Sorge und Sorglosigkeit bei Horaz

 

Das menschliche Leben, sozusagen eine Folge von Zwangslagen und zu spät erkannten Irrtümern, erwies sich schon den Alten als fast immerzu von Sorgen und Befürchtungen beschwert. Sie erkannten aber, dass wir uns nicht nur beunruhigen, weil wir schwerwiegende Gründe dafür haben, sondern dass wir [in sehr vielen Fällen] Gründe zur Beunruhigung finden, weil uns das Talent zum glücklichen Leben fehlt. Wir unterliegen illusionären Erwartungen und falschen Wertmaßstäben. Unsere Aufgeregtheit gerät uns regelmäßig außer Kontrolle und lähmt die Fähigkeit zu vernünftigem Handeln. Die Unruhe des Gemüts, der Zustand seelischer Besetztheit durch Befürchtungen des Schlimmen sowie durch unzweckmäßiges und verblendetes Streben erschien ihnen als Normalzustand der meisten Menschen und dennoch als therapiebedürftiges Übel, dem sie die Aufforderung zu einer bestimmten Art von Sorglosigkeit entgegensetzten.

 

[Der Normalzustand des Menschen ist ein Zustand, in dem es nicht gut mit ihm steht. Er lebt im Zustand der Fehlorientierung, der Verblendung und der falschen Prioritäten.]

 

Es begegnen uns bei den Vertretern dieser antiken philosophischen Anstrengungen verschiedene Konzepte, unzweckmäßige und übertriebene Formen der Sorge und Beunruhigung zu besprechen und ihnen entgegen zu steuern. Die Schulen der Skepsis, der Stoa und des Epikur streben alle nach Unerschütterlichkeit und Ausgeglichenheit der Gemütsverfassung und unterscheiden sich lediglich in unterschiedlicher Prioritätenstzung wegen der leitenden Gesichtspunkte. Der Skeptiker sucht die Gemütsruhe im Verzicht auf Rechthaberei und Wahrheitsanmaßung, wobei er glaubt, dass es überhaupt keiner großartigen oder gar übernatürlichen Einsichten bedarf, um vernünftig leben zu können. Der Stoiker schwört auf die Abkehr von äußeren Werten und propagiert die Freiheit der selbstgenügsamen Seele. Die Anhänger Epikurs finden in unaufgeregten Sinnenfreuden, einem zurückgezogenem Leben in Freundschafts- und Gartenpflege das höchste menschenmögliche Glück. Obwohl es Schulstreitigkeiten zwischen den Parteien gab, finden sich auch Querverbindungen. Seneca z.B. hat viele Gedanken des Epikur lobend zitiert.

 

Am 11.02.2001 sendete SWR II einen Vortrag mit dem Titel "Über die Sorge. Zum carpe diem des Horaz". Aus dem Bedürfnis, mir Gedankengang und rhetorische Raffinesse der alten Psychagogen zu vergegenwärtigen, habe ich einen Kassettenmitschnitt angefertigt und die Zitate in der Übertragung des Autors aufgeschrieben. Obwohl mir die Texte des Horaz, Seneca und Epikur in den alten Sprachen vorliegen, verzichte ich weitgehend auf die Zitate der Originalsprachen, weil die Anstrengung des Lesens und Übersetzens aus diesen Sprachen für uns Heutigen eine erhebliche Zugangsbarriere darstellt. Dies gilt, obwohl uns die Übersetzungsarbeit in vielen Fällen mit Einsichten von besonderer Klarheit belohnen würde, die in der schnell lesbaren Übersetzung weniger deutlich hervortreten.

Einige Sätze des Autors der Sendung, die mir besonders gelungen erschienen, habe ich ebenfalls übernommen.

[11.02.2001, 18.30 RadioART: Feature am Sonntag "Über die Sorge" Zum Carpe diem des Horaz. Von Garleff Zacharias-Langhans]

 

 

Am Ende muss Erde wieder zu Erde werden, Geist zu Geist.

Wären wir nur Geist (wie Gott), hätten wir keinen Grund zur Sorge. Wären wir Materie wie die Erde, hätten wir nicht die Fähigkeit dazu. Was in uns sich sorgt, ist der Geist, warum wir uns sorgen, erklärt sich aus unserer Verhaftung an die Erde.

 

[Marc Aurel] Lebe jetzt. Tu, was gerade jetzt die Natur von dir fordert

 

[Der römische Dichter Horaz hat es verstanden, epikureisches Gedankengut in eindrucksvollen Worten poetisch zu gestalten.]

