliches Gemisch von Wahrheit, Dichtung und Falschheit vorliegt, und oft nicht wesentlich in betrügerischer Absicht. – Durch die Einschränkung einer ideologischen Ansicht auf gewisse Aspekte kann also aus Ideologie Wahrheit werden. Und umgekehrt kann aus wahren Sätzen, je nach Auffassung [Interpretation] und verschiedener Kontext-Gebung etwas Halb-Wahres oder gar Falsches werden. – Darwins Gesichtspunkte von Variation [vererbter Eigenschaften] und Selektion soll hier als Beispiel dienen. Irgendwo, z. B. bei der Entstehung von therapieresistenten Bakterienstämmen ist Darwins Hypothese ein erhellender Gesichtspunkt. Aber es wurden auch ideologischer Unsinn und unsinnige Verbrechen damit verbrämt.
Der Kampf um die Orientierung verschaffenden Grundbegriffe [in unserem Denken, Sprechen und Verhalten] ist eine Form des Kampfes [von Menschen] um Geltung und Anerkennung in Diskussionen, in der öffentlichen Meinung und in der sozialen Realität. Oft sind diese Begriffe mehrdeutig- oder wenig-sagend, im Einzelfall nicht hinreichend präzise, und trotzdem orientieren wir uns in Wahrheitsfragen, in unseren Situationsbeschreibungen und –beurteilungen, und erst recht in Entscheidungsfragen an ihnen. Es sind Mythen der Alltagskultur wie z. B. Leistung, Verdienst, Liebe, Freiheit, Fortschritt usw.. – Ein Mythos ist eine „Erzählung“ [„Text“] oder ein Klassifikationsschema, das sich in beständiger Wiederholung und Überlieferung verfestigt hat. - Es handelt sind bei den orientierenden Grundbegriffen oft um die wertende Gesichtspunkte mit assoziierten Konnotationen. Als Beispiele nenne ich Begriffsversuche wie Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Terrorismus, Religion, Glaube, Aberglaube, Pflicht und Schuld, Verantwortung, Vernunft, wissenschaftliche Wahrheit.
Bei näherem Hinsehen sind die weithin gebräuchlichen Grundbegriffe und Deutungsmuster, welche uns [im Nachdenken] Orientierung verschaffen, nicht so wirklichkeitsmächtig, wie sie zunächst erscheinen könnten. Jedenfalls besteht keine allgemeine Übereinstimmung bezüglich ihres Inhalts. Für sehr viele Situationen besteht nicht einmal eine hinreichende Präzision, um eine strittige Beurteilung für den Einzelfall leisten zu können. Man kann sich auch nicht auf einen anerkannten Minimalkonsens bezüglich des Inhalts der leitenden Grundbegriffe und Grundannahmen berufen. Die beobachteten Regeln ihres tatsächlichen Gebrauchs lassen einen erheblichen Spielraum offen. Und es gibt keinen allgemein anerkannten Minimalkonsens. – Wer z. B. [in der Philosophie] anerkannte Minimalkonsense bezüglich Wahrheit und Gerechtigkeit ermitteln und festschreiben möchte, wird die Erfahrung machen, dass es in der Diskussion darüber keine allgemeine Übereinstimmung geben wird.
Sogar der schlicht-alltägliche Wahrheitsbegriff gehört hierher. Wahrheit kann weder definiert noch erklärt werden im Sinne einer Rückführung auf Unproblematischeres und Bekannteres, als sie selbst es ist: Man setzt die Annahme eines Unterschiedes von wahren und falschen Behauptungen schon von Beginn an jeglicher Ausführung voraus. Man kann auf das Phänomen „Wahrheit“ lediglich schüchtern hinweisen: es ist so etwas wie eine unvermeidliche Voraussetzung unseres alltäglichen Denkens, denn wir halten die Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen für bemerkenswert. Ein von der Wahrheit unabhängiges Kriterium [Merkmal] der Wahrheit haben wir aber nicht. Irgendwelche Annahmen gelten uns als wahr, andere wiederum nicht, und es sind nicht nur die wissenschaftlich erhärteten und allgemein anerkannten, die uns Genüge tun. Wahrheit verstehe ich hier im Sinne des Wahrseins irgendwelcher Behauptungen [von Sachverhalten], wobei es als facon de parler gelten soll, dass eine Behauptung genau dann wahr ist, wenn der formulierte Sachverhalt besteht. Und umgekehrt: ein entsprechender Sachverhalt besteht genau dann, wenn eine diesbezügliche Aussage Wahrheit besitzt. „Tatsächlich bestehend“ muss ich in Bezug auf den bestehenden Sachverhalt nicht sagen. „Bestehen“ genügt insofern, weil bestehende Sachverhalte nicht unterschieden werden können in solche, die tatsächlich bestehen und solche, die zwar bestehen, aber auf nicht-tatsächliche Weise. Fiktive Sachverhalte bestehen nicht. Sie zählen nicht zu den Tatsachen.
