Psychologica

 

Methodische Vorbemerkung und Reminiszenz an F. Nietzsche: Psychologisches  ist eher aphoristisch-fragmentarischer Darstellung als systematischer Behandlung fähig.

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Wir werden geboren und empfinden sogleich ein entsetzliches Missverhältnis zwischen dem, was wir haben, und dem, was wir brauchen.

Familienmitglieder, - im späteren Leben selbstverständlich auch die Arbeitskollegen, sind die natürlichen Feinde des Menschen. [Biblisch: „Und des Menschen Feinde wer­den seine eignen Hausgenossen sein.“ Matthäus 10, 36]

Erwünschte und wirklich stattfindende Lernprozesse unterscheiden sich weitgehend. Neben den erwünschten sind die stillschweigend in Kauf genommenen wirklich prä­gend.

Die „Schule“ des Lebens hat man nicht nur danach zu beurteilen, welche Lernprozesse in ihr befördert und ausgeführt werden, sondern auch danach, welche in ihr behindert und fehlgeleitet werden. Häufige Entwicklungen sind Fehlentwicklungen, das gilt für Schule und Leben generell. So überrascht es uns nicht, wie sehr man unsere Schulen als Stätten behinderter Lernprozesse und unser Leben als eine Folge von zu spät erkannten Irrtümern beschreiben kann.

Schulen sind weitgehend Stätten verhinderter Lernprozesse.

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Unsere Bedürfnisse sind leicht zu erregen und schwer zu befriedigen.

Die Vielfalt der Bedürfnisse macht das Leben kompliziert.

Vielfältig sind unsere Bedürfnisse, die Mittel, sie zu befriedigen, eng begrenzt. [Motiv der Ökonomie als eines Umgangs mit knappen Ressourcen.]

Begehrlichkeiten sind leicht erregt, der Versuch ihre Befriedigung führt aber oft vom Hundertsten in's Tausendste. [System der Bedürfnisse]

Unsere Bedürfnisse sind teilweise naturbedingt, teilweise zivilisationsbedingt, jeden­falls stark gesellschaftlich und kulturell „überformt“. Bedürfnisse sind fast allgemein leicht erregbar, aber ihre Befriedigung geschieht im Rahmen eines weitläufigen Sys­tems gesellschaftlicher Arbeitsteilung. [Hegel: das System der Bedürfnisse, Grundli­nien der Philosophie des Rechts, § 189 ff.]

 

Hegel meinte: „Nur etwa das Wasser kann man so trinken, wie man es vorfindet. Menschenschweiß und Menschenarbeit erwirbt dem Menschen die Mittel des Bedürfnisses.“ [§ 196] In der „Praxis“ bedeutet das: Um etwas tun zu können, was man gerne tun möchte, muss man erst einmal die Mittel dazu erwer­ben und deshalb etwas anderes tun, das man eigentlich gar nicht so sehr möchte, z. B. eine Arbeit ver­richten, die einem das Geld einbringt, um Produkte zu kaufen, die andere produziert haben, die man aber als Mittel der Bedürfnisbefriedigung benötigt. Um z. B. einen Festschmaus veranstalten zu können, be­darf es der verschiedensten Mittel des gehobenen Lebensbedarfs, einer gut eingerichteten Küche, Vorrä­ten an Wein, Geschirr, Gläser, einer geschmackvoll möblierten Wohnung usw. usw..

Hegel ahnte wohl nichts von Zeiten, in denen beträchtliche Teile der Weltbevölkerung nicht über einen Zugang zu sauberem Trinkwasser verfügen. Er selbst starb bemerkenswerter Weise 1831 infolge einer Choleraepidemie in Berlin. Der Erreger dieser Krankheit wird meist durch kontaminiertes Trinkwasser übertragen.

