Erkenntnistheoretischer Materialismus

 

„Materiell“ nenne ich alles in Raum und Zeit Vorfindliche und Gegebene, das „Bewegliche im Raum“. Masse, Strahlung und physikalische Energie sind demnach materiell. Materiell ist der Gegenstand empirisch-objektiver Erkenntnisse, also der gegenständliche Bezug empirisch objektiver Aussagen, die Erkenntnisgültigkeit besitzen. – Physikalisch feststellbare Strahlung zählt nach dieser Sprechweise unter die Phänomene der materiellen Wirklichkeit Vielleicht sollte man sagen: „Strahlung ist ein Phänomen  der physikalischen Wirklichkeit, ebenso wie das Dasein massebehafteter Partikel.“ Die innerphysikalische Kontraposition von Masse und Strahlung fällt also unter die gemeinsame Eigenschaft „materiell“. – Statt von materieller Wirklichkeit spreche ich bisweilen auch von körperlicher Wirklichkeit, woran man vielleicht Anstoß nimmt. Auch Elektromagnetismus wäre demnach ein Phänomen der körperlichen Wirklichkeit. Wer daran Anstoß nimmt, kann das Wort „körperlich“ durch „physisch“ oder „physikalisch“ ersetzen.

 

„Immateriell“ wären demnach lediglich Entitäten, deren Kenntnis und Erkenntnis nicht auf der Wahrnehmung äußerer Geschehnisse beruht: arithmetische und geometrische Sachverhalte könnten das z. B. sein, auch die Geltung logischer Sätze wie z. B. des Satzes der Identität. – Und eben: das empirisch-subjektiv Gegebene [der ersten Person Singular].

 

Im Falle der subjektiven Evidenz des originär subjektiven plädiere ich für eine eigene Evidenz-Sphäre [Sphäre der Erkenntnisart], deren Reduktion und Erklärung und Erklärbarkeit aufgrund empirisch objektivierbarer Aussagen ich einfach nicht behaupten möchte. Jeder Art von nicht-empirischer-Erkenntnis entspricht ein Modus seiner Gültigkeit, z. B. arithmetisch, logisch. Im Falle der empirischen Gültigkeit von Aussagen haben wir die Unterscheidung der Evidenzmodi: „subjektiv“ und „objektiv“.

 

Der Inhalt eines bloß subjektiven Bewusstsein, das Evidente einer bloß subjektiven Evidenz stellt eine fast paradoxe Art von Gültigkeit dar: die nicht-objektive Gültigkeit [eines Aussageinhalts], die subjektive Gegebenheit [nur für mich].  Das ist im Grunde genommen der Modus eines in seiner Gültigkeit unentschieden [in Schwebe] gehaltenen Aussageinhaltes. Subjektive Bewusstseinsinhalte sind nicht mit objektivem Wahrheitsanspruch verbunden und stellen insofern depotenzierte Aussageinhalte dar.

 

Allgemein gilt:

 

Die Behauptung der Existenz eines Sachverhalts ist logisch äquivalent mit der Wahrheit einer Aussage, deren Inhalt in der Behauptung genau dieses Sachverhalts besteht.

 

Im Besonderen gilt:

 

Die Existenz eines materiellen Sachverhalts ist logisch äquivalent mit der Erkenntnisgültigkeit [Wahrheit] einer empirisch-objektiven Aussage.

 

Die Existenz eines arithmetischen Sachverhalts [z.B. dass 7 + 5 = 12] ist logisch äquivalent mit der Gültigkeit einer arithmetischen Aussage.

 

Die Existenz eines logischen Sachverhalts [z.B. dass alle Pflanzen Pflanzen sind] ist logisch äquivalent mit der Gültigkeit einer tautologischen Aussage.

 

Die subjektive Existenz einer Empfindung ist logisch äquivalent mit der subjektiven Gültigkeit einer empirisch-subjektiven Aussage.

