Hirsche im Wald

 

Beispiel für eine wiederkehrende Merkmalsbildung im biologischen Bereich ist das Hirschge­weih. Dabei gehen wir davon aus, dass es sich beim Hirschgeweih um ein erblich [genetisch] de­terminier­tes Merkmal handelt.

 

Vor 125000 bis 80000 Jahren, nach erdgeschichtlichem Maßstab also erst kürzlich, gab es Wald-Ele­fanten und Warmzeitnashörner in Europa. Die Natur neigte in dieser Zeit, wie so oft, zur Ausschweifung und Maßlosigkeit. Es existierten z. B. im Rhein­graben, in waldfreien Zonen, Hirsche, deren Geweih eine Spannweite von vier Metern auf­wies.

 

Die Hirschkühe der Urzeit bevorzugten Hirsche mit großen Geweihen. Die Hirschbullen ih­rerseits bevorzugten Partnerinnen mit eben diesen Vorlieben. Also herrschte Harmonie der Präferen­zen. Die Gene für große Hirschgeweihe wurden durch diese Verhaltensweisen mehr und mehr ausgelesen, da ein großes Geweih im täglichen Überlebenskampf einerseits von Vorteil war, andererseits war das große Geweih wegen der Resonanz beim anderen Ge­schlecht mit dem größeren Fort­pflanzungserfolg verbunden. Es ersparte den Hirschen der Urzeit, als ungeliebte Junggesellen zu sterben, ohne sich fortgepflanzt zu haben.

 

Auch das weibliche Gen für die Vorliebe großer Geweihe, das wir hiermit hypothetisch in’s Spiel bringen wollen, wurde mehr und mehr im Sinne eines sich selbst verstärkenden Rück­kopplungsprozesses ausgelesen. Das Erbgut von Hirschkühen, welche diese Vorliebe nicht hatten, wurde in den Nachfolgegenerationen in minderer Proportion verbreitet, weil die Hir­sche diese Hirschinnen weit weniger aufregend fanden als die anderen.

 

Letztlich kam es dann dazu, im Verlauf fast unzähliger Generationen, dass die Hirsche so große Geweihe hatten, dass diese Geweihe für das Leben im Wald hinderlich waren, weil sie sich damit andauernd im Gestrüpp verfingen. Erstaunt standen sie im Wald herum und muss­ten bemerken, dass Erfolg beim anderen Geschlecht allein nicht so glücklich machte, wie sie es sich zunächst vorgestellt hatten. Auch der damit verbundene Fortpflanzungserfolg verbes­serte ihre Stimmung nicht. Schwer trugen sie an der Bürde des allzu groß gewordenen Ge­weihs.

 

Für das Waldleben waren die Hirsche nun ungeeignet. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als hinaus in die Savanne zu ziehen, wo es ihnen im Grunde genommen, wegen der direkten Sonneneinstrahlung, zu heiß war.

 

Ich nenne eine Merkmals- oder Strukturbildung wie das übergroße Hirschgeweih, das sich durch genetisch bedingte Verhaltensresonanzen herausbildet und stabilisiert, einen Selbst­läufer der Evolution. Für den  Außenstehenden ist das Selbst­zweckartige des betroffenen Merkmals auffällig, bedeutet es doch sowohl für die Gattung als auch für das Individuum, als Träger eines solchen Merkmals, eine Behinderung im alltäglichen Leben. Man kann auch sagen: „Der Selbstläufer hat ein Eigenleben gewonnen [im Verhältnis zum Vorteil der Merk­malsträ­ger und sogar zum Vorteil der Gattung insgesamt]. Hier ist offenbar etwas außer Kon­trolle geraten, eine Eigendynamik ist entstanden. Es ergibt sich die erstaunte Frage nach dem Sinn und der Zweckmäßigkeit einer solchen Merkmalsbildung. Der Blick auf die ein­schlägi­gen Rückkopplungsprozesse zeigt uns dennoch eine verborgene Zweckmäßigkeit, die „wahre“ Zweckmäßigkeit des nur vordergründig unverständlichen Gesche­hens.