 

Zusatz: Die weitgehende Mittelbarkeit der Bedürfnisbefriedigung in unserer modernen, industriell produzierenden Lebensweise ist so groß geworden, dass der primäre Impuls des subjektiven Bedürfnisses u. U. auf der Strecke bleibt. Wir erleben oft die Verlegen­heit eines quid pro quo. Wenn der Festschmaus endlich bereitet ist, finden die Teilneh­mer u. U. keinen Gefallen mehr daran. – In der Warenproduktion erleben wir die Ent­stehung von unabsetzbaren Warenmengen, wodurch geplante Vermarktungs- und Ver­wertungszusammenhänge zerrissen werden.

 

Bedürfnisse, Erwartungen und Ansprüche entstehen in rascher Folge je nach den Um­ständen, sind aber u. U. gar nicht leicht zu befriedigen. Wird die Diskrepanz zwischen Bedürfnisansprüchen [auch Erwartungen] und der Wirklichkeit allzu groß, nimmt unser inneres Gleichgewicht Schaden. Seelenruhe und Gelassenheit, die wesentlich für unser Wohlbefinden sind, gehen flöten.

Werden andererseits motivierende Bedürfnisse zu wenig erregt, verlieren wir unseren seelischen Antrieb, erliegen vielleicht sogar der Langeweile und Depression. Demnach müssten wir dafür sorgen, dass uns weder zuviel noch zuwenig Bedürfniseregung zuteil wird, um uns auf diese Weise bei guter Laune zu halten. [Das ist in der Praxis nicht leicht möglich. Gerade die affairs du coeur kosten uns leicht die innere Balance, und das ist bis zu einem gewissen Grad nicht einmal unangenehm. Wer mit Amors Schwin­gen fliegt, der ist des grauen Alltags überhoben und ‚trunken ohne Wein’.]

 

Der Sachverhalt [von der Erregbarkeit der Bedürfnisse] entspricht der Lehre Schopen­hauers von Not und Langeweile als den Polen menschlichen Daseins. Dass sich im Menschen immens viele Bedürfnisse in fast unerschöpflicher Weise fast zwangsläufig erregen, entspricht seinem Ansatz eines unersättlichen Willens in uns. Dieser Wille ist seiner Ziele nicht wirklich und wesentlich bewusst und teilweise heißes, undistanziertes Begehren. Findet „der Wille“ gelegentlich einmal von dieser Bedürfnistyrannei etwas Ruhe und Distanz, dann ist es geradezu wie Glück und Erlösung. [Bestimmte Arten von ästhetischen Künsten vermögen das Bewusstsein dieser Art von kontemplativem Glück anzuregen.]

 

Denn ein jeglicher denkt nur, sich selbst und das nächste Bedürfnis

schnell zu befriedigen und rasch, und nicht des Folgenden denkt er.

[Goethe, Hermann und Dorothea, Abschnitt Erato]

"Der Mensch ist ein Wesen von schwacher Intelligenz, das von seinen Triebwünschen beherrscht wird." Freud, Zukunft einer Illusion.

Das Aufstacheln von Begehrlichkeiten, die unerfüllt bleiben, macht uns doppelt unzu­frieden.

Doppelt unzufrieden macht sich der, der im Vergleich mit andern entdeckt, was alles er entbehrt.

Hat man dem Hund erst einmal den Braten durch’s Maul gezogen und gibt ihn ihm dann nicht zu fressen, ist seine Seelenruhe dahin. Das ist bei uns Menschen nicht an­ders. [Die Unglücklichsten sind die, die mittellos in elenden Verhältnissen existieren, dabei aber die für sie unerreichbaren Errungenschaften des Wohllebens und der geho­benen Lebensführung tagtäglich in Schaufenstern und im Fernsehen sehen.]

Sehr zu beneiden ist niemand, sehr zu beklagen unzählige. [Schopenhauer]

Nostra nos sine comparatione delectent. Numquam erit felix quem torquebit felicior. [Seneca] – Entzieht euch dem Vergleich! Niemand kann zufrieden sein, den das Glück eines angeblich Glücklicheren wurmt.

Die uns erreichbare Form von Glück und Zufriedenheit besteht zu einem großen Teil in der Distanzierung von fragwürdigen Vergleichen und Erwartungen.