Besonders schillernd und viel-bedeutend ist der Begriff bzw. der Begriffsversuch der Freiheit. Wir kennen viele solcher Versuche. Freiheit zu tun, was man will; Freiheit zu wollen, was man will; Freiheit zu tun, was man kann; Freiheit zu tun, was man gemäß seinem Gewissen verantworten kann; Freiheit zu tun, was man soll; Freiheit des Bürgers in der Polis; Freiheit der Politik von religiöser Bevormundung. Freiheit der Religion von politischer Einflussnahme, Freiheit der Wirtschaftsordnung, Freiheit der Kunst; Freiheit des frei laufenden Hundes; Freiheit des frei fallenden Körpers usw.. In vielen dieser Fälle bemerken wir eine Relation des „Los-seins von“. Ist das ein gemeinsamer Bedeutungskern bei dieser Vielfalt von Gegenständen so unterschiedlicher „Typizität“, die in der Relation des „Los-seins-von“ offenbar stehen können? Das wäre die „essentialistische“ Voraussetzung Platons gewesen, heute neigt man mehr zum Konzept der „Familienähnlichkeit“ bei diesem Bedeutungsspektrum. Dabei gilt: ist A bedeutungsähnlich mit B, B bedeutungsähnlich mit C, dann ist A nicht unbedingt bedeutungsähnlich mit C. Die Transitivität der Relation ist also fraglich. Zudem ist die Frage, ob wir nicht Fälle von „Los-sein von“ finden, in denen wir nicht von Freiheit reden würden.
In Mozarts Don Giovanni gibt es eine Szene, in der verschiedene Menschen, alle zusammen, also tutti, ein Lob der Freiheit singen: „Viva la libertà!“ [1. Akt, 21. Szene.] Sie singen alle den gleichen Wortlaut, aber die „Freiheit, die sie meinen,“ ist jeweils eine andere. Donna Anna, Elvira und Don Ottavio meinen die Freiheit des Wortes und des Bürgers, dem Aristokraten Don Giovianni gegenüber. Leporello meint die Freiheit von drückendem Dienst. Und Don Giovanni selbst, der böse Aristokrat, meint die Freiheit und Lust des sexuellen Abenteuers. Wenn also verschiedene Menschen gemeinsam das Loblied der Freiheit singen, ist es klug, damit zu rechnen, dass sie nicht dasselbe meinen.
Man kann in Bezug auf den Bereich allgemein-menschlicher, aber auch einiger anderer Phänomene von sokratischen Phänomenen sprechen, weil es Sokrates und seine Schüler waren, welche die Unentscheidbarkeit vieler solcher Angelegenheiten in ihren zum Teil freizügigen und ironischen Diskussionen entdeckten. Unsere Begriffsversuche in elementaren menschlichen Dingen sind oft unzureichend, vage und oberflächlich, was sich besonders dann zeigt, wenn man offene Gespräche und Diskussionen zulässt. In alltäglichen Handlungssituationen vergessen wir dann allerdings in interesse-bedingter und einseitiger Weise den provisorischen Charakter dieser Begriffsversuche. Sie erscheinen uns dann nicht als Begriffsversuche, sondern als klare und feste Begriffe mit analysierbarem, eindeutig und endgültig feststellbarem Inhalt. Tatsächlich aber sind sie vage und mehrdeutig. Man kann also sagen, Wahrheit sei in vielen Fällen lediglich zurecht gelegte Illusion, deren Zurecht-Legungs-Charakter man in alltäglichen Situationen allzu oft vergessen hat. Eine Einsicht, die sich in N.s Aufsatz über „Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn“ findet.