 

Erkenntnistheoretischer Materialismus besteht in der These, daß alles, was es gibt, und alles, was geschieht, letztlich auf materiell Wirkliches zurückführbar ist. Die­ser Standpunkt beinhaltet im Grunde genommen ein Forschungsvorhaben: Alles soll "erklärt" werden durch Rekurs auf materiell Wirkliches, alles soll letztlich zu­rückgeführt werden auf materiell Wirkliches. Die These des Materialismus besteht nun in der entsprechenden Erklärbarkeits- bzw. Reduzierbarkeitsbehauptung: letzt­lich sei alles, was ist, nichts anderes als das Dasein eines physisch Wirklichen in der raum-zeitlich ausgebreiteten Welt. (Raum und Zeit sind demnach empirisch erkennbare Daseinsformen des Materiellen.) Der Standpunkt kann auch als Physi­kalismus bezeichnet werden, denn das materiell Wirkliche und das physisch (kör­perlich) Wirkliche ist dasselbe. Physik (in einer allgemeinen Wortbedeutung) wäre die entsprechende Wissenschaft von der materiellen, körperlichen Wirklich­keit, die uns umgibt. Die physische Wirklichkeit ist äußere Wirklichkeit. Auch die Wirklichkeit im Innern unseres Körpers muß zu dieser räumlich ausgebreiteten Wirklichkeit gerechnet werden. Es ist ein komparatives Innen bezüglich einer räumlichen Grenze, die durch unsere Haut gebildet wird.

 

Der materialistische Standpunkt klingt zunächst sehr vernünftig. Oft wurde be­hauptet, erkenntnistheoretischer Materialismus sei schon immer die Grundüberzeu­gung unvoreingenommener Naturforscher gewesen. Vielleicht ist dies wahr. Es liegt uns allen sehr nahe, nur physisch Wirkliches als effektiv Wirkliches anzuse­hen. Handgreiflich Wirkliches erscheint uns bisweilen als das Muster des wirklich Existierenden. Erst später bemerken wir, daß wir sehr viel von abstrakten Sach­verhalten sprechen: z.B. von logischen Gesetzen, von Zahlen und dgl.. Die Zahl 2 z.B. ist kein körperliches Ding, sondern Isomorphieeigenschaft von Paarklassen aller Art: Menge der Marsmonde, Menge der Dioskuren und aller anderen Zwil­linge, Eigenschaft aller Mengen von Dingen, die genau zwei Elemente besitzen. Bei diesen abstrakten Entitäten und entsprechenden Aussagen bezüglich dieser Abstrakta wird die Frage ernst, ob wir letztlich wirklich immer nur von physisch Realem und dem darauf Zurückführbaren reden. - Auch die Existenz ausdeh­nungsloser Raum-Zeit-Punkte, idealer Kreise und ganz besonders logischer Ge­setze korrekter Argumentation ist heikel; .- aber wir reden davon.

 

In der Frage des subjektiven Bewusstseins wird der erkenntnistheoretische Materi­alist behaupten, daß auch die Subjektivität des Bewusstseins eine Daseinsform des materiell Wirklichen darstellt. Die Befähigung zu subjektivem Bewusstsein könnte z.B. ein Produkt der Evolution sein. - Der Mensch mit seinem Bewusstsein wurde in natürlicher Evolution erzeugt und erkennt nach und nach die Zusammenhänge in der ihn umgebenden Wirklichkeit. Das könnte eine Antwort sein auf die Frage Goethes: "Ob nicht Natur zuletzt sich selbst ergründe?"