 

Horaz: [Carmina, Liber I, 11]

 

Frag nicht, - Wissen ist Frevel -, was mir, was dir, als Grenze die Götter gesetzt, Leukonoe, und versuch nicht die babylonischen Zahlen! Wie viel besser wirst du, was immer auch sein wird, ertragen. Ob mehrere Winter, ob den letzten, Jupiter zugeteilt, der jetzt mit entgegenstehenden Felsen das tyrrhenische Meer schwächt. Sei klug, kläre den Wein, und schneid' auf kurzes Maß die lange Hoffnung zurück! Während wir reden, flieht schon die neidische Zeit. Ergreife den Tag, so wenig wie möglich trauend dem folgenden.

 

Reihe der Imperative:

Frag nicht, was sein wird!

Versuch nicht die babylonischen Zahlen!

Nimm' hin, was kommt!

Sei klug!

Kläre den Wein!

Schneide die Hoffnung zurück!

Ergreife den Tag!

 

Nicht sorgen! Die Vielfalt der Imperative, in welche die Forderung sich zerlegt, zeigt uns, dass eher an eine moralische Anstrengung als an bequeme Entspannung gedacht ist.

 

[Vergil]

Die Dämonen des Schreckens und der Unheil drohenden Vorbedeutungen sind Timor u. Minae. Folgende Unglücksgeister hausen im Schlund der Unterwelt: Sorgen, Gram, Not und Tod

Es ist der Tod, der in Gestalt der Sorge nach dem Leben greift.

 

[Horaz] Überall begleiten den Herrn Timor und Minae. Und auf dem erzbeschlagenen Schiff und hinter dem Reiter sitzt schwarze Sorge.

 

Was morgen sein wird, lass ab zu fragen!

Stell das übrige den Göttern anheim!

Red' vom übrigen nicht!

Was ermüdest du den beschränkten Geist mit Zukunftsgedanken? Hör auf zu fragen!

Weislich hat der Gott die Zukunft in Dunkel gehüllt, und er lacht, wenn ein Sterblicher mehr als ihm zugedacht sich ängstigt.

 

[Seneca]

Nichts darf man sich von der Zukunft erwarten. Niemand von uns weiß, wie nah' an der Grenze er sich bewegt.

Am besten lebt, wer besseres nicht erwartet.

 

[Epikur]

Die Zukunft ist weder ganz in unserer Hand noch ist sie völlig unserem Willen entzogen. Das ist wohl zu beachten, wenn wir nicht in den Fehler verfallen wollen, das Zukünftige entweder als ganz sicher anzusehen oder von vorn herein an seinem Eintreten zu verzweifeln.

 

Die Zukunft liegt in großen Linien fest. Doch innerhalb der Grenzen gibt es Spielraum, den der Weise nutzen soll

 

Für Hab' und Gut werde er sorgen, auch dem Gelderwerb werde er sich zuwenden, aber nur in der von der Weisheit gebotenen Einschränkung, nämlich wenn er in Not sei.

 

[Horaz]

Morgen, wenn das Geschrei der Krähe nicht lügt, wird Sturm die Blätter von den Bäumen reißen, das Meer wird Tang auf den Strand werfen, und Regen wird fallen. Trag', solange du kannst, trockenes Brennholz zusammen. Morgen erquick dich am Wein!

 

Was jetzt zu tun ist, das tu! [M. Aurel, Seneca, Horaz]

 

[Seneca]

Was morgen sein wird, lass ab zu fragen und sieh' in jedem Tag, den das Schicksal dir gibt, Gewinn!

Lebe den Tag so, als wäre er dein Leben!

 

[Marc Aurel] Lebe den Tag so, als ob du möglicherweise im Augenblick aus dem Leben scheiden solltest

 

[Epikur] Im Gedanken an den Tod werden wir uns der Gabe des noch gewährten Lebens bewusst.

 

[Horaz]

Begrenze die Traurigkeit! Finire memento tristitiam! Halte die Sorgen in Schranken!

Frühlingswinde mildern die Kälte. Wir, wenn wir dahin fahren, sind Staub und Schatten.

 

[Epikur]

Gewöhne dich auch an den Gedanken, dass es mit dem Tod für uns nichts auf sich hat, denn alles Gute und Schlimme beruht auf Empfindung. Der Tod aber ist die Aufhebung der Empfindung. Daher macht die rechte Erkenntnis von der Bedeutungslosigkeit des Todes für uns die Sterblichkeit des Lebens erst zu einer Quelle der Lust, indem sie uns nicht eine endlose Zeit als künftige Fortsetzung in Aussicht stellt, sondern dem Verlangen nach Unsterblichkeit ein Ende macht. Denn das Leben hat für den nichts Schreckliches, der sich wirklich klar gemacht hat, dass in dem Nicht-Leben nichts Schreckliches liegt.