Stichwort „Kampf um Anerkennung“: Dieser Kampf ist interesse-bedingtes Lebensthema sowohl einzelner als auch von Gruppen. Wahrscheinlich geht er, zumindest teilweise, auf das historisch-gesellschaftliche Grundphänomen zurück, dass der einzelne Mensch außerhalb von Sozialverbänden nicht überlebensfähig ist. Wir alle sind nicht Robinson, unsere Fähigkeiten sind sehr weitgehend gesellschaftliche Erzeugnisse. Wir leben unter Vorbedingungen und Voraussetzungen, die wir nicht selbst geschaffen haben. Lediglich die modifizierende Aneignung von Vorgefundenem ist unser Anteil. Außerhalb von Sozialverbanden vermögen wir im Grunde genommen aber nichts. Daher die unmäßige Interessiertheit an der Meinung anderer über uns, das ganze Gefühl für Ehre, Schande, soziale Anerkennung, Billigung, Missbilligung, Achtung, Missachtung usw..
Nicht nur Menschen und Gruppen, auch Gedankeninhalte, Begriffe und „Begriffsversuche“ stehen in einem Kampf um Anerkennung und Überleben. Der einzelne bedient sich der mächtigsten und gängigsten Deutungsmuster, wenn es ihm selbst kurz- und mittelfristig nützlich erscheint. Er wird dadurch zum Werkzeug quasi selbstläuferischer Gedankeninhalte bzw. Ideen. Schwankende Rohre im Wind des jeweils herrschenden Zeitgeists, reden wir so, wie es üblich ist und gebilligt wird, und wie wir es für zweckmäßig und wirksam halten. In weit verzweigten Rückkopplungsmechanismen verstärkt sich die Gebräuchlichkeit mancher dieser Gedankeninhalte, die Gebräuchlichkeit anderer dagegen schwächt sich ab. Dabei spielt oft mehr Stimmungsmache als analysierbare Einsicht eine Rolle. Es kommt hinzu, dass die Gesichtspunkte, unter denen wir unsere Wirklichkeit betrachten, regelrechten Moden unterliegen, wie wir sie auch aus dem Bereich der Kleidung kennen. Man macht sich unmöglich, wenn man darauf keine Rücksicht nimmt.
So also legen wir uns mächtig in’s Zeug für die wirksamsten Schlagworte. Wichtig-sein und Sich-wichtig-machen ist hier ein einschlägiges Thema. Dies gilt jedenfalls dann, wenn nicht bereits das bloße Überleben bedroht erscheint. Es bilden sich [im allseitigen Mit- und Gegeneinander] politisch wirksame Schlagworte, sozusagen für die Gestaltung allgemeiner Rahmenbedingungen des Mit- und Gegeneinander, es bilden sich gewohnheitsartige Mentalitäten für die formelle und informelle Regelung alltäglicher Konflikte. Da es ein Ende der Diskussionen nicht gibt, wenn man sie allzu unbefangen führt, müssen aufgrund der sozialen Hierarchie [soziale Hackordnung, ev. ein hierarchisches Buckelsystem] in vielen Situationen Machtsprüche erfolgen. Gerade für hierarchische Strukturen im menschlichen Mit- und Gegeneinander ist ein selbstzweckartiges Selbstläufertum von „Befindlichkeiten“ und „Besitzständen“ bekannt, welches die maßgeblichen Gesichtspunkte im Sinn der tonangebenden Kreise nahe legt. Es ist völlig klar, dass hier Fragen der „Macht“ und des „Vermögens“ berührt werden. Fragen individueller Macht und individuellen Vermögens auf der Grundlage eines arbeitsteiligen Gesamtprozesses. Das sind Fragen der individuellen, eventuell „klassenspezifischen“ Begünstigung in komplexen, überindividuellen Gesamtprozessen. Manch ein Individualinteresse wird „strukturell“ begünstigt, anderes „strukturell“ abgeschwächt oder gar unterdrückt. Bezüglich der für relevant gehaltenen Themen und Gesichtspunkte unterliegen wir einer „strukturellen Zensur“.