 

Es gibt nun einen Punkt, wo die Erklärbarkeits- und Reduzierbarkeitsbehauptung mit Sicherheit scheitert: Die Eigenschaft "unmittelbares Gegebenseins". [Erklä­rungslückenargu­ment] Wir sind uns des Subjektiven [teilweise] unmittelbar bewusst. Unmit­telbar heißt: unbezweifelbar für mich selbst, in spezifischer Weise unbestreitbar für andere, weil nichts Objektives darstellend oder behauptend: Das Subjektive geschieht [teil­weise] derart in uns, "daß wir uns seiner unmittelbar bewusst sind." Das Subjektive steht in Gegen­satz zum nicht zweifelsfrei, sondern eher hypothe­tisch Erkennbaren der physi­schen Realität. Insofern kann uns das Subjektive durch eine materialisti­sche Er­klärung „nicht näher gebracht werden“. Diese "Erklä­rung" würde es zu etwas ma­chen, das nicht unmittelbar bewusst ist, d.i. zu etwas Objektivem, bzw. zu einer Eigenschaft höherer Ordnung des objektiv Gegebenen. Notwendiges und hinrei­chendes "Kriterium" subjektiver Gegebenheit ist aber: ein [subjektiver] Inhalt subjektiven Dafürhaltens selbst im Unterschied zu allen objektivierbaren Sach­verhalten. Jedenfalls im Falle der ersten Person, die sich einer Urteilsenthaltung bewusst wird.

 

In der Logik stehen wir vor dem Problem, daß wir logische Notwendigkeit nicht auf Erfahrung und Experiment gründen können. Wir müssen vielmehr logische Regeln der Erkenntnis voraussetzen, um Erfahrung zu vollziehen.

 

In der Mathematik stehen wir vor dem Problem, daß wir die Evidenz mathemati­scher Sachverhalte nicht auf Erfahrung und Experiment gründen können. Wieder ist es der mehr oder weniger hypothetische Charakter des Erfahrungswissens, der uns vor einem materialistischen Empirismus des Mathematik zurückschrecken läßt. - Aus einem Bimssteins ("ex pumice aquam") werdet ihr kein Wasser pres­sen, lehrte Kant.

 

Ganz ähnlich nun steht es in der Frage der Subjektivität. Hier ist es ein subjektiv assertorisches Gegebensein, eine spezifische Art der Unbestreitbarkeit, oft als „Unmittelbarkeit des Gegebenseins“ bezeichnet, die sich der Reduk­tion widersetzt. Es gibt für das Subjektive zwar keinerlei logische oder mathe­matische Evidenz, sondern lediglich die assertorische Evidenz der inneren Wahr­nehmung. Diese Art von Evidenz aber gibt es nicht für die Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit. Insofern würde uns eine Erklärung des Subjektiven aus physischen Ursachen dessen Unmittelbarkeit (des Gegebenseins) nicht näherbringen. Es gibt ja nichts, was uns ebenso unmittelbar gegeben ist.

 

Das alles schließt natürlich nicht aus, an einer naturwissenschaftlichen Theorie des Bewusstseins zu arbeiten. Th. Metzinger formuliert z.B.:

 

"Wir sind natürlich entstandene Informatonsverarbeitungssysteme, die durch eine Millionen von Jahren dauernde Evolution konfiguriert und optimiert wurden."

 

Einen solchen Satz akzeptiere ich. Aber er stellt keine Erklärung, sondern eine Erklärbarkeitsbehauptung dar. Und zwar: Notum per ignotum.

 

Es sollte uns klar sein, daß wir hiermit aus dem Begriff "Bewusstsein" den Begriff einer objektivierbaren Fähigkeit (von Organismen) gemacht haben, von der wir hypothetischer Weise annehmen, sie sei objektives Korrelat bzw. materielle Basis unserer subjektiven Bewusstseins. Das wird Descartes Ansatz natürlich nicht ge­recht.

 

Die subjektive Präsenz unmittelbarer Bewusstseinsinhalte entdeckt die erste Per­son Singularis jeweils "in" ("an") sich selbst, wenn sie die cartesianische Refle­xion auf die Unbezweifelbarkeit gegebener Bewusstseinsinhalte vollzieht.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2013