Indexikalische Sprachausdrücke

Der bloße Wortlaut eines Satzes wie "ich bin jetzt hier" stellt keine Aussage dar, die man wahr oder falsch nennen könnte. Es handelt sich eher um eine Aussagefunktion [Matrize], die durch geeignete Ersetzungen der Wörter "ich", "hier" und "jetzt" zur ex­pliziten Formulierung von wah­ren oder falschen Aussagen führt.

Wörter wie "hier", "jetzt", "dies da", "ein solches da" ("so eins"), (auch „ich“, „du“, „er“, „wir“ usw.) erfüllen eine hinwei­sende Aufgabe und heißen deshalb "indexikalische" bzw. "deiktische" Ausdrücke. Ein Satz wie "ich bin jetzt hier", bestehend aus Personalpronomen, Verb und zwei Adver­bien, ist für sich genommen nicht wahr oder falsch zu nennen, bevor nicht feststeht, auf wen oder was sich "ich", "hier" und "jetzt" beziehen. Dieser Bezug hängt offenbar von der konkreten Äußerungssituation ab. Das Wort "ich" bezeichnet jeweils die Person, die wir sprechen hören und denken „sehen“, (wir unterstellen hypothetisch-interpretierend ein denkendes Wesen), "hier" bezeichnet den Ort bzw. die nähere Umgebung des Äuße­rungsereignisses, "jetzt" den Zeitpunkt der jeweiligen Äußerung. Bei dem Wort "jetzt" fällt uns auf, dass eigentlich jedes Mal, wenn wir das Wort "jetzt" verwenden, ein ande­rer Bezug (Referenz) vorgenommen wird, weil ein zweites ausgesprochenes oder ge­dachtes "Jetzt" bereits einem anderen Augenblick zugehört. Die Wörter "hier" und "ich" müssen sich nicht zwangsläufig auf jeweils verschiedene „Entitäten“ (Teilstücke der Wirklichkeit) beziehen, kön­nen es aber, z.B. spricht jede Person, die von sich selbst etwas sagt, von einem anderen Lebewesen, bzw. von einer anderen historisch- konkreten Person.

Man kann sagen: „Die hinweisenden [„deiktischen“, „indexikalischen“] Ausdrücke ha­ben ihre Bedeutung in „kontextsemantischer“ Weise.“ – Diese Ausdrücke haben ihre Bedeu­tung in situationsabhängiger Weise. Die Bedeutung dieser Ausdrücke ist situationsabhängig, auch wenn wir eine erlernbare Verwendungsweise der Ausdrücke unterstellen. – [Sozusagen ein Beispiel dafür, dass wir die geregelte Verwendungsweise eines Ausdrucks doch nicht ganz mit seiner „Bedeutung“ gleichsetzen können. Was wir im Falle der indexikalischen Ausdrücke lernen, ist ihre Gebrauchsweise als ein Verfahren der situationsabhängigen Bedeutungsgebung bzw. der kontextvariablen Bedeutungsdefinition.]

Eine begriffliche Bedeutung in der Art eines Be­griffsinhalts und eines Begriffsumfanges, wie wir sie bei Prädikatausdrücken [oft] un­terstellen, haben diese Ausdrücke [möglicherweise? notwendigerweise?] nicht. – Das Prädikat „... ist eine Frau“ hat zum Inhalt die Merkmale „erwachsene Person“, „menschliches Lebewesen“, „weiblichen Geschlechts“. Der Begriffsumfang besteht in diesem Fall in der Menge aller Frauen, d.h. der Menge der Personen weiblichen Geschlechts. Das ist die Menge aller „Entitä­ten“, auf welche das begriffliche Prädikat zutrifft.

Exkurs „Begriffsinhalt und Begriffsumfang“: Auf die Unterscheidung zwischen „Intension“ und „Extension“, die wir bei Prädikatausdrücken machen können, treffen wir im Fall der hinweisenden Ausdrücke [möglicherweise? notwendigerweise?] nicht. [Bei Frege ist die „Intension“ der „Sinn“, die „Extension“ die „Bedeutung“.] Die Extension eines Prädikatsausdruck ist eine intensionsvermittelte Referenz: Das Prädikat gilt von einem Gegenstand, erkennbar anhand eines begrifflich erfassten Kriteriums. – Beim indexikalischen Ausdruck fehlt diese kriteriengeleitete Referenzbildung weitgehend. Im räumlichen  Ausdruck „hier“ ist lediglich die ausschließende Anwendung auf räumliche  (und auch kontextuelle) Gegebenheiten eine Komponente begrifflicher Art. Ansonsten haben wir eine situativ direkte, unmittelbare Referenz des Ausdrucks zu veranschlagen, welche aufgrund dieser Direktheit den Charakter der Irrtumsimmunität besitzt. Wenn ich sage: „Hier steht ein Stuhl“, kann ich mich derart irren, dass es sich bei dem vermeintlichen Stuhl um etwas anderes handelt. Aber nicht derart, dass das wahrgenommene Objekt zwar ein Stuhl ist, aber nicht hier, sondern an ganz anderem Ort steht.