Stichwort „Strukturwandel der
Öffentlichkeit“: Man kann den Wandel in der Zensur öffentlicher Diskussionen
von der Zensur einer eigens installierten Zensurbehörde zu einer Zensur durch
gepflegte Üblichkeiten [z. B. der political correctness] als Strukturwandel der
Öffentlichkeit auffassen. Dies ist eine Anspielung auf einen Buchtitel von J.
Habermas.
Bei den Freunden der zarteren Gedanken bilden sich gefühlswirksame Wendungen für verschiedene Arten von nicht-alltägliche Stimmungen. Deshalb setze ich hierher: die oft diskutierte Unmittelbarkeit, Innigkeit, Innerlichkeit und Subjektivität der Gefühle betrifft kulturell mittelbare Inhalte. Was wir da fühlen, ahmt kulturell und literarisch propagierte Vorgaben und Vorbilder nach. Das spricht sonderbarer Weise nicht gegen die subjektive Gegebenheitsweise unserer Gefühlsinhalte.
Oskar
Wilde parodierte dieses Thema trefflich unter dem Gesichtspunkt einer
Nachahmung der Kunst durch das Leben: Also das Leben ahmt die Kunst nach und
nicht umgekehrt, wie mancher wohl geglaubt haben könnte. Das Leben, gestaltlos
und dumpf in seinem Drang, sucht in der Kunst sein Vorbild und strebt so zum
Ausdruck und Bewusstsein seiner selbst. Manche von uns sterben an gebrochenem
Herzen und an Liebesleid allein aus dem Grund, weil ihnen die Literatur oder
ein besonderer Kinofilm die Vorlage geliefert hat, den inneren Drang des
dumpfen Lebens derart zu realisieren. In diesem Fall kann man wohl sagen, dass
sich Gedankeninhalte sogar auf Kosten ihrer Träger fortpflanzen können, ganz
ähnlich einem gefährlichen Virus.
Unsere öffentlichen Diskussionen sind zu einem großen Teil Wortgefechte um die Anerkennung der für relevant zu erachtenden Gesichtspunkte für verschiedene Themenbereiche: ein Kampf um die politisch wirksamen Schlagworte, ein Kampf um stimmungs- und gefühlswirksamen Schlagworte, ein Kampf vermittelst der gewichtigen und wichtig-machenden Sichtweisen und Schlagworte.
Selten sind Ausnahmen unter den Menschen [wie der griechische Feldherr Phokion], die argwöhnen, sie hätten etwas Falsches gesagt, wenn man ihnen Beifall zollt. Ein solches Selbstbewusstsein hat fast schon etwas Heroisches.
Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache, sagt Gadamer. Gänzlich Nicht-Sprachliches und absolut Unaussprechliches ist demnach Nicht-Verständliches, ergänzen wir: Außer-sprachliches Sein, das es natürlich auch gibt, und auf das wir uns besprechend vermittelst sprachlicher Formulierungen beziehen, ist zumindest teilweise verständlich, insofern es sprachlich erfasst bzw. sprachlich gefasst werden kann: Es ist sprachlich „verfasst“.. – Sprache ist also unvermeidliches Medium der Verständlichkeit, ohne eine entsprechende Sprache kann man sich selbst und andern nichts verständlich machen. Nehmen wir hinzu, dass wir uns nicht letztgültig und unmissverständlich aussprechen können. Nehmen wir hinzu, dass es kein endgültiges, „definitives“ Verständnis unserer Äußerungen gibt. Das alles heißt dann: es gibt kein nicht-interpretierendes Verständnis von irgend etwas in der Welt, keine reine Wahrheit ohne interpretatorischen Zusatz. Ganz besonders nicht in menschlich-unmenschlichen Angelegenheiten. – Fachspezifische Diskurse, Disziplinen mit strengerem Regelwerk, als es das alltägliche Sprechen beinhaltet, werden durch spezifische „Installationen“ im unvermeidlichen Medium der Alltagssprache in Gang gebracht. Fachsprachen und spezielle Regeln der „Validierung“ [Gültigkeitsfeststellung] fachspezifischer Aussagen können aber dem Medium „Alltagsprache“ gegenüber nicht völlig abgeschottet werden. Insofern sind sie einem Seehafen vergleichbar, dessen Funktion hinfällig gemacht würde, wenn man ihn vom offenen Ozean völlig abtrennen wollte. Der Hafen dient der Befahrung des Ozeans. Das spezielle Regelwerk einer Disziplin ist eine Hilfskonstruktion im Gesamtbereich unseres Verständlichkeitsmediums „Alltagssprache“.
