11. Brücke zu mystischen, esoterischen und paradoxen Formulierungen

 

 

Letztes Subjekt des Denkens ist der nichtempirische Träger geistiger Gedankentätigkeit, welche sich in einer Folge verschiedener Gedanken vollzieht. Dieses Subjekt ist  gleich­falls Träger des Bewusstseinsstroms, also einer Folge von immer wieder anderen Be­wusstseinszuständen. Die Gedanken haben gegenüber konkreten psychischen Bewusst­seinszuständen das besondere Merkmal, dass sie als mehr oder weniger identische Ausssageinhalte darstellen. Sie können in unterschiedlichen Konstellationen, also von Zeit zu Zeit erneut in den Bewusstseinsstrom eintreten. Man kann also von der Mani­festation [mehr oder weniger] abstrakter, sachbezogener Gedanken im Medium des subjektiven Bewusstseins sprechen. Der subjektive Bewusstseinsstrom selbst stellt ei­nen Fluss ohne wirkliche Wiederkehr dar. Nur Ähnliches, vielleicht sogar Typisches, kehrt wieder.

 

Der eigentliche, unkörperliche Träger aller gedanklichen und psychischen Zustände ist völlig ohne gedanklichen und psychischen Inhalt und insofern „für sich selbst“ gedank­lich nicht zu kennzeichnen, eben reiner Eigenschaftsträger ohne jegliche Eigenschaft.

 

Von einem Subjekt des Denkens zu sprechen, kann Bedenken erregen. Denn was für ein Etwas, welche Art von Entität haben wir hier im Spiel? Die Möglichkeit des Denkens bezüglich aller Art von Denkbarkeiten, eine reine Potentialität. Die reine Denkbarkeit des Denkens überhaupt. Das ist „etwas“, das kein richtiges Etwas ist. Dadurch, dass wir dieses reine „Denkbar, dass“ zum Thema unseres Nachdenkens machen und darüber sprechen, wird es uns zum Gegenstand. Was wir dabei vergegenständlichen zu einem Gegenstand besonderer Art, ist aber lediglich [bzw. immerhin] der allgemeine Modus unseres Denkens überhaupt, die reine Denkbarkeit von Denkbarkeiten. Wenn man von der Existenz des denkenden Subjekts spricht, dann spricht man weder von etwas objek­tiv Gegebenem noch von etwas subjektiv Gegebenem. Man spricht vielmehr vom Mo­dus der Denkbarkeit bezüglich alle dem. Wenn ich sage: „Die Existenz des denkenden Subjekts kann nicht verneint werden“, so heißt das, dass das Denken von Denkbarkeiten den Modus von Denkbarkeit überhaupt nicht mit denkbarer Gültigkeit negieren kann. Die Möglichkeit des Denkens überhaupt ist „absolute“ Unhintergehbarkeit.

 

Man kann in folgender Art argumentieren: Dem absoluten Subjekt eignet das Merkmal der völligen Merkmalslosigkeit. Als Grenzfall der Abstraktion wäre dieses unbezwei­felbare und doch auch irgendwie rätselhafte Etwas ein (das) Subjekt mit der Eigen­schaft völliger Eigenschaftslosigkeit, ein Etwas, das eigentlich kein Etwas ist. Seine Existenz ist demgemäß ein Sachverhalt der besonderen Art: ein Sachverhalt, der ei­gentlich keiner ist. Es soll ja sein: das Nicht-hinweg-Denkbare, in Reinkultur, absolut unvermischt, und wirklich kein Stückchen mehr, die absolute Grenze der Abstraktion. Nicht nur ein Mann ohne Eigenschaften, sondern ein Etwas mit der Eigenschaft völliger Eigenschaftslosigkeit.

 

Man sieht hier erstens, dass sich für dieses "Phänomen" die Möglichkeit mystischer Formulierungen eröffnet und zweitens, dass die "Sache" zu Formulierungen von eigen­artiger Paradoxheit herausfordert.

 

Der Grund der paradoxen Formulierungen ist folgender: Wenn wir von allem Inhalt des Denkens, von allem, was wir behaupten und für wahr halten könnten, abstrahieren, dann denken wir immer noch etwas, dessen Existenz nicht nicht-gedacht werden kann: die Form des Denkens überhaupt, die absolute Voraussetzung möglichen Denkens.

An dieser Form habt ihr doch einen Inhalt und Gegenstand besonderer Art, werden uns Fichte, Schelling und Hegel sagen. Die Sache ist allerdings verwirrend, weil man viel­leicht denkt, Form könne niemals Inhalt sein. Die entscheidende Frage aber ist: "Form und Inhalt wovon?" - Die formale Beschaffenheit des Denkens kann in einer Betrach­tung "höherer" Art (die aber auch wiederum Denken ist) durchaus Thema, Inhalt und Gegenstand werden. Genau das geschieht in der Zweifelsmeditation: der Ausdruck 'Ich' steht für die bloße Denkbarkeit irgendwelcher gedanklicher Inhalte überhaupt.

Folgendes ist hervorzuheben: der Ausdruck 'ich' (im Subjektgebrauch) steht nicht nur für ein Subjekt subjektiver Selbstzuschreibungen (ohne Verwechslungsmöglichkeit), sondern auch für ein Subjekt des Denkens des Denkbaren überhaupt. Es mag unbe­scheiden klingen, aber wir sind uns ganz einfach des Vermögens (der Fähigkeit) eines allumfassenden Denkens bewusst geworden. Mit der Existenz des denkenden Ich ist festgestellt worden: die Grenze zwischen dem, was prinzipiell möglich ist (im Sinne bloßer Denkbarkeit) und dem, was ganz unmöglich ist.

 

Das reine Ich selbst: das Nicht-nicht-sein-könnende: sein Nicht-sein (respektiv denkba­rer Gültigkeit einer denkenden Erwägung) ist nicht möglich. - Das Kontingente, z.B. das Empirische dagegen: - seine Existenz alsauch Nichtexistenz ist möglich (im Sinne blo­ßer Denkbarkeit). Trotz aller Entgegensetzung gegenüber dem prinzipiell Notwendigen kann das kontingente Faktum das Gesetz der 'logischen' Notwendigkeit nicht aufheben. - Was dieser Notwendigkeit nicht widerspricht, dessen Nicht-sein ihr aber auch nicht widerspricht, das kann gedacht werden im Sinne bloßer Denkbarkeit. - Was zusammen bestehen kann mit der Möglichkeit des Gedacht-werdens [vonseiten des absoluten Subjekts], das ist ein möglicher Inhalt des Denkens. Davon gibt es verschiedene Arten: Begriffe, Begriffsverbindungen (Urteile), Syllogismen: alles "Phänomene" der [postu­lierten] Einheit des Denkens.]

 

[Das Subjekt im Traume vermag der garantierten Existenz seiner selbst bewusst zu sein, aber insofern es in einer Art subjektiver Zeitfolge dann doch Widersprüchliches denkt, vermag es im Traum nicht einmal eine konsistente Geschichte zu fingieren. Aber ist die Konsistenz unserer Geschichten nicht auch im Zustand der Wachheit letztlich nicht nur unendliche Aufgabe, die faktisch niemals in vollkommener Weise gelöst wurde? Die Einheit des Denkens ist lediglich als Aufgabe eine allumfassende Voraussetzung unse­res Denkens.]

 

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