12. Warum ein immaterielles Wesen?

 

Geist, inneres Subjekt des Denkens, res cogitans, denkendes Wesen usw. ist dasselbe. Entschließe ich (der empirische Sprecher) mich zu den Überlegungen der cartesianischen Meditation (indem ich mir die Frage nach einem [für mich] prinzipiell unbezweifelbaren Sachverhalt vorlege), so vermag ich (der empirische Sprecher) zu erkennen: „ein (das) nicht-empirische(s) Subjekt existiert.“

Wir werden die Auffassung erwägen, ob es nicht besser wäre zu sagen: „In der cartesianischen Meditation wird sich ein (das) nicht-empirische(s) Subjekt seiner selbst bewusst, d.h. es erkennt im Vollzug der Meditation (des empirischen Sprechers) seine (des nichtempirischen Subjekts) Existenz.“

Es ist das denkende Wesen und nicht der körperliche Mensch, das (der) sich derart seiner Existenz bewusst ist, schreibt Descartes. Bewusstsein des Denkens heißt [im Grunde genommen]: Denken des Denkens. Es ist nicht die körperliche Person und nicht der sprechende Mensch, dessen Existenz wir in der cartesianischen Meditation [be]denken (können), sondern ein nicht-empirisches Subjekt des Bewusstseins. Das für mich unbezweifelbar [gewissheitsfähig] Existierende ist [sonderbarer Weise] ein unkörperliches Wesen, ein reiner Geist. [Nicht nur feinstofflich, sondern völlig immateriell. – [Erneute Erinnerung: Warum Kant ein Paralogismenkapitel schreibt, steht auf einem anderen Blatt.]

Stichwort "Denken des Denkens", bzw. „Bewusstsein des Denkens“: Wie wäre es, wenn Hans nur über äußere Gegenstände [und Ereignisfolgen] nachzudenken vermöchte, nicht aber über sein Denken selbst? Wir sollten uns im Falle der Zweifelsbetrachtungen des Augustinus und des Descartes klar machen, dass es ohne Aussagen über Aussagen keine Qualifikation irgendwelcher Aussagen als bezweifelbar, unbezweifelbar, empirisch, nicht-empirisch u. dgl. gibt. Dergleichen Prädikate gelten auf einer Metaebene. Wir erwägen denkend, ob etwas so und so sei und fragen nach der Art seiner Gewissheit: „könnte es zumindest der bloßen Denkbarkeit gemäß anders sein?“ Oder muss es aus Gründen der Denkbarkeit so sein, wie es ist? Selbst um Bezweifelbares eventuell fälschlicher Weise für wahr zu halten, muss ich [als ein Etwas, das denkt] existieren, meinen die beiden. Das ist eine Aussage über die Möglichkeit des Denkens überhaupt, die selbst ein Inhalt des Denken ist bzw. sein kann. Denken des Denkens überhaupt ist selbst Denken. Diese Zweifelsmethode ist die große Entdeckung der beiden, denn wir besitzen damit ein Verfahren, etwas herauszustellen, was auf die Weise einer unumgänglich anzusetzenden Voraussetzung angenommen wird.

Wieso können wir sagen: das Bewusstsein ist ein immaterielles Phänomen, obwohl wir nicht wissen, was Materie ist? – Antwort: Wir nehmen an, dass wir über die materielle Wirklichkeit zumindest eines sagen können: materiell ist das raum-zeitlich Wirkliche, das den Bezug unserer empirisch-objektiven Erkenntnis abgibt. [Kant: „das Bewegliche im Raum“] Nun glauben wir nach den Erfolgen der modernen Physik nicht mehr z. B. an die Festigkeit des Materiellen als dessen fundamentale und irreduzible Eigenschaft, sondern wir nehmen an, dass es elektromagnetische Kräfte sind, welche die Festigkeit des Bodens gewährleisten, so dass wir nicht in ihn versinken. Das bedeutet, wir erklären die alltagsbekannte Festigkeit, Undurchdringlichkeit etc. als Folge physikalisch-theoretischer Gesetzmäßigkeit, nämlich Elektromagnetismus. Aber sind denn nicht die Teilchen, die durch Kräfte auf Abstand gehalten werden, Teilchen mit der Eigenschaft ‚Festigkeit’? 

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„Es sieht allmählich so aus, als ob die Materie wie die Cheshire Katze allmählich durchscheinend wird, bis von ihr nichts übrig bleibt als ein Lächeln, das offenbar von der Belustigung über diejenigen kommt, die immer noch glauben, dass sie da ist.“ [B. Russell, Mind and Matter, 1956]

 

Wir müssen nicht wissen, was Materie  letztendlich ist, um die immaterielle Natur des Denkens in’s Spiel zu bringen. Im Kontext der cartesianischen Meditation eröffnet sich ein anderer Weg zu diesem Ziel. Wir gehen lediglich davon aus, dass die materielle Wirklichkeit den Angelpunkt empirisch-objektiven Denkens darstellt. Nun aber setzen wir alles in Parenthese, was wir über Raum, Zeit und Materie zu wissen glauben. Was wissen wir denn wirklich über all diese Dinge? Möglicherweise gar nichts. Wir üben Urteilsenthaltung bezüglich der äußeren Wirklichkeit und vergegenwärtigen uns lediglich das subjektive Bewusstsein von Denkinhalten ohne behauptende Kraft.

„Mir scheint, dass ...“ ist z. B. die Formel einer solchen Subjektivitätsbekundung ohne behauptende Kraft. Die Subjektivitätskundgabe vor anderen mag für diese anderen ein objektives Faktum darstellen, das Subjektivitätsbewusstsein für mich selbst aber in der Reflexion stellt keine Behauptung [von etwas objektiv Gegebenem] dar und hat doch einen Inhalt. Mit dieser Art von wahrnehmungsvermeinendem möglicherweise aber auch halluzinierenden Bewusstsein haben wir die Sphäre des Subjektiven entdeckt.