Die Standards eines Spezialgebiets erschöpfen sich nicht in Regeln für die Verwendung von Ausdrücken. Regeln für die Anerkennung von Feststellungen und Befunden kann z. B. auch die labormäßige Reproduzierbarkeit eines experimentellen Befundes sein. Vor dem Hintergrund irgendwelcher gemeinschaftlicher und arbeitsteiliger „Übungen“ entsteht ein Regelwerk für die Anerkennung und „Objektivierung“ von „Befunden“. Das Regelwerk umfasst Rede- und Handlungsweisen gleichermaßen. – Ich weise darauf hin, dass die labormäßig reproduzierbare Wahrheit nur ein kleiner Teilbereich dessen ist, was wir insgesamt für wahr halten. Selbst für den naturwissenschaftlichen Bereich. Aussagen über die Entstehung von Gebirgen oder Aussagen über die Erdgeschichte und die Entwicklung des Lebens gehen über labormäßig abgesicherte Befunde weit hinaus.
Die Worte, die wir gebrauchen, geben Anlass zu Diskussionen darüber, ob es die richtigen Worte sind. Das Wort ist wohlfeiles Ungefähr. [Th. Mann]
Geläufige Worte verfestigen sich zu gängigen Wendungen und verdichten sich zu Schlagworten, derer man sich in zweckmäßiger Weise bedient. Gemäß irgendwelchen aktuellen Präferenzen persönlicher und überpersönlicher Art.
Oft überschätzen wir das Ausmaß unserer Übereinstimmung. In unvorhergesehenen Situationen zeigen sich später eine ganze Menge Unklarheiten und Missverständnisse. Darüber freuen sich dann z. B. Juristen, die im Nachhinein feststellen und eventuell entscheiden dürfen, von welcher Art gültigen Einvernehmens man auszugehen hat, wenn man sich nicht mehr einig ist.
Mit den Begriffen z. B. von Schuld und Verantwortung wird in Alltag und Literatur so viel Schindluder getrieben, dass kritische und nach Aufklärung strebende Geister fast alle eine nihilistische, zumindest bedeutungskritische Phase zu durchlaufen haben, in welcher sie sich in sonderbare Moralismen und Selbstdementis verstricken. Z. B. versuchen sie sich in der Haltung, moralisch wertende Stellungsnahmen zu vermeiden, was aber generell gar nicht möglich ist. Oder man sagt: „Folge dem Gefühl im Bauch! Sei spontan!“ Nietzsches Lehre, dass Wahrheiten generell zurecht gelegte Interpretationen und Illusionen seien, ist auch von dieser Art. Aber ich halte es tatsächlich für wahr, dass vielleicht alle allgemeinen Ansichten über allgemein Menschliches nichts- und wenig-sagend sind, dass sie zu diffizilen Endlosdiskussionen führen, in denen kein allgemein anerkannter Konsens zu erwarten ist. Dennoch bleiben erfahrungsgemäß typische Weisen nichts- und wenig-sagenden Denkens in Gebrauch. Es ist für uns unvermeidlich, mit interpretatorischen Zusätzen und zweckmäßigen Vereinfachungen zu denken. Eine nackte Empirie mit knallharten Fakten ist Fiktion. Eine Sprache der reinen Beobachtung gibt es nicht.