 

 

Im Bewusstsein der Sterblichkeit können wir eine Quelle der Lebensfreude entdecken, meinte Epikur.

 

Das Unglück ist in einer Einstellung begründet, die schon immer die normale war: dass das jeweils Gegebene weniger Wert besitzt als das, was noch aussteht. Solange wir etwas noch nicht erlangt haben, erscheint es uns besonders wertvoll.

 

Unglück ist die Unfähigkeit zum Genuss des Gegebenen, verbunden mit der Weigerung auf's Vorenthaltene zu verzichten. - Deshalb kann das Glück nicht im Mehr, sondern nur im Weniger gesucht und gefunden werden.

 

[Epikur]

Wir halten die Genügsamkeit für ein großes Gut, nicht um uns in jedem Fall mit Wenigem zu begnügen, sondern um, wenn wir nicht die Hülle und Fülle haben, uns mit dem Wenigen zufrieden zu geben

[Epikur]

Übe freiwillig Verzicht auf ein Übermaß an glücksverheißenden Dingen!

Denn zu gewissen Zeiten erweist sich Gutes für uns als Übel und umgekehrt das Übel als ein Gut

 

[Seneca]

Am erbärmlichsten ist das Leben derer, die mit großer Mühe erwerben, was sie mit größerer besitzen. Mühsam erreichen sie, was sie wollen, angstvoll halten sie fest, was sie erreicht haben. Keinerlei Vernunft gibt es inzwischen mit der niemals mehr wiederkehrenden Zeit. Neue Beschäftigungen treten an die Stelle der alten, Hoffnung erregt Hoffnung, Ehrgeiz Ehrgeiz. Des Elends Ende sucht man nicht, sondern sein Gegenstand ändert sich.

 

[Horaz]

Sorge folgt dem wachsenden Reichtum und Hunger nach mehr. Den Vieles Begehrenden fehlt vieles. Gut lebt, wem Gott mit sparsamer Hand das Nötige schenkte. Kein Reichtum und keine Ehre vertreibt die Unruhe des Herzens und die Sorgen, die die Decke des Prachtsaals umflattern.

 

[Horaz]

Bleiche Sorge entert das erzbeschlagene Schiff und begleitet Reiterschwadronen, schwarze Sorge verfolgt den Reichen zu Schiff und zu Pferde. Warum soll ich das Gut im Sabinertal gegen mühevolle Reichtümer tauschen? Mich ernähren Oliven, Zichorien und bekömmliche Malven.

[Horaz]

Gib' mir Apollo, dass ich das Gegebene genieße, gesund an Körper und Geist. Dass ich im Alter kein schmachvolles Leben führe und dass mir die Zither nicht fehle!

 

Epikur setzte die Lust weniger in den Genuss als in das Freisein von körperlichem Schmerz und von der Störung der Seelenruhe.

 

[Epikur]

Nichts stört die Seelenruhe mehr als die Sorge vor einer Wiederkehr des Schmerzes.

Die höchste geistige Lust liegt in der Ergründung dessen, was dem Geist die höchsten Beängstigungen verursacht.

Niemand kann früh genug anfangen, für die Gesundheit seiner Seele zu sorgen, und für niemanden ist die Zeit dazu zu spät.

 

Sie suchten das Glück der Sorglosigkeit und empfahlen die Sorge um sich selbst.

 

[Rufus]

Die aber sich retten wollen, müssen in beständiger Sorge um sich selbst leben.

 

[Marc Aurel] Gib' leere Hoffnungen auf und komm, solange du es noch kannst, dir selber zu Hilfe!

 

[Autor]

Der Normalzustand, in dem jeder sich vorfindet, ist der Zustand der Sorge, sei es aus Furcht vor Verlust von Besitz, Gesundheit und Leben, sei es aus Verlangen nach mehr. Dieser Zustand ist nicht nur unglücklich, sondern verkehrt.

 

[Seneca]

Es überstürzt ein jeder sein Leben und leidet am Verlangen nach dem Zukünftigem, dem Überdruss des Gegenwärtigen.

 

[Autor]

Sorge ist ein Leiden, das nach Behandlung verlangt. Sorge ist die Krankheit, von der die Selbstsorge befreit.

Die Ruhelosigkeit einer kranken Seele wird therapiert durch eine immer weiter gehende Konzentration auf das Nötige und der Lösung vom Überflüssigen.