 

Urteilsenthaltung und Bewusstsein der Urteilsenthaltung [sowie der entsprechenden Fähigkeit hierzu] vernichten keineswegs jeglichen Inhalt des Denkens. 

Wegen der Urteilsenthaltung wird der Gedankeninhalt, der ohne behauptende Kraft vorhanden ist, als lediglich „subjektiv vorhanden“ qualifiziert.  Motto ist: „Hier geht es um nichts Objektives, aber auch nicht um nichts.“ Insofern sind wir bei dem Bewusstsein von subjektiver Gegebenheit angelangt, das nichts objektiv Gegebenes beinhaltet. Bewusstseinsinhalte während der cartesianischen Meditation sind somit immaterieller Art, auch wenn es sich um Aussageinhalte handelt, die äußeren Ereignisse betreffen würden, wenn sie als objektive Wahrheit behauptet würden. Der Entzug der behaupteten Kraft bezüglich unserer Meinungen und das explizite Bewusstsein dieses Entzugs im Zweifelsexperiment entdeckt uns diese Sphäre von immaterieller Subjektivität.  Das ist das Grundmotiv des cartesianischen Dualismus von subjektiven und objektiven Gegebenheiten.

Mein subjektives Bewusstsein, dass die Sonne scheint, ist also nach D.s Rezeptur als Gedanke von etwas lediglich [‚immerhin’] subjektiv Gedachtem zu qualifizieren. Die Behauptung der scheinenden Sonne im Wahrheitsfall ist demnach Denken von etwas Äußerem: Das lediglich [immerhin] subjektive Bewusstsein der scheinenden Sonne mit probeweisem Zurückhalten der Behauptung [das Dahingestellt- sein- lassen der Wahrheit des Aussageinhalts] ist dagegen subjektives Bewusstsein von etwas unräumlich Innerem, Immateriellen. Diese Betrachtungsweise führt leicht zu Verwirrungen, wenn man die Zweifelsrichtlinie aus dem Auge verliert.

Ich vermute, dass wir bei der Dichotomie des Denkens in [wahres, falsches, ev. unentscheidbares] Denken des Äußeren und Denken des immateriell Inneren [problematisierte oder ‚depotenzierte’ Aussageinhalte] nicht stehen bleiben können, sondern das Bewusstsein von Denkbarkeit ebenfalls als eine sonderbar eigene Sphäre hinzu nehmen sollten.

Jeder Augenblick der verströmt, ist unwiederbringlich dahin, aber ich vermag wiederholt dasselbe zu denken. Das denkende Ich ist eine solche Denkbarkeit, also folgendes sonderbare Wesen:

 

 Dasjenige im denkenden Bewusstsein, wovon man, wenn man denkt, nicht abstrahieren kann [letzte Grenze der Abstraktion], Kantisch: „wenn ich von allem Inhalt des Denkens abstrahiere“, oder „dessen Nicht-existenz ich nicht denken kann“ [der „Selbstsetzungsaspekt“ Fichtes], das unverwechselbare Subjekt [qua Inhaltslosigkeit und daraus folgender Ununterscheidbarkeit von etwas anderem, das seinesgleichen sein könnte].

 

Diese sonderbare Entität [das nicht-empirische Subjekt] muss ex negativo [in limitativ-begrenzender Denkfigur] nicht nur als nicht-raumartig, sondern auch als nicht-zeitartig bestimmt werden. Denn was weiß ich unter der Bedingung des methodischen Zweifels über Raum und Zeit? Die Inhalte meines Subjektivitätsbewusstsein mögen in zeitlicher Reihenfolge verströmen, aber die Existenzaussage bezüglich des denkenden Subjekts abstrahiert auch von diesen Inhalten und rechnet sie einem denkbaren Subjekt zu, das in all diesen Inhalten ‚lediglich’ [‚immerhin’] implizit enthalten ist.

Dieses sehr sonderbare, denkbare Etwas ist sozusagen reine Denkbarkeit [Denkfähigkeit] in Reinkultur, das Subjekt selbst, ohne Identifikation reidentifizierbar [qua Ununterscheidbarkeit von etwas anderem Gleichartigem] usw. und in der cartesianischen Meditation wiederholt bewusst zu machen.

[„Form des Bewusstseins“, „das logische Ich“ ist bei Kant „Vehikel aller Begriffe“ und, so sei hinzugefügt auch aller „Begriffsverbindungen“. Begriffe selbst sind [im Prinzip] analysierbare Denkinhalte, explizierbare Klassifikatitionskriterien mengenbildender Art, also Aussagefunktionen. Das Thema „analytische Urteile“ ist außerordentlich umfassend und wird hier nur angeschnitten. Im gegenwärtigen Zusammenhang erscheint mir in der Hauptsache der Gesichtspunkt von Interesse, dass alle Denkbarkeiten wiederholt manifestierbare Inhalte des unwiederbringlich dahinströmenden Subjektivitätsbewusstseins darstellen. Konkrete Subjektivität ist demnach ein Medium der Manifestation von Abstraktem und besitzt insofern eine Prägbarkeit [Gestaltbarkeit] durch Auffassung von Denkbarkeiten.   

Bei D. wird der Unterschied von [wiederholbarer] Denkbarkeit und [unwiederbringlichem] Denken m. E. vernachlässigt. Der Unterschied von Denken und Denkbarkeit bleibt bei D. innerhalb von ‚subjektiv’. In der Hauptsache spielt bei ihm also lediglich der Unterschied von subjektiv Gedachtem und objektiv Gegebenem eine Rolle.