Der Zustand unbefriedigter Bedürfnisse ist Unzufriedenheit, der der befriedigten manchmal nur Enttäuschung. [Hier erhebt sich natürlich die Frage, ob es das für uns Richtige war, was wir gewünscht und erstrebt haben.]

Wer hungern muss, verfällt auf den naheliegenden, aber irrtümlichen Gedanken, dass die Glückseligkeit darin bestehe, über einen großen Vorrat an Nahrungsmitteln zu ver­fügen. Im Zustand literarischer Bildung kommen wir letztlich auf geheimere Schmer­zen und darauf, „dass der Seele im Leben ihr göttliches Recht nicht ward.“ [Hölderlin, An die Parzen] Man kann allerdings auch von der undankbaren Natur der Seele reden. Das Talent zur Zufriedenheit scheint der Natur der menschlichen Seele zu widerstrei­ten.

Perfider Weise hat die Sehnsucht bisweilen nichts mehr zu fürchten als ihre Erfüllung. Das gilt gerade für die Ziele, die uns besonders nachdrücklich motivieren. Gesell­schaftliche Anerkennung, Macht, Geld [siehe Krösus!] und auch die [erotische] Liebe. Diese Dinge kosten uns in der Regel erst einmal die Gemütsruhe und verwickeln uns dann in endlose Folgepropleme.

 

Ein wichtiger Aspekt bei den „Primärzielen“ des heutigen, gesellschaftlichen Menschen besteht m. E. darin, dass diese Ziele für sich selbst betrachtet nichts Schlechtes sind. Nur verabsolutiert und über andere Rücksichten erhoben sind sie schlecht. Wenn wir Liebe, Sex, gesellschaftliche Anerkennung, Geld und etwas Macht so ganz ohne weite­res haben könnten, wäre nichts dagegen zu sagen. In praxi aber verstricken wir uns in Einseitigkeiten und Obsessionen. Wegen der zwangsläufigen Folgeprobleme und der Ungeduld und Rücksichtslosigkeit, mit der wir nach unseren „Primärzielen“ streben, sind diese Ziele problematisch. Wir sind fataler Weise geneigt dazu, diese Folgeprobleme mit unberechtigtem Op­timismus [und Zynismus] zu übersehen. Die Problematik des problematischen Engagements ist also nicht in den Zielen selbst gelegen, sondern in den Mitteln der Ungeduld und in den fast zwangsläufigen Folgeproblemen.

 

Ein Irrtum, welcher sehr verbreitet

Und manchen Jüngling irre leitet,

ist der: dass Liebe eine Sache,

die immer viel Vergnügen mache.

[W. Busch, Der heilige Antonius von Padua]

 

„Ob wir auch nicht darum bäten, o Zeus, gewähr uns das Gute,

doch vor dem Bösen behüt’ uns, sogar, wo wir es erflehen.“ [Rem. an Schopenhauer]

Infolge unserer Illusionen sieht alles ganz anders aus, als es ist.

An Problemen, die uns aus stillschweigend angenommenen, falschen Erwartungen und illusorischen Ansprüchen entstehen, sind wir zum Teil selbst schuld. Wir übersehen in der Regel Mehrdeutigkeiten der konkreten Situation, in der fragwürdige Meinungen und Erwartungen von allen Seiten existieren. Dazu kommen ganz unvermeidlich dem Typus der Situation entsprechende perspektivische Wahrnehmungsverluste.

Unsere Dummheiten und leichtfertig angenommenen Erwartungen machen das Leben noch komplizierter, als es vermittelst unserer anderen Bedürfnisse sowieso schon ist.

Fragwürdige, wenn nicht gar falsche Maße und Gewichte belasten unser Leben schwer. Erfolg, Macht, Geld und Sex z. B. werden in der Bedeutung für eine bedürfnisgerechte Lebensweise überschätzt. Die Opfer, die wir unseren Götzen bringen, werden unter­schätzt. In der Verblendung unterliegen wir erheblichen Wahrnehmungsverlusten.

Fehlwissen, Verblendung und fixierte Erwartung verursachen ein Vielzahl von Leiden, Verwirrungen und Nöten.