 

Man kann einwenden, die genetische Anlage des übergroßen Geweihs habe sich nicht so sehr durch female choice als vielmehr durch die damit verbundene Kampfstärke ergeben, weil Hirsche Rudeltiere sind und allein für den stärksten sich die Gelegenheit der Fortpflanzung ergibt. Ganz genau werden wir sicherlich niemals wis­sen, welche Tatsache am meisten den Ausschlag gab, dass der genetische Selbstläufer sich so unproportioniert entwickeln konnte. Abwegig aber ist der Gedanke der female choice in diesem Zusammenhang nicht, finden wir doch in der Vogel­welt, die sich zum Teil durch Monogamie auszeichnet [unus cum una], analoge Beispiele. Die prächtigen Federn mancher männlicher Vögel, z. B. der Pfaue, machen diese zu einer gut sichtbaren Beute ihrer Feinde und dienen nicht dem Zweck, durch Kampfesstärke einen Schwarm von Pfauinnen zu erobern. Sie die­nen einerseits dem Imponiergehabe irgendwelchen Konkurrenten gegenüber, andererseits dem Bestreben, beim anderen Ge­schlecht Aufmerksamkeit und Anklang zu erregen. Sich also „wichtig zu machen.“ Viel­leicht ist dies ein besseres Beispiel für female choice im Tierreich.

 

Im Bereich des menschlichen Lebens stehen wir zwar weiterhin auf dem Boden der biologi­schen Evolution [der Arten, Lebensformen und erblichen Merkmale], aber die Natur hat uns, in einer Art über­schwänglicher Selbstverleugnung, zu Kultur- und Freiheitswesen determi­niert. Im Umkreis natürlicher Dinge reckt das Freiheitswesen erstaunt sein Haupt empor und findet sich zu einer kul­turellen Überformung seines Verhaltens disponiert und angetrieben. Obwohl es doch auch ihm zunächst und hauptsächlich um Dasein, Wohlsein und die Lust des Lebens geht. Die Tatsa­che der „Überformungsanlage“ ist in gewisser Weise mit der Bürde des allzu großen Hirschgeweihs zu vergleichen.

 

Es erscheint mir an dieser Stelle nahe liegend, die Frage zu behandeln, ob wir den Menschen als ein durch das Denken gequältes [Un]Tier auf­fassen sollten. Das aber wird hier nicht ge­schehen, weil es mir sehr weitläufig erscheint. Ich setze ein­fach voraus, dass wir den An­forde­rungen des Denkens [auch in Fragen der Verhal­tensmodifi­kation] nicht entrinnen können, auch wenn wir es wollten. Menschliches Verhalten fällt an irgendeinem Punkt immer wieder zu­rück auf die gedankliche Stel­lungsnahme zu irgendwel­chen Motiven, Ab­sichten und Ver­hal­tensweisen. Probeweise können wir uns zwar in vielen Einzelfällen der Stellungs­nahme zu irgendwel­chen Ansichten und nahe liegenden Verhaltensweisen enthalten. Das tut uns sogar in vielen Fällen ausgesprochen gut, weil es uns vor blinder und voreiliger Aktion bewahrt. Insgesamt aber ist es uns unver­meidlich, dass wir uns irgendwelche Ansichten, Absichten und Mo­tive zueigen machen. Das ist das Phänomen des „Sich-nicht-nicht-verhal­ten-könnens.“

 

Sartre sprach in diesem Zusammenhang, ein wenig reißerisch, vom „Verdammt-sein zur Freiheit“. Ich ziehe es vor, gemäß der Tradition von Kant und Fichte, von der „Bestimmung“ des Menschen zu sprechen, was in diesem Falle „die Bestimmung zur Freiheit“ wäre. Diese Ausdrucksweise birgt u. a. die sinnreiche Konnotation des „Stimme-habens“, was darauf anspielt, dass die denkeri­sche Modifizierbarkeit des menschlichen Verhaltens mit dem Sprache-haben zusammen­hängt. Zunächst allerdings ist „Bestimmt-sein zu“ aufzunehmen als „befähigt sein zu“, „zweckmäßig ausgerichtet sein auf“. Die Harmonisierung der natürlichen Anlagen des Menschen mit der allgemeinen Freiheit der Handlungsbetroffenen, gemäß der Goldenen Regel, wäre demnach, so unglaublich es klingt, „Bestimmung“ der menschlichen Natur. Das durch diese „Bestimmung“ aufgesteckte Ziel liegt sehr nahe und sehr fern zugleich. Gedanklich ist es so nahe liegend, dass es uns, jedenfalls in helleren Stunden, als selbstver­ständlich zu erscheinen vermag. In der „wirklichen Praxis“ aber sind wir weit von einer Situation der Wechselsei­tigkeit im Zugeständnis der [prinzipiell] gleichen Freiheit [aller Betroffenen] entfernt.