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In der spekulativen Philosophie des absoluten Ich finden wir dennoch eine nicht-indexikalische Deutung für den Subjektgebrauch des „ich“. Man [Fichte, Schelling, Hegel] nimmt an, das „unbedingte“ [ev. „absolute“] Ich sei die „Form“ oder „das Subjekt“ des Denkens [des „Bewusstseins überhaupt“]. – Diese Rede rührt von Kant her, der etwas vorsichtiger als seine Nachfolger damit umging. – In diesem Sinne wäre das Ich das [eine, einzige] denkende Wesen, dessen Existenz apodiktisch bewusst gemacht werden kann. Es ist das Prinzip möglichen Denkens, dessen „Existenz“ als Gegenstand einer möglichen Vergewisserung vorgeführt werden kann. [Augustinus und Descartes hatten diesen Punkt bereits vorbereitet.] Die Denkbarkeit dieser Form des Denkens beinhaltet die Existenz des denkenden Wesens, die Existenz der „Form des Denkens“. Die Denkbarkeit dieses nicht-empi­rischen Subjekts beinhaltet die Gewissheit seines Daseins. – Eigentlich ist das Dasein, die Existenz, hier nur das „Dasein“, bzw. die „Existenz“ einer „Möglichkeit“. „Möglich“ hier im Sinne von „denkbar, dass ...“. „Für ein Bewusstsein überhaupt dankbar, dass …“, „für mich und andere prinzipiell denkbar, dass …“.

Das Ich des Denkens ist hier zwar kein Klassifikationsprinzip, um die Wirklichkeit in Iche und Nicht-Iche zu sondern, aber es „hängt allen Begriffen an“ [Kant]. Es „hängt allen Begriffen an“, insofern als alle Begriffe, als Denk- und Aussageinhalte, oder als Kriterien erkenntnisgültiger Klassifikationen, einen Bezug auf das Ich, als unhintergehbares Zentrum des Denkbewusstseins haben bzw. sogar haben (können) müssen. Mit Kant: „Das ‚Ich denke‘ muss alle meine Vorstellungen begleiten können.“ Das kann man (in Anspielung auf Herbert Schnädelbach) so ausdrücken: „Alles Bewusstsein ist mögliches Selbstbewusstsein.“ Unumgänglicher Weise mögliches Selbstbewusstsein. Hier wird für Inhalte einer etwaigen Erkenntnis die Notwendigkeit einer Möglichkeit gefordert bzw. behauptet. Der notwendige Bezug auf ein mögliches Bewusstsein meines Bewusstseins, bzw. auf ein Bewusstsein meiner selbst.   

Nunmehr zum Subjektgebrauch des „ich“ und der Parallele zur nicht-indexikalischen, begrifflichen Deutung des Ich:

Das Merkwürdige am Subjektgebrauch des Wortes „ich“ ist, dass ich mich in be­stimmten Kontexten [nämlich in der Situation der cartesia­nischen Meditation] nicht mit einer anderen Person verwechseln kann, weil ich in die­sem Fall keine bestimmte Person anhand von Merkmalen identifiziere. Identifikation ist die „objektive“ Erkenntnis der Identität (Diesel­bigkeit) einer Person anhand von Eigen­schaften bzw. Kriterien. Identi­fikation ist objektive Erkenntnisleistung [von etwas als etwas]. Werde ich mir aber der subjektiven „Tatsache“ bewusst, dass ich so und so empfinde, dann kann ich mich nicht irren derart, dass diese subjektiven Empfindungen zwar subjektiv existieren, aber je­mand anderer als ich selbst es ist [bin], der sie hat. In einem gewissen [genau einzu­schränkenden] Sinn kann ich mich also mit niemand ande­rem verwech­seln. Von maß­geblicher Bedeutung ist allerdings der Gesichtpunkt, dass ich, als zum Denken befä­higtes Wesen, existieren muss, um irgendetwas inhaltlich denken zu können und um Aussageinhalte irgendwelcher Art verknüpfen zu können. Insofern ist die Existenz des Ich, als Voraussetzung des Denkens überhaupt genommen, eine nicht-empirische Vo­raussetzung des Denkens überhaupt. – Eigentlich geht es um die bloße Möglichkeit des Denkens, die sog. „Form des Denkens“. Die Rede von „Existenz“ ist deshalb bereits mit Vorsicht zu genießen, weil es lediglich um die unumgängliche Vor­aussetzung einer gedanklichen Möglichkeit geht. – Alle Denkinhalte sind auf die Mög­lichkeit des Den­kens bezogen, und auch ich bin ein zum Denken befähigtes Wesen. „Est et mihi censendi ius“, ist m. E. eine Version des Intersubjektivitätsanspruchs, der immer mit Erkennt­nisansprüchen einhergeht: „gültig auch für mich“, „einsehbar auch für mich“. – Die zumindest prinzipielle Denkbarkeit, auch für mich, ist eben Prinzip des Denkens über­haupt.