Unser Geist erschafft sich mit seinen Überzeugungen zum großen Teil selbst sein Lei­den. [Überzeugungen über anzustrebende Ziele und Verfahrensweisen, diese zu errei­chen.]

Gier, Ehrgeiz und Machtkämpfe verhindern die Beruhigung des Geistes.

Um kurzfristiger Vorteile willen provozieren wir auf lange Sicht manchmal sogar eine Katastrophe.

Nichts, was wir lediglich wissen, wird uns ändern. – Wir können aus Erfahrung lernen, wie wenig uns Erfahrung belehrt.

Es fällt uns manchmal sehr schwer, etwas für unser Wohlbefinden zu tun, ohne unsere Gesundheit zu gefährden.

Wir sind nur in sehr beschränktem Maße dazu fähig, gegen unsere augenblicklichen Interessen und Stimmungen zu handeln.

Die Lenkbarkeit der seelischen Bestrebungen ist keine Selbstverständlichkeit. Wir ge­raten in Zustände, welche die freie Willens- und Urteilsbestimmung erschweren, even­tuell sogar unmöglich machen. Sehr schlimm ist es, wenn wir unsere Unzurechnungs­fähigkeit selbst verschulden.

Es kann mitunter lange dauern, bis sich der Geist der Psyche wieder einmal zu be­mächtigen weiß. – Der Zustand, in dem der Geist die Psyche regiert, ist eine sich immer wieder erneut stellende Aufgabe und kein Normalzustand.

Platon beschreibt „die Entgleisung“ der Subjektivität auf folgende Weise. Je mehr der Wagenlenker berauscht ist, desto wilder werden die Rosse, besonders das minderwer­tige, das sowieso nicht gut lenkbar ist. Fügsamkeit und Lenkbarkeit des Subjektiven im Hinblick auf Einheit des Denkens, Wollens und Handels ist der entscheidende ethische Gesichtspunkt in psychologischen Fragen. [Diese „gleichnishafte Bestimmung“ findet sich in Phaidros, 246 a – b]

Was braucht der Mensch, um glücklich zu sein? Der eine mehr, der andere weniger, fast alle aber glauben, mehr zu brauchen, als sie haben.

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Die erklärten Zwecke und Absichten sind oft nicht die wirklichen. Und niemals die ein­zigen.

Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick aussieht. Mäßigkeit ist oft nicht mehr als ein schwacher Magen, Gerechtigkeit manchmal Heimtücke.

Die Motive moralischer Entrüstung sind selten moralisch.

Der beste Zeuge für die Gültigkeit der ethisch-moralischer Norm ist der Schein, den die Heuchelei von ihr borgt. Heuchelei ist die Form von Anerkennung, die wir der Tugend zollen. Wir sind nicht zu mehr, aber auch nicht zu weniger bereit.

Wenn wir vom Üblichen abweichen, dann eher zum Schlechten als zum Guten.

Unser Leben wird durch Vorurteile und Unwissenheit geprägt.

Unser Gesprächsverhalten entspricht dem Bedürfnis, jede geistige Anstrengung zu vermeiden und dennoch unsere Persönlichkeit zur Geltung zu bringen.

[Gesprächsverhalten] Unsere Art und Weise zu reden ist in ziemlich vielen Fällen fast schon das Gegenteil jeglicher Methode, die Wahrheit zu suchen.

[Gesprächsverhalten] Affektvolle Streitigkeiten haben etwas Blindwütiges und führen nicht sonderlich oft zu glücklichen Einfällen.

[Gesprächsverhalten] Was haben sie aneinander, wenn sie doch miteinander streiten? denkt man.

Affektvoll vorgetragene Reden dienen in sehr vielen Fällen dazu, Ruhe und Offenheit für ein ausgewogenes Urteil zu verhindern. Es ist zum Teil die Angst vor Ambivalenz und Entscheidungsschwäche, die uns dazu führt. – Zudem möchten wir in unseren Absichten nicht beirrt werden.