Man weiß nicht, was man zu wissen glaubt, lehrte S.. Wegen einer für weite Wirklichkeitsbereiche charakteristischen Unschärfe unserer Begriffsversuche, wegen der Subjektivität der Wahrnehmung, wegen der unvermeidlichen Selektivität der Wahrnehmung, wegen des unvermeidlich interpretierenden Charakters aller Wirklichkeitsauffassung, wegen der unvermeidlichen interesse-bedingten Illusionen, wegen der unvermeidlichen Bedeutungsvielfalt der Wörter und wegen der tatsächlichen Aspektvielfalt der wirklichen Phänomene.
Wörter fügen sich zu geläufigen Wendungen, derer man sich gern und zweckmäßig bedient.
Mit Begriffen, die wir schon haben, treten wir in Situationen ein, die Neues bergen. In Situationen, die in vielerlei Weise aufgefasst werden können.
Eine präzise Betrachtung des alltäglichen Lebens mit den Mitteln einer Sprache in dehnbaren Begriffen, kann es das geben?
Es gibt kein Ende der Diskussionen. Die Entscheidung, selbst in Wahrheitsfragen, ist eine Sache der Vereinbarung, der Machtverhältnisse, des herrschenden Geistes. Also ist Wille zur Wahrheit Wille zur Macht. Ja, Wille zur Wahrheit muss unvermeidlicher Weise auch ein Wille zur Interpretation sein. Das Sein des Verständlichen ist durch seine unvermeidliche Uneindeutigkeit deutungsbedürftig. Es kann allerdings, in entsprechenden Handlungszusammenhängen, jedenfalls manchmal, hinreichend präzisiert werden.
Wahrheit ist zu einem unvermeidlichen Anteil konstruktiv und interessen-bedingt kreativ. Sie besitzt einen Zurechtlegungs- und Zurechtmachungscharakter.
Nietzsche gebraucht den [provisorischen] Begriff „Macht“ unspezifisch. Es geht ihm nicht um gesellschaftliche Macht im besonderen, er schließt sie aber keineswegs aus. „Wollen befreit. Dies ist die wahre Lehre von Willen und Freiheit,“ heißt es bei ihm, mit dem Hammer philosophiert. Wille, Freiheit und Macht stehen vermutlich in grundlegendem Zusammenhang, denn ein freier Wille ohne jegliche Macht, wozu wäre er frei? Ein Nazi und ein anarchistischer Existentialist verstehen das jeweils auf eigene Weise. Dabei neigt der Nazi mehr zu Gruppenegoismus, der Anarcho mehr zu individuellem Egoismus. Dem Willen zur verhängnisvollen Konsequenz als unaufgebbarem Residuum der Freiheit huldigen aber beide. Der Wille jedenfalls macht Uneindeutiges eindeutig, er neigt zu reduktiven Sichtweisen, Aspektvielfalt blendet er gemäß seinem Interesse aus. Er huldigt der Grandiosität der pauschalen, jedenfalls nicht allzu differenzierten Sichtweise. Das wird dann selbst wieder zu einem Problem. Es führt zu Wahrnehmungs- und Realitätsverlusten.
Nietzsche sagt auch, ebenfalls pauschal: „Macht macht dumm.“ So seine Zeitdiagnose, nachdem Deutschland den Krieg von 1871/72 „gewonnen“ hatte. Einigen wir uns also auf ein teilweise harmonisches, dann aber auch wieder spannungsgeladenes Wechselspiel von Handlung, Denken und Wahrnehmung, für das es keine festen Regeln zu geben scheint. Ne quid nimis, meinten die Alten dazu, und dabei müssen wir es wohl belassen. Lassen wir es uns genügen an unvermeidlich interpretierenden, interessierten, dazu noch unpräzisierbaren Wahrheiten, wenn es nur wirklich Wahrheiten sind! Aber den Zurechtmachungs- und Zurechtlegungscharakter unserer Wahrheiten sollten wir nicht vergessen. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen legen wir uns ein Bild bzw. ein Modell der Wirklichkeit gemäß unseren Interessen zurecht. Das ist ein Gesichtspunkt, dessen Berechtigung durch viele einzelne Beispiele nahe gelegt werden kann.