 

Gerade aber im Zusammenwirken der vielfältigen, durchaus gedanklich vermittelten mensch­lichen Verhaltenweisen entstehen eine ganze Reihe von Regeln, Ritualen und Erwartungen, die stark an die Bürde das zu groß gewordenen Hirschgeweihs und an dessen Selbstläufertum erinnern. Wir alle müssen viele Dinge tun, die weder uns selbst noch einem andern direkt nützlich sind. Allein aus dem Grund, weil gewisse Dinge üblich geworden sind und deshalb so erwartet werden. So reden und schweigen wir [vermittelst silencing, wie man in USA sagt] über Themen, über die man eben redet und schweigt, und wir tun all dies in einer üblichen Art und Weise [entsprechend der Vorgabe tonangebender Kreisen]. All dies geschieht oft über das Maß des Zweckmäßigen hinaus, hauptsächlich deshalb, weil es so gebräuchlich ist. „Mos tyran­nus,“ sagte man ehemals dazu. Nehmen wir einmal an, wir haben in einem be­stimmten Falle die Ab­sicht der Er­kenntnis der „wahren“ Sachlage, so können wir unseren Zweck oft deshalb nicht erreichen, weil irgendwelche Üblichkeiten uns daran hindern, klar­sichtig und aufmerksam Geschehnisse zu verfol­gen, auf die es, gemäß tatsächlicher Zusam­menhänge, „wirklich“ ankommt. Es gibt die Üblichkeit unsachgemäßer Redensarten, und es gibt die Üb­lichkeit von Problemlösungsverhalten, das mehr Schwierigkeiten erzeugt als überwindet.

 

Die Methode, über gewisse Dinge zu reden, ist bisweilen das Gegenteil der Methode, die Wahrheit heraus zu finden. [Reminiszenz. an Pareto]. Die übliche Art, ein Problem anzuge­hen, ist bisweilen das Hauptproblem in einer Angelegenheit.

 

Wir debattieren [nahezu unvermeidlicher Weise!] über Kopftücher und Verwaltungs­regeln zur Durchfüh­rung des Dosenpfands. Wir überlegen, ob ein seriöser Mensch männlichen Ge­schlechts ohne Krawatte und entsprechenden Anzug an einer politi­schen Konferenz teilnah­men kann. Ist es nicht so, dass er durch die Missachtung solcher Vorgaben Missachtung der anderen Teilnehmern zum Ausdruck bringt? Ich persön­lich würde gern den „zwanglosen Zwang“ des Kra­watte- und Anzugtra­gens mit der Bürde des zu groß geworde­nen Geweihs verglei­chen: Diese Gebräuchlichkeit verhindert auf mehr als symbo­lische Weise den freien „Fluss der Energie“ zwi­schen Kopf und übrigem Kör­per. Bezeichnender Weise gibt es diese Gepflogenheiten am meisten im Berufs- und Geschäftsleben, wo jeder Sorge trägt, den An­schluss an den Usus der Überlebensgruppe zu verlieren. Man spielt also an auf die Erregung von Außenseitergefühlen und latenter Existenzangst. Außerhalb der arbeitsteiligen Lebens­gemeinschaft kann niemand von uns selbst für sich sorgen. Soziale Mechanismen des symbo­lischen Einschlusses und Ausschlusses aus der Gruppe wirken deshalb so nachhaltig auf das Selbstbewusstsein des Einzelnen, weil diese Mechanismen tief in der Psyche das Gefühl tan­gieren, sich zunächst in der sozialen Realität und vermittelst ihrer [der sozialen Realität] auch in der übrigen Wirklichkeit behaupten zu können.