Bei der Würdigung des Konzepts psychoanalytischer Abwehrmechanismen sollte man auf der Beobachtung insistieren, dass es nicht nur affektvolle Triebregungen sind, die auf der unterdrückten Seite stehen können, sondern dass Affekte sehr oft dazu dienen, die Unbefangenheit des Urteils zu blockieren. [Dies auch zur Interpretation von Goe­thes: „Man spürt die Absicht und ist verstimmt.“]

Was heute die Gemüter erregt, ist vielleicht schon morgen nicht mehr der Rede wert.

In der Vorbereitung des Lebens geht das Leben der meisten dahin. [Reminiszenz an Seneca]

Wir sind weder jeder mit sich selbst noch untereinander einig. Im öffentlichen Leben sind alle allen verfeindet und im privaten jeder einzelne sich selbst. [Platon, Nomoi, 626 d.]

Ab homine homini cotidianum periculum. Vom Menschen droht dem Menschen täglich Gefahr. [Seneca, Epistulae ad Luclium 103]

Das menschliche Leben ist derjenige Teilbereich der Wirklichkeit, in dem die un­menschlichsten Machtkämpfe stattfinden.

Verbissenheit des Engagements findet sich hauptsächlich im bösen Spiel. Am Lachen hört man, wo der Spaß aufhört.

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Wir entsprechen dem Ideal friedfertiger Gemeinsamkeit sehr wenig: Unsere Sehnsucht nach Frieden ist ebenso groß wie unsere Unfähigkeit, Friedensbedingungen zu schaf­fen. [Rem. an Unbekannt]

Nec tecum possum vivere nec sine te. [Terenz] Wir kommen nicht miteinander zurecht, aber auch nicht ohne einander. Wer zu wenig Distanz zu andern wahrt, wird verrückt gemacht, wer zuviel, macht sich oft selbst verrückt.

Tout notre mal vient de ne pouvoir être seul, schreibt La Bruyère. Weil wir eben zu­sammen und miteinander auch nicht wirklich zurecht kommen, füge ich hinzu.

Ähnlich Pascal, nach dem unser Unglück daher rührt, dass wir nicht ruhig und alleine in einem Zimmer sitzen bleiben können. [Was m. E. allerdings auch nur zeitweise er­strebenswert sein kann.]

Schopenhauers Gleichnis von den frierenden Stachelschweinen mit ihren verletzenden Stacheln findet sich unter dem Titel "Gleichnisse, Parabeln und Fabeln" als § 396 im zweiten Band der Parerga. Das Schutzbedürfnis vor den verletzenden Stacheln der an­dern und das Bedürfnis nach wärmender Nähe geraten bei Schopenhauers Stachel­schweinen in Widerstreit. Daraus entsteht das Phänomen der „mittleren Entfernung“, der „Höflichkeit“ und „feinen Sitte“.

Wir müssen bei solchen Ambivalenzphänomenen nicht von einer komplizierten Einheit der Widersprüche [oder des Nichtidentischen] sprechen, wie es der Dialektiker tut. [Aber wir können so sprechen.] Die Feststellung gleichzeitig bestehender, verschiede­ner Bedürfnisse, die in bestimmten Situationen in Zwiespalt zueinander geraten, ge­nügt. Die Ambivalenz wird hier also nicht als "dialektisches" Phänomen, sondern als Resultat verschiedener Bedürfnisse gedeutet. Die beiden Bedürfnisse, einmal das der gegenseitigen Erwärmung, andererseits das des Schutzes vor den Stacheln der andern werden jeweils "nur unvollkommen befriedigt". Wir haben also das Phänomen eines "Sowohl - alsauch" bezüglich divergierender Interessen, das Phänomen einer Einheit realen Widerstreits und Zwiespalts. [Die Höflichkeit ist also eine komplizierte Einheit von Nähe und Distanz zugleich.] Man kann also Schopenhauers Gleichnis als gelun­gene Beschreibung einer Dialektik der Gemeinschaft lesen.

Man kann mit fast jedem auskommen, vorausgesetzt, dass man nicht allzu viel mit ihm zu tun hat.