Wenn wir mit Nietzsche von „Interpretation“ sprechen, bewegen wir uns auf dem Terrain mehrdeutiger und insofern missverständlicher Reden. Auch „Interpretation“ ist vieldeutig. „Interpretation“ kann sich 1. auf vielschichtige, mehrdeutige Situationen beziehen. 2. kann sich „Interpretation“ auf sprachliche Formulierungen beziehen, welche Situationen beschreiben. 3. kann man den Aspekt des interpretatorischen Zusatzes hervorheben. Damit ist gemeint, dass man fast allgemein mehr behauptet als man nach strengen Maßstäben reinen Konstatierens beobachtet hat. Im letzen Fall trifft man sogar das Verfahren wissenschaftlichen Vorgehens, welches die nackte Empirie gemäß zweckmäßiger Modellvorstellungen modelliert. Die Wahrheit vermag sich, ähnlich dem Proteus, in verschiedenartigen Gestalten zu zeigen, nur nicht völlig nackt in ureigener Gestalt.
Eine Situation kann also unter verschiedenen Aspekten beurteilt werden. Unter verschiedenen Aspekten können wahre Aussagen über entsprechende Sachverhalte erfolgen, die sich letztlich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Das führt zu keinem Problem bezüglich der Wahrheit der unter verschiedenen Perspektiven erfolgenden Aussagen. Schwieriger wird die Sachlage unter Punkt 2 und 3 der Bedeutungen von „Interpretation“. Punkt 2 war der Gesichtpunkt, dass wir die Wahrheit nur vermittelst erläuterungsbedürftiger Formulierungen erkennen können. Das bedeutet, dass wir in Verlegenheit geraten, wenn wir sagen sollen, welche Wahrheit es denn war, die wir vermittelst einer vieldeutigen Formulierung erkannt haben. Man kann einen Ausweg folgender Art suchen: die in einem gegebenen Kontext hinreichend präzise Paraphrase erhält die Anerkennung als „wahr“. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass wir in einem anderen Zusammenhang erst richtig sehen, wie sehr es berechtigt und möglich gewesen wäre, eine Situation unter einem ganz anderen Gesichtspunkt zu beurteilen, als wir es tatsächlich getan haben. Man sieht oft erst sehr viel später, wie wahr etwas ist.
Auch die Unvermeidlichkeit interpretatorischer Zusätze in der Wirklichkeitsauffassung wirft ein Wahrheitsproblem auf. Es besteht ja das Bedürfnis, faktisch gegebene und zu konstatierende Zusammenhänge von bloßen Deutungen zu unterscheiden. Ein eindeutiges k.o.-Kriterium dafür, was als nicht konstatierbar, sondern lediglich gedeutet zu gelten hat, scheint es nicht zu geben. Nehmen wir einmal den Fall, man deutet eine durch Parasiten verursachte Seuche als von Menschen selbst verschuldetes Übel. Diese Deutung kann auf einen tatsächlich existierenden Zusammenhang verweisen: dass nämlich ein Mangel an Hygiene die Ausbreitung der Parasiten tatsächlich begünstigt hat. – Gehen wir weiter zur Auffassung einer Krankheit, z. B. der Syphilis, als Geißel Gottes. – Da kann man letztlich doch nur sagen: „Solche Sichtweisen sind in bestimmten Zusammenhängen weniger zweckmäßig als andere.“ Mit Wahrheit allein hat das nicht ausschließlich zu tun.