 

Die Rede vom „Fluss der Energie“ ist auch so eine Üb­lichkeit [Redensart], die nichts mit der gefestigten physi­kali­schen Begriffsbildung in puncto „Energie“ zu tun hat. Sie wird in „esoterischen“ Kreisen gepflegt. Vielleicht ist es eine angemessene Übersetzung, vom „freien Spiel der Erkenntniskräfte“ zu sprechen, ein Motiv, das sich in Kants „Kritik der Urteilskraft“ findet. Der „freie Fluss der Energie“, ein „freies Spiel der Erkenntniskräfte“, wäre dem­nach ein Hauptzweck ästhetischer Kunst. – Der allgemeine Zusammenhang ist folgender: Ästhetische Kunst be­zweckt u. a. ästhetische Produktion. Das Produkt dieser Produktion besitzt u. a. die ästhetische Qualität, zum freien Spiel der Erkenntniskräfte zu stimulieren, regt also an zu außergewöhnlichen Gefühls-, Stimmungs- und Bewusstseinsqualitäten. In diesen Kontext, und nicht in den Kontext der physikalischen Begriffsbildung, gehört m. E. die Rede vom „Fluss der Energie“.

 

Wahrheit als ein „Heer von beweglichen Me­taphern“, deren Herkunft wir vergessen, war übrigens ein Nietzsche-Thema in seinem Richtung weisenden Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn.“ Er schrieb dort, dass unsere Wahrhei­ten Metaphern und konventionelle Zurechtlegungen seien, von denen man vergessen habe, dass es welche sind.

 

„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illu­sio­nen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, ...“ [Hanser-Ausgabe, III, 314]

 

Es ist mir klar, dass ich mit meiner wertenden An­sicht über das Krawattentragen nicht mit allgemei­nem Bei­fall rechnen kann. Nicht nur die Textilindustrie hat ein Interesse daran, dass es Kra­watten gibt.

 

Wenden wir uns anderen Bereichen menschlichen Verhaltens zu! „Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort,“ lässt Goethe seinen Me­phistopheles in der Beratung des frischgebackenen Studenten sagen. [Faust I, Vers 1972 ff.] Und er ergänzt:

 

„Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;

Weh dir, dass du ein Enkel bist.“

 

Wir gestalten unser Leben im Rahmen von Vorbedingungen, gefestigten Üblichkeiten und nahe liegenden Erwartungen. Dabei dienen anerkannte Üb­lichkeiten und stabilisierte Erwar­tungshaltungen der Vorhersehbarkeit des Han­delns und der Komplexitätsreduktion in einer durchaus unübersichtlichen Wirklichkeit. Diese Tatsache über­hebt uns allerdings nicht der Aufgabe, auch hier sich selbst stabilisie­rende Strukturbildungen mit allzu beschwerlicher Eigendynamik auszumachen.

 

Es ist nicht leicht, aus der Fülle sich selbst stabilisierender und verfestigter Üblichkeiten un­verfängliche Beispiele für beschwerliches Selbstläufertum zu nennen. Mit Si­cherheit wird sich fast immer jemand finden, der die Sache verteidigt. Selbst heilige Kühe in Indien und das alt hergebrachte Kastenwesen haben Fürsprecher.

 

In der Wechselwirkung vieler und vielfältig handelnder Menschen kommen Dinge zustande, die keiner in dieser Form geplant und gewollt hat. Rituale, normierende Üblichkeiten, ge­prägte Erwartungen, Gruppendynami­ken. Mit einer pleonastischen Formulierung möchte ich von Phänomenen des eigendynamischen Selbstläufertums sprechen. Die verselbststän­digten Ergebnisse unserer wechselwirksamen Verhaltensweisen treten uns gegenüber als fremdbe­stimmende, „entäußerte“ Mächte. „Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.“ [Faust I, Verse 1413 f.] Viele haben Anteil daran, dass alles so geworden ist, aber keiner hat es ei­gentlich so [„in dieser Form“] gewollt. Es ist un­vermeidlich, dass dergleichen ge­schieht. Es gibt positiv und negativ zu bewertende Üblich­keiten. Positiv ist z. B. die Existenz eines Rechtswesens zu bewerten, was heißen soll, dass sich in einem Konfliktfall streitende Par­teien einer übergeordneten Distanz unterwer­fen müssen. Negativ sind dagegen übersteigerte Formen von Sozialkontrolle und das Selbstläufertum einer hierarchischen Bürokratie, wie es z. B. von dem russischen Schriftsteller Anton Tschechow dargestellt wurde. Auch Franz Kafka hat dieses Thema sehr sachkundig gestal­tet. K. verknüpfte das Thema [z. B. in „das Schloss“] mit tragischem Pathos, mit dem unglücklichen Bewusstsein von Entfremdung, ano­nymer Isolation und mitmenschlicher Kälte. „Kafka ist ein Realist“, dachte G. Lucask, als er in einem stalinistischen Gefängnis saß. Tschechow verwendete in „Tod eines Beamten“ das Darstellungsmit­tel der Groteske. Hier wird an der Art der erregten Heiterkeit klar, wo das Lachen aufhört.