Durch die Macht der Aphrodite getrieben nähern wir uns einander an und vereinigen uns miteinander, aber der furchtbare Streit bringt uns dann wieder auf Distanz zueinan­der und trennt uns erneut. [Rem. an Empedokles]

„... bald aber kommen sämtliche Glieder ... durch die Macht der Liebe in Eins zusammen, auf der Höhe des blühenden Lebens; bald aber, wieder entzweit durch böse Geister des Streites, irren sie einzeln, ein jedes für sich, am Gestade des Lebens umher. Ebenderselbe Kampf in den Bäumen, den Fischen des Wassers, bei den Tieren des Waldes und den Möwen, die sich auf ihren Fittichen wiegen.“ [Empedokles, fr. 20]

Es ist eine wichtige Erfahrungstatsache, dass wir aus manchen Erfahrungen nicht recht lernen [wollen], obwohl es uns [z. B. für unseren Seelenfrieden] sehr nützlich sein könnte. Hier besteht infolge hartnäckiger Verblendung ein Mangel an Lernbereitsschaft und Lernfähigkeit. Eine bisher lückenlose Folge von Fehlversuchen stellt uns eben kei­nen Beweis für die Zwangsläufigkeit des Scheiterns bestimmter Vorhaben dar, könnte man zur Entschuldigung anführen. [Eine Variante des Hume'schen Problems von der Nichtverifizierbarkeit unbeschränkter Allsätze.] Erneut erregte Hoffnungen und erneut erregte Illusionen siegen an für uns charakteristischen Punkten erneut über die bisherige Erfahrung.

„Keine endliche Zeitspanne erfolgloser Versuche reicht für den Beweis dafür aus, dass der Erfolg sich nicht einstellen kann.“ [Stegmüller, Hauptströmungen II, S. 603]

Der Geist ist einerseits zur Selbsterkenntnis befähigt, andererseits durch Fehleinstellun­gen, die er nicht recht erkennt, präokkupiert.

Der Weg der Vernunft steht dem Menschen nicht immer offen.

"Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben. Aber es ist etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme der Vernunft ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Anweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in dem man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf." Freud, Zukunft einer Illusion, X.

Bonum supprimitur, numquam exstinguitur.

Unsere selbstgeschaffenen Leiden resultieren in aller Regel aus fixierten, illusorischen Erwartungen an den weitgehend unvorhersehbaren Gang der Dinge. [Die weitgehende Unvorhersehbarkeit des menschlichen Lebens ist vorherzusehen.] Wir heizen Stim­mungen an, stacheln fragwürdige Motivationen auf, erhitzen die Gemüter und peitschen die Chimären auf.

Stimmungsmache u. dgl. liegt uns in der Regel näher als das Eingeständnis, dass den wahren Sachverhalt oft kein Mensch kennt.

Von der Unterschiedlichkeit der Stimmungen her gesehen, erscheint uns die Einheit, die Dieselbigkeit der individuellen Person, in unterschiedlichen Situationen und zu un­terschiedlichen Zeiten, als ziemlich gewagte Hypothese.

Die Erregung von Affekten und Emotionen dient oft der Verhinderung gegenteiliger, aber unerwünschter Affekte und Emotionen, bisweilen aber sogar der Ausschaltung von Unbefangenheit und Urteilsfähigkeit.

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Unsere Illusionen sind weitgehend erfahrungsimmun.

Die starren und einseitigen Idealbildungen unserer Alltagskultur [Erfolg, Geld, Macht und erotische Attraktivität] widerstreiten der weitgehenden Unplanbarkeit des Lebens. Das Leben siegt aber immer wieder und bringt die Eigenart der weitgehenden Unplan­barkeit erneut zur Geltung.

Wir kämpfen um Dinge, die uns nicht zufrieden machen, um Leuten zu imponieren, die wir gar nicht so gut leiden können. [Rem. an Unbekannt]

Wir stehen immer wieder erneut vor der Aufgabe, durch die modifizierende Anver­wandlung von Vorfindlichem eine Situation gelingender Bedürfnisintegration herzu­stellen.

Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass sich gegebene Zustände mit der Zeit ändern, als dass sie gleich bleiben. Dass sich aber alles in allen Bereichen zwangsläufig zum Bes­seren ändert, ist nicht gesagt.

 

Zwischen Opfern und Schmerzen des Lebens und seinem Gewinn an Lust kann es mangels Quantifizierbarkeit eigentlich keine Bilanzierung geben.

 

Manche von uns streben nach wildem, leidenschaftlichem Glück, andere nur nach Zu­friedenheit. Eine dritte Variante ist Otto Normalverbraucher in Jagd und Kampf wegen nützlicher Dinge, die er dann doch nicht braucht. [In den mittelständischen Kreisen der westlichen Gesellschaften gibt es Phänomene von „Nützlichkeitsstress“, verbunden mit der unbestimmten Angst, in’s Hintertreffen zu geraten. Wahrscheinlich ist es ein Folge­phänomen zum Prinzip des wirtschaftlichen Konkurrenz- und Existenzkampfs.]

Eigentlich ist der Mensch dazu da, auf sich aufzupassen. Es geht um die Balance der prekären Fähigkeit, unter Verantwortungsgesichtspunkten zu handeln. Diese Fähigkeit ist durch Präokkupation und das Verlangen nach Stimmungssensation gefährdet.

Ruhe und subjektive Standfestigkeit sind nicht von Fall zu Fall durch sporadischen Ent­schluss erzeugbar, sondern Ergebnis längerer Übung.

Die Berauschten beklagten zu allen Zeiten das traurige Los der Nüchternen.

Der Wein erfreut des Menschen Herz, sagt der Prediger. Schade nur, dass der darin ent­haltene Alkohol Leber und Hirn der Freudebedürftigen vergiftet.

Sonderbar, dass gerade Zustände intensivierter Unmittelbarkeit, wie z. B. in der alko­holischen Anheiterung, mit einem objektiv erbärmlichen und eingeschränkten Zustand unserer selbst einhergehen. Zustände erweiterten Bewusstseins sind in aller Regel Zu­stände eingeschränkter Bewusstseinstätigkeit, und der Mensch gewinnt die subjektive Steigerung seines Lebensgefühls durch reduzierende Beeinträchtigung seiner selbst.

Die Sorge ist in hohem Maß ein Aufmerksamkeitsphänomen. Wir befürchten, dass sich bestimmte Möglichkeiten realisieren, die für uns von Nachteil sind.

Der Geist muss die Sorge steuern, nicht die Sorge den Geist. Der Mensch soll Herr, nicht Sklave seiner Sorgen sein.

„Ist die Unlust übermäßig geworden, so suchen die Menschen ein Übermaß von Lust, und zwar durchweg sinnliche Lust, weil sie als Betäubungsmittel angesehen wird.“

„Leute mit brodelndem Temperament ... brauchen ständig ein Betäubungsmittel: ihr Leib ist in einem dauernden Reizzustand ..., und sie befinden sich stets in hektischer Begehrlichkeit. Unlust aber wird durch Lust vertrieben, durch die ihr entgegengesetzte oder eine beliebige, wenn sie nur stark genug ist. Das sind die Gründe für die Entwick­lung zur ... Schlechtigkeit.“ [NE, 1154 a 28 ff.]

„An Leckerbissen, an Wein und Liebesgenuss haben alle Menschen irgendwie Freude, nur nicht (immer) so, wie es sein sollte.“ [Aristoteles, NE, VII, 1154 a 6 – 28]

„Die Begierde ist wie Aphrodite, von der es heißt „listenwebende Tochter von Kypros“ und von derem gesticktem Gürtel Homer rühmt, es sei in ihn gewoben „holdes, berü­ckendes Wort, das den festesten Sinn überwältigt.“ [NE, VII, 1149b 11- 32]

Gewalt ist ein Verhängnis, das ganze Sippen überschattet, eine Konditionierung, die Männer und Frauen zu Marionetten eines bösen Geistes macht. Der Fluch wird weiter­vererbt von Generation zu Generation. Manche versuchen, den Bann zu brechen und sind doch Räder in einem Räderwerk, das weiteres Unglück produziert. Sie tun sich zu­sammen und beginnen ihr hässliches Spiel. Wieder bringt es Täter und Opfer hervor, das Programm von Dominanz und Unterwerfung wird weiter getragen.