Ein anderer, oft diskutierter Punkt, ist die Frage des „performativen“ Selbstwiderspruchs bei Äußerungen wie z. B.: „Alle behaupteten Wahrheiten beruhen auf Interpretation.“ „Performativ selbstwiderprüchlich“ heißt in diesem Fall: Ich behaupte faktisch etwas, was ich inhaltlich bestreite. Auf einen Problemkreis wurde hingewiesen: Der Gegensatz von Interpretation und „nacktem“ Gegebensein ist nicht leicht zu explizieren. Insofern ist nicht klar, ob Interpretation überhaupt im Gegensatz zu Wahrheit stehen muss. Nur für diesen Fall aber ergibt sich das Thema des sich selbst verneinenden Denkens. Nehmen wir aber einmal an, es gelinge uns irgendwie, einen solchen Unterschied [„Wahrheit- Interpretation“] zu begründen. Es ist dann nur die Allaussage: „Alle Behauptungen ...“, die vielleicht in einem ganz bestimmten Fall nicht zutrifft. Insbesondere, wenn wir recht haben wollen, auf unsere eigene, überfliegende Ansicht nicht zutreffen darf. „Alle behaupteten Wahrheiten, ausnahmslos, beruhen auf perspektivischer Scheinbarkeit, auf Illusion, auf interpretatorischem Zusatz.“ In dieser Fassung bekommen wir möglicherweise ein Problem, weil wir damit sogar die bloße Möglichkeit einer wahren Behauptung bestreiten. Sagen wir aber: „Fast alle, möglicherweise alle, jedenfalls alle von mir speziell geprüften Behauptungen der Wahrheit ...“, dann sieht es anders aus. Man kann also zu Nietzsche sagen: „Gut, aber die prinzipielle Schärfe, die Behauptung von Ausnahmslosigkeiten, derartige Denkfiguren, sie bringen möglicherweise ein Problem.“ In dieser Ausstattung haben wir eine Art Selbstdementi im Spiel. Warum aber der apodiktische Ton? Ohne Ausnahmslosigkeitsbehauptungen und ohne allzu strenge Disziplin hätten wir dieses Problem tatsächlich nicht. Wir hätten eine brauchbare hermeneutische Maxime und könnten die Weisheit des „ne quid nimis“ rühmen.
Die negative Existenzaussage: „Es gibt keine behauptete Wahrheit ohne interpretatorischen Zusatz“, ist einer unbeschränkten Allaussage äquivalent. Dies war die problematische Denkfigur. „Für alle x gilt, nicht P(x)“ = „Es gibt keinen Fall von P(x).“
Wer den „performativen Selbstwiderspruch“ vermeiden möchte, der muss sich lediglich hüten, die Möglichkeit wahrer Behauptungen prinzipiell in Frage zu stellen. Nur die Behauptung einer prinzipiellen Ausnahmslosigkeit für alle möglichen Fälle von Wahrheitsbehauptungen, welche sachlich berechtigt erhoben werden könnten, setzt so etwas wie Erkenntnisansprüche bezüglich der prinzipiellen Möglichkeit von Wahrheiten voraus. Denn mit einer Durchmusterung einer bestimmten Menge anerkannter Fälle von wahren Aussagen ist es dabei nicht getan. Ein solcher Ansatz [mit prinzipieller Ausnahmslosigkeit] läuft auf Konzepte von formaler und transzendentaler Logik hinaus, in welchen ein Denken bezüglich des Denkens, welches selbst Denken ist, auftritt. Es kommt zu Erkenntnisansprüchen bezüglich der Möglichkeit des Denkens [„überhaupt“] und zu Erkenntnisansprüchen bezüglich der Möglichkeit eines thematischen Gegenstandsbezugs des Denkens [„überhaupt“]. Ein Denken, welches selbst Erkenntnisansprüche realisiert. Das Ganze wäre eine erkenntnistheoretische Prinzipienphilosophie nach Kantischer Art. In derartigen Denkfiguren lässt sich herausfinden, was zur prinzipiellen Möglichkeit der Wahrheit gehört und was nicht. Also kann man ein solches Unternehmen so auffassen, dass es uns zeigt, mit welchen Behauptungsinhalten wir performative Selbstwidersprüche vollziehen würden. Wobei wir, gemäß der Aufteilung in formale und transzendentale Logik, zum Teil Undenkbares behaupten würden, zum Teil grundsätzlich Unerkennbares thematisch zu erkennen behaupten würden. Diese beiden Felder eröffnen sich, wenn wir elementare Aussagen prinzipieller Natur über die Möglichkeit von Erkenntnissen und Wissensansprüchen für möglich erachten. Halten wir es aber nicht für möglich, elementare Aussagen prinzipieller Art über die Möglichkeit von Erkenntnis- und Wissensansprüchen zu treffen, kann auf der Nachweis selbstverneinender Denkungsweisen nicht gelingen.
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