Das nicht-empirische Ich des Selbstbewusstseins wird hier für ein denkbares Etwas ge­nommen. Es handelt sich um die Möglichkeit des Bewusstseins überhaupt, die wir hier bezeichnen, sei es als Bewusstsein von subjektiv Gegebenem, von objektiv Vorhande­nem oder von „bloßen“ Denkbarkeiten. Es ist we­der ein subjektives noch ein objektives Etwas sondern das Denken selbst von Denkba­rem überhaupt. Es ergibt sich übrigens nicht [vorrangig] aus der sprachlichen Logik, dass Denken eine Tätigkeit ist, welche ein tätiges Subjekt voraussetzt, sondern aus der sprachlichen Logik, dass Den­ken das Den­ken von Denkbarem ist. – Keine Denkbarkeit ohne die Möglichkeit des Gedachtwer­dens, keine Denkbarkeit ohne „Form des Bewusstseins“, ohne Bezug auf ein „mögli­ches Bewusst­sein“. – Das nicht-empirische Ich ist ein „mögliches Bewusstein“, eine gedankliche Möglichkeit besonderer Art.

Wenn Fichte das Ich dieses Subjektbewusstseins für „intellektuelle Anschauung“ hielt, dann wollte er [möglicherweise auch?] darauf hinwiesen, dass wir mit dieser Art von Subjektbe­wusstsein nicht etwas als etwas identifizieren oder klassifizie­ren, wie wir es ansonsten mit Begriffen von vielfältig Denkbarem tun. Nein, hier identi­fizieren und klassifizieren wir nichts, es besteht genau deshalb nicht die Möglichkeit der irrtümli­chen Klassifika­tion und Identifikation, es geht lediglich um das Denken selbst des viel­fältig Denkba­ren, welches ein Absolutum, bzw. etwas Unhintergehbares ist. Mit dem „ich“ im Sub­jektgebrauch reden wir also von etwas, das eigentlich kein Etwas ist. Et­was Denkbares, das weder etwas subjektiv noch objektiv Gegebenes noch etwas von dem vielfältig Denkbaren ist, sondern das Denken selbst bezüglich all dieser Denkin­halte [Denkbar­keiten].

Die Merkmale der „Irrtumsimmunität“ [„Vergewisserungsfähigkeit“], der unbezweifelba­ren Existenz, der Verwechslungsunmöglichkeit sind also dem indexikalischen Subjekt­gebrauch des „ich“ und der spekulativ-begrifflichen Deutung des Ich gemeinsam.

Zurück zu den indexikalischen Äußerungen:

Das Problem der indexikalischen Äußerungen ist ihre Wahrheitsfähigkeit, ihr begriffli­cher bzw. nichtbegrifflicher Gehalt, ihr Sinn, ihre Aüßerungsbedeutung. Da diese Äu­ßerungen, in konkretem Situationen vollzogen, durchaus etwas behaupten, das wahr, falsch, unentscheidbar und dgl. ist, ergibt sich das Problem, welche Inhalte in diesen Äußerungen enthalten sind und welche nicht.

Worauf ich mich de facto beziehe, wenn ich „hier und jetzt“ sage, muss ich gar nicht wirklich wissen. [Es reicht schon aus, wenn ich „hier“ räumlich, „jetzt“ zeitlich ver­wende; - es kommen noch einige ‚übertragene’ Verwendungsweisen hinzu.] Dennoch kann ich mit entsprechenden Äußerungen etwas sagen [denken], was wahr, falsch oder unentscheidbar ist; - also obwohl ich gar nicht explizit begrifflich weiß, worauf ich mich wirklich beziehe.

Zudem muss ich mich gar nicht äußern und kann etwas lediglich denken, was wahr, falsch oder unentscheidbar ist. Daraus kann man z.B. ersehen, dass das Wort „ich“ nicht synonym ist mit dem oft gleichermaßen zutreffenden Ausdruck „derjenige, der spricht“. Denn „ich spreche nicht“ ist ohne Widerspruch denkbar und manchmal sogar wahr. Bei der Substitution von ‚ich’ durch das angebliche Synonym käme ja heraus: „derje­nige, der spricht, spricht nicht.“

Weitere verwickelte Fragen sind z.B., inwiefern ich mich irrtümlich auf meine Situa­tion hier und jetzt beziehen kann. Dergestalt, dass ich z. B. glaube, dass hier und jetzt ein Hund bellt, wobei dann auch tatsächlich ein Hund bellt, aber eben nicht hier und nicht jetzt. Dass das sehr seltsame Fragestellungen sind, ist mir klar. Sie ergeben sich allerdings aus der gar nicht unplausiblen Auffassung, dass behauptete Äußerungsinhalte und Gedankeninhalte es sind, die man erst einmal erfassen muss, um in einem zweiten Schritt die Frage ihrer Wahrheit aufwerfen zu können.

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2005/2010/2013