 

An zeitgenössische Zustände und „Befindlichkeiten“ in der deutschen Bürokratie wage ich hier nicht zu denken, weil ich meinen Lebensunterhalt durch die Arbeit als Verwal­tungs­angestellter in eben dieser Bürokratie bestreite. [Selbstverständlich ist die Rede vom wiehern­den Amtsschimmel auch nur eine wohlfeile Üblichkeit, die nicht immer zu Recht verwendet wird.]

 

Im arbeitsteiligen Gesellschaftsprozess entstehen und prägen sich aus: Regeln des Warenaus­tauschs und des Geldwesens, Üblichkeiten des Wirtschaftslebens, der Organisation und Ver­waltung. Und natürlich Regeln der Arbeitsteilung selbst mit typischen, weit sich verzweigen­den Konsequenzen. Diese Konventionen, obwohl von Menschen gemacht, entziehen sich weitgehend der planerischen Gestaltung und sind, wenn sie einmal da sind, zu einem guten Teil als eigendy­namische Selbstläufer auf der Grundlage individuellen Einzelverhaltens anzu­sehen. Etwas hochtrabend gesprochen kann man das eigendynamische Selbstläufertum sogar zur „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ rechnen. Obwohl es auf einer Grundlage ge­danklich modifizier­barer Verhaltensweisen aufsitzt. Von der Natur her zum Freiheitswesen disponiert, erzeugt der gesellschaftliche Mensch im Austausch mit anderen überindividuelle Strukturen und Ge­pflogenheiten, welche sich seiner freien Verfügung durch eine besondere Art von Ei­genleben ent­ziehen. „Du glaubst zu schieben, doch du wirst geschoben.“ Man hat diesen Sachverhalt oft als spezielles Kapitel einer „Dialektik“ von Freiheit und Notwendig­keit vorgetragen. In Sartres „Kritik der dialektischen Vernunft“ und Marxismus-Rezeption war die­ser Sachverhalt einer der entscheidenden Punkte.

 

Der Aspekt der gesellschaftlichen Macht verhakt sich mit dem der „Struktur“ nicht insofern, dass eine Gruppe [z. B. eine „herrschende Klasse“] über diese Struktur geradezu frei und selbstmächtig verfügte, sondern insofern, dass die Struktur bestimmte Interessen eher be­günstigt als andere. So gibt es strukturbegünstigte und strukturbeeinträchtigte Interessen und im Falle eines Strukturwandels z. B. „Modernisierungsverlierer“. Völlig klar, dass die Struk­turbegünstigten eher zu Strukturkonservatismus neigen als andere. Strukturbestimmt aber ist unser aller Leben unvermeidlicher Weise.

 

Wir hoffen, dass einzelne Gepflogenheiten, welche unser Leben beschweren und der freien Gleichheit der vernunftbe­gabten Natur nicht dienen, sich nach und nach abschwächen und dem privaten Belieben des einzelnen überantwortet werden. Chaqu’un à son goût, singt der russische Fürst in der Fledermaus, und es bleibt uns lediglich, darauf hinzuweisen, dass es auch in Ge­schmacks­fra­gen einen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Geschmack gibt. Wir alle machen diesen Unterschied, obwohl wir die Kriterien dafür nicht nennen kön­nen. Dies ist sonderba­rer Weise nicht nur in Geschmacksfragen so. Hier ist das Phänomen der unpräzisierbaren Kriterien lediglich besonders allgemein und früh aufgefallen.

 

Insgesamt können wir dem Selbstläufertum der uns entgleitenden Handlungskonsequenzen nicht entrinnen. Freiheitsspielräume im einzelnen, ohne beschwerende Üblichkeit, nicht nur in Fragen der Freizeitkleidung, erscheint mir dennoch als ein hoher Wert.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2004