6. Grenze der Abstraktion

 

Ein Loch ist dort, wo nichts ist, sagt der Spötter. Das Ich selbst bleibt, wenn ich von allem Inhalt meines Denkens abstrahiere. Das Wissen um die Existenz des reinen Subjekts bleibt, wenn wir alle Behauptungen, die im entferntesten Sinn bezweifelbar sind, beiseite stellen. Wir entdecken dann die Unhintergehbarkeit des Denkens (selbst im Traum!), sein Nicht-nicht-sein-können, gleichgültig, was ansonsten noch als gültige Wahrheit oder Scheinbarkeit in Betracht kommen könnte. (Die Exis­tenz des so verstandenen ("inhaltsleeren") Ich ist Bedingung "der Möglichkeit" des Denkens, oder "Bedingung des Denkens überhaupt", "Form des Bewusstseins": das ist Kantische Terminologie.)

Als Ergebnis der D.schen Meditation wird oft genannt: "cogito ergo sum". Ich möchte nicht be­haupten, dass diese Auskunft falsch sei, aber sie verfehlt den springenden Punkt. Das Wesentliche ist die Auszeichnung des "ich denke, ich existiere" als ausgezeichneter und einziger Gegenstand einer ganz spezifischen Gewissheit. Ein unbefangener Hörer der Philosophie mag denken: „der Tat­sache meiner eigenen Existenz bin ich mir ganz ohne Kopfzerbrechen bewusst“, während Descartes das fast aberwitzige Szenario seiner Zweifelsmethode entwirft, um die Wahrheit des unscheinba­ren Aussageinhalts "ich existiere" zu erkennen. - Descartes Ergebnis ist nicht allein die Aussage „Ich existiere“, sondern auch die ganz besondere Qualität dieses Aussageinhaltes. Die Gültigkeit dieses ganz besonderen Aussageinhalts steht im Verhältnis zur Undenkbarkeit des Gegenteils. Die Gültigkeit dieser speziellen Aussage ist in einzigartiger Weise unbezweifelbar.

Aufgrund der Zweifelsmethode ergibt sich zwanglos die unkörperliche 'Natur' des gedachten bzw. denkbaren Subjekts: es kann kein körperlicher Gegenstand sein, da 'körperliche' Gewissheiten aus der Betrachtung ausgesondert wurden. Der Ausdruck 'ich' wird damit mehrdeutig. 'Ich' kann eine körperliche Person mit einer Biographie in der Welt bezeichnen, 'ich' kann aber auch ein immateriel­les Subjekt rein denkbarer Art bezeichnen, auf das denkbare Inhalte bezogen werden. Das Subjekt der Subjektivitätszuschreibung [„dem Subjekt des Denkens werden wechselnde Gedankeninhalte zugeordnet bzw. zugeschrieben“] wird sich in der Meditation einer ganz besonderen Art von garantierter Existenz bewusst. Ob diese Art von Existenzgarantie ein Unsterblichkeitsbewusstsein (bezüglich wessen?) darstellt, ist eine weiterführende Frage. Sie führt uns in die Paralogismenkapitel von Kants 'Kritik der reinen Vernunft'.

 

Für Descartes gilt: Das eigentliche Beweisziel, das Descartes zu erreichen glaubt, ist nicht die Unsterblichkeit der Seele, sondern die Unterscheidung [distinctio] von geistiger und körperlicher Natur. [Meditationes, Synopsis]

 

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