Täter und Opfer suchen sich, erkennen sich unter Hunderten und tun sich wie von un­sichtbarer Hand gesteuert zusammen.

 

Was ist ein „sadistisches Introjekt“ [Melanie Klein] Ich denke hierbei an eine Wertvor­stellung, die sich auf terroristische Weise Geltung verschafft. Die terroristische Eigen­schaft einer Normvorstellung zeigt sich am Vergeltungs- und Strafbedürfnis, das im Falle eines Normverstoßes für gerechtfertigt erachtet wird. Normkonformität und Normabweichung werden überbewertet. Nun erhebt sich natürlich die Frage, woran diese Überbewertung zu erkennen ist. Was ist eine verhältnismäßige, was eine unver­hältnismäßige Vergeltung?

„Die feigsten, widerstandsunfähigsten Menschen werden unerbittlich, sobald sie die ab­solute elterliche Autorität geltend machen können. Der Missbrauch derselben ist gleich­sam ein roher Ersatz für die viele Unterwürfigkeit und Abhängigkeit, denen sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft mit oder ohne Willen unterwerfen.“

„Unser Recht“, lässt Shaw in einem Theaterstück sagen, „ist manchmal nur der Vor­wand, einen Menschen zu aufzuhängen.“

 

„Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, wenn du auch alle Wege ab­suchtest; so tiefgründig ist ihr Wesen.“ [Heraklit, fr 45]

Gründe dieses „Geheimnisses“. 1. die Psyche ist die Psyche eines Subjekts, das ein Subjekt jenseits jeglicher Definition ist und doch zur Darstellung gelangt. Ein Etwas, das kein Etwas ist. 2. Bezug auf dieses Subjekt ist ein Prinzip „von allem“. 3. der „wachsweiche“, oft endlos „hermeneutische“ Charakter psychologischer Erklärungen. 4. Mehrdeutigkeit der Phänomene plus Mehrdeutigkeit unserer Darstellungsmittel die­ser Phänomene. Trotz zum Teil plausibler, mitunter sogar prägnanter Darstellungsver­suche.

 

So bleibt auch unsere Psychologie zwangsläufig eine schriftliche Niederlage des menschlichen Geistes in mehrfachem Sinn.

 

Warum aber werden wir nicht weise? Weil wir verblendetem Wahn anhängen. Es ist nicht nur arglose Unwissenheit und Mangel an fundierter Information, die wir als Ent­stehungsgründe unserer Handlungen anzusetzen haben. Wir werden nicht weise, weil wir dies letztlich gar nicht wollen.

Wir möchten gar nicht so genau wissen, was wir uns selbst und einander antun, indem tun, was wir tun, denn dann könnten wir in vielen Fällen nicht weiterhin so handeln, wie wir es wünschen und gewohnt sind.

 

Die Rede vom „Sinnverlust“ ist mit der Projektion idyllischer Lebensverhältnisse verbunden, der niemals die menschliche Wirklichkeit entsprach. Man hatte immer nur Sinn­versprechungen und programmatische Ansätze. „Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen, dass überall die Menschen sich gequält und hie und da ein Glücklicher gewesen?“ [Faust I, 661 ff.]

 

Man mag Nachteiliges und Herabsetzendes vom Menschen sagen, soviel man will, aber immerhin schlummert [„in nuce“] in jeder einzelnen menschlichen Psyche eine Fähig­keit zu allumfassendem Denken und verantwortlichem Handeln. Der allumfassende Geist ist uns allen gleichermaßen gegeben, selten allerdings die Kraft, uns seiner be­wusst zu werden oder gar in Einklang mit ihm zu leben.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2001/02