 

 

[Autor]

Der Mensch lebt unwillkürlich falsch und bedarf der heilenden Sorge um sich um der krankmachenden Sorge um Güter und Ehren ledig und nach dem Maß seiner Möglichkeiten vollkommen und glücklich zu werden.

 

[Autor]

Besser lebt, wer nicht nach der Zukunft fragt und klug ist, wer sich in Sorge um sich aus dem Normalzustand der Sorge löst.

 

[Seneca]

Leben muss man das ganze Leben lernen und worüber du mehr vielleicht dich wundern wirst: das ganze Leben muss man sterben lernen.

 

[Sinn des Sterben-Lernens ist:] Nutze die Gegenwart zu glücklichem, angst- und sorglosem Leben: protinus vive!

 

Den Wein zu klären ist allemal klüger als sich mit Sorgen zu quälen.

 

[Marc Aurel]

Was jetzt anliegt, bring in Ordnung mit Gleichmut, gelassen, unbesorgt! Denn die Sorgen vergehen, indem du es tust. Quod adest memento!

Wozu die Besorglichkeit? Steht es ja bei dir zu untersuchen, was im Augenblick zu tun ist und vorwärts zu gehen. Beschäftige dich nur mit dem, was gerade jetzt zu tun ist und mit den zu dessen Ausführung dienlichen Hilfsmitteln. Tu, was gerade jetzt die Natur von dir fordert.

 

[Autor]

Das jeweils Fällige zu tun ist an sich schon ein Heilmittel gegen die winterliche Melancholie.

 

[Horaz]

Denn den Nüchternen hat Gott alles Schlimme bestimmt und anders nicht als im Wein verlieren sich nagende Sorgen.

 

Siehst du, wie hoch der Schnee auf dem S. liegt? Lass den Sabiner Wein in Strömen fließen, stell das Übrige den Götten anheim und versäum auch die Freuden der Lieb nicht! Kurz ist das Leben und bald deckt dich Nacht und weder Wein noch Liebe erwarten dich im Hades. Sterben wirst du, ob du dein Leben in Traurigkeit verbracht hast oder feiernd mit altem Falerner Wein. Flüchtig gehen die Jahre dahin und so sehr du dich schonst, du endest dort, wohin dir von all deinen Bäumen nur die verhasste Zypresse folgt. Dann trinkt ein Klügerer den herrlichen Wein, den du mit hundert Schlössern verwahrtest.

 

Horaz beklagt in seiner Bacchusode das traurige Los der Nüchternen.

 

Aber dass niemand beim Trinken das Maß überschreite, mahnt der Zentauren Zank mit den Lapiden.

 

[Seneca]

Menschen, die auf die Hoffnung hin leben, denen entgeht gerade der unmittelbar gegenwärtige Augenblick. An seine Stelle tritt Gier sowie die allerelendigste und alles elend machende Furcht vor dem Tode.

 

[Horaz]

Des Lebens kurze Summe verbietet uns, lange Hoffnung zu hegen.

Wer weiß, ob ihm die Götter zur heutigen Summe der Tage noch ein morgen gewähren?

 

[Autor]

Die Zeit flieht während der nutzlosen Beschäftigung mit ferner Zukunft und dem noch ferner liegenden jenseitigen Leben. Das betrügt die Lebenden um das Einzige, was sie haben.

Die Lebenszeit ist die von den Göttern jedem zugemessene Frist. Es ist genau diese Frist, auf deren Maß die Hoffnung zurückgeschnitten werden sollte.

 

[Horaz]

Ob noch mehrere Winter Jupiter zugeteilt, ob noch ein morgen die Götter gewähren?

Nicht fragen, was vielleicht geschehen mag, sondern was getan werden muss, damit die Lebenszeit nicht nutzlos verstreicht.

 

[Autor]

Die lange Hoffnung entzieht dem Leben, woraus Mut und Zuversicht sich nährt. Sie zehrt am knapp bemessenen Gut der Zeit.

 

[Seneca]

Wen wirst du mir zeigen, der irgendeinen Wert der Zeit beimisst, der den Tag zu schätzen weiß, der einsieht, täglich sterbe er? Darin nämlich täuschen wir uns, dass wir den Tod vor uns sehen. Ein großer Teil davon ist bereits vorbei. Was immer an Lebenszeit in der Vergangenheit liegt, der Tod besitzt es. Was bei einem bedeutenden Dichter gleichsam als Orakel gesagt ist, möchte ich nicht bezeifeln: Ein kleiner Teil des Lebens ist es,während dessen wir leben.

 

Bereits Demokrit nannte jene Menschen Toren, die um irgendeiner abwesenden Sache willen nicht beim gegenwärtigen weilen.

