13. Unhintergehbarkeit des Denkens und der Sprache
Wittgenstein
weist uns im zwanzigsten Jahrhundert hin auf die Unhintergehbarkeit der
Sprache. Die Unhintergehbarkeit der Sprache, ihre Unerlässlichkeit, besteht
hinsichtlich aller Angelegenheiten des Für-wahr-haltens
und des denkenden Erwägens. Sprache ist mehr als eines von vielleicht
verschiedenen alternativen Mitteln der Gedankengestaltung, des
Gedankenausdrucks und der Mitteilung. Es gibt kein Denken völlig außerhalb
allen Sprachbezugs. Dies gilt, obwohl es uns nicht gelingt, für manche unserer
Gedanken die treffenden Worte zu finden. Beispiele für klare, zumindest
hinreichend präzisierbare Gedankeninhalte unabhängig von ihrer sprachlichen
Formulierung gibt es im Grunde genommen aber nicht.
Andererseits ist
sicherlich wahr, dass sich unsere Worte oft genug zu oberflächlichen und
leichtfertigen Redewendungen gruppieren, die keiner klärenden Nachfrage
standhalten. Vieles wird gedankenlos daher gesprochen, was bedeutet, dass man
andere, mehr sachdienliche Fragen stellen und anders, nämlich angemessener
reden würde, wenn man denken würde. Es bedeutet aber nicht, dass man völlig
unabhängig von der Sprache irgendwelche Gedanken fassen könnte.
Wort und
Redewendungen sind ein wohlfeiles Ungefähr, aber sie sind ein unerlässliches
Medium des Denkens. Man kann sich im Endeffekt nur um bessere Worte [präzisiere
Begriffe usw.] bemühen, wenn einem eine Formulierung unzutreffend, oberflächlich
oder leichtfertig erscheint.
Hinzu kommt die
Tatsache, dass die Mitteilung wahrer oder berechtigter Gedanken nicht der
alleinige Zweck sprachlicher Verlautbarung darstellt. Verschiedene Zwecke der
Sprachverwendung können sich wechselseitig beeinträchtigen. Affektive, emotive, motivierende und sachliche Qualitäten unserer
Verlautbarungen geraten auffallend oft in Widerstreit miteinander. Und wiederum
ein anderer Aspekt: die sprachliche Handlung z. B. des Versprechen- gebens ist nicht allein als Informationsaustausch und
Wahrheitsverlautbarung aufzufassen. Austin und Searle
haben in ihrer Sprachhandlungstheorie [performatory utterances] „Bedingungen korrekten Versprechens“
thematisiert und andere Beispiele für Sprachhandlungen gegeben.
Talleyrand sagt in erfrischend
ironischem Zynismus: „L’homme a recu
la parole pour cacher sa pensée“ und „Unklarheit in den
Staatsverträgen ist eine hohe Kunst.“ – In diesen Fällen erzeugen wir schwer
verständliche bzw. missverständliche Sprachgebilde mit dem Folgebedürfnis einer
ganz besonderen Verständniskunst, die aber ebenfalls an sprachliche
Ausdrucksweisen gebunden bleibt. Sprache wird mit
Mitteln der Sprache verstanden, anders geht es nicht. Prinzipielle sprachliche
Verständigungsmöglichkeiten bedeuten nicht, dass es nicht in vielen Fällen
wegen schwer vereinbaren Interessen zu unüberwindlichem Unverständnis kommen
könnte.
Augustinus und
Descartes entdecken durch ihren radikaleren Ansatz [des in prüfendem Erwägen sich
selbst bewusst werdenden Geistes] die Unhintergehbarkeit des Denkens: selbst im
Traum oder im Zweifel an der Zuverlässigkeit meiner Sinne bin ich befähigt, zur
Gewissheit der Existenz meiner selbst als denkendem Subjekt zu gelangen, nicht
aber zur Gewissheit, dass ich ein sprechendes Lebewesen und eine körperliche
Person bin. Aber vielleicht bedingt die enorme Radikalität dieses Ansatzes auch
eine erhöhte Anfälligkeit für Kritik: faktisch reden und schreiben wir ja doch,
und im übrigen kann man das Subjektbewusstsein nicht
ohne Beimengung von irgendwelchen anderen Bewusstseinsinhalten [„allein und für
sich selbst“] haben. Wir sind uns sicherlich auch irgendwelcher Wortbedeutungen
bewusst, wenn auch nicht im Verhältnis zur Unmöglichkeit des Gegenteils. Im
Verhältnis zur Unmöglichkeit des Gegenteils vermögen wir uns lediglich der
Existenz des nicht-empirischen Subjekts bewusst zu sein. Die Behauptung von
Wortbedeutungen und der Sprachlichkeit des Denkens geht über dieses
Subjektbewusstsein deutlich hinaus.
Mit „körperliche
Person“ meine ich die Person im Sinne der Wendung „Verstoß gegen die Person“,
eine Person aus Fleisch und Blut, die eine Biographie in der Wirklichkeit hat,
d. i. eine Spur in der Welt hinterlässt. Die körperlich berührbare Person ist
eine empirische Entität, ihre Existenz ein empirisches Faktum und nicht mit dem
unbezweifelbar existierenden Ich der cartesianischen Meditation gleichzusetzen.
Die
Unhintergehbarkeit der Sprache legt uns eine gewisse Art von Logozentrismus nahe. Wir können nichts für wirklich halten,
oder für tatsächlich gegeben, ohne eine entsprechende sprachliche Formulierung
für wahr und berechtigt zu halten. Andererseits nutzen wir zugegebener Maßen sprachliche Formulierungen dazu, durchaus nahe
liegende Aspekte der Wirklichkeit zu überspielen und aus dem Bewusstsein
auszublenden. Die Wirklichkeit zur Sprache zu bringen ist eine Frage ihrer
sprachlichen Meisterung. Diese gelingt, wenn auch vielleicht niemals in
endgültiger Weise, vermittelst
angemessener Sprechweisen in entsprechenden Situationen und manchmal auch, fast
paradoxer Weise, vermittelst Schweigens an der richtigen Stelle.
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