 

[Epikur]

Wir sind nur ein einziges Mal geboren. Zweimal geboren zu werden, ist nicht möglich. Eine ganze Ewigkeit hindurch werden wir nicht mehr sein. Und da schiebst du das, was Freude macht auf, obwohl du nicht einmal Herr bist über das Morgen?

 

[Autor]

Aufschub und Erwartung. Die Summe des Lebens soll nicht gemessen werden an der Skala abstrakter Zeit, sondern an der der gelebten Tage.

Von Zukunft okkupiert sind wir in der Gegenwart nicht bei uns, gehören nicht uns selbst.

 

[Seneca]

Auf mühevollere Weise sind sie beschäftigt. Um besser leben zu können, richten sie um den Preis des Lebens ihr Leben ein. Ihre Pläne legen sie auf weite Sicht an. Größter Verlust an Leben ist ihr Aufschub. Er entzieht immer gerade den ersten Tag. Er entreißt das Gegenwärtige, während er das ferner Liegende verspricht. Größtes Hindernis zu leben ist die Erwartung, die abhängig ist vom morgen. Sie zerstört das Heute.

 

[Autor]

Der Aufschub dessen, was jetzt zu tun, was jetzt zu genießen ist, ist ein Verlust an Leben und führt zu Sinnzusammenbrüchen und Überdruss. (taedium vitae, taedium praesentium)

 

Wenn sich die Sinnfrage in dieser Weise stellt, fehlt die Antwort. Sie ist ein Ausdruck von Gegenwartsentlehrung.

 

Erwartung, Hoffnung, Furcht und Sorge sind Hindernisse des sinnvollen Lebens. In Sorge ist das Leben in seine Zukunft verspannt.

 

[Marc Aurel]

Trenn dich von allen Wahnvorstellungen! Mach den Einbildungen ein Ende! Behalte die Gegenwart in deiner Gewalt.

 

[Seneca]

Alles was kommen wird, liegt im Ungewissen. Jetzt lebe!

 

Wenn du den Tag nicht ergreifst, flieht er! Nisi occupas fugit. Wenn du, von Vergangenheit oder Zukunft besetzt nicht deinerseits die Gegenwart in Besitz nimmst, entzieht sie sich dir. Daher muss man gegen das schnelle Vergehen der Zeit mit Schnelligkeit kämpfen und wie aus einem reißenden Wildbach, der nicht immer fließen wird, eilig schöpfen.

 

[Marc Aurel]

Das Leben ernte gleich der fruchtreichen Ähre. Die eine reift, die andere welkt schon hin.

 

[Seneca]

Viele Gelegenheiten sind bereits versäumt, viele Augenblicke, die nicht wiederkehren, sind für immer verloren.

Ein großer Teil des Lebens, die Summe unserer nicht gelebten Tage, ist bereits verwelkt und abgestorben.

 

[Autor]

Das Leben entgleitet uns im Zeichen dauernden Gegenwartsverlustes.

 

[Seneca]

Während es aufgeschoben wird, enteilt das Leben.

 

Die gegenwärtige Zeit ist sehr kurz, so sehr in der Tat nämlich, dass sie manchen als nichts erscheint. Im Laufe nämlich ist sie stets, sie strömt und stürmt dahin, sie hört auf, ehe sie gekommen ist. Den occupati gehört einzig die Gegenwart, die so kurz ist, dass man ihrer nicht habhaft werden kann und eben sie entzieht sich ihnen, da sie in vieles verstrickt sind. [Da sie von Sorge beherrscht, von Zukunft eingenommen sind.] [De brevitate vitae]

 

[Senca]

Die für Philosophie Zeit haben, sie allein leben. Denn nicht hüten sie allein ihr eigenes Leben gut, alle Zeit fügen sie der ihren hinzu. Was immer an Jahren vor ihnen geschehen ist, ist ihr Besitz geworden. Warum sollten wir nicht von diesem knappen und hinfälligen Vergehen der Zeit an das uns mit ganzer Seele hingeben, was unermesslich, was ewig ist, was mit dem Besseren verbunden.

Sie [die Philosophierenden] leben die Gegenwart, indem sie mit Sokrates diskutieren, mit Epikur sich zurückziehen, mit den Stoikern ihre Triebnatur besiegen, kurz: indem sie philosophieren.

 

 

[Seneca]

Wenn sie zum Ende gekommen sind, erkennen sie zu spät, die Unglücklichen:. So lange sind sie, während sie nichts taten, beschäftigt gewesen.

 

[Autor]

Horaz verband in nicht wenigen Gedichten die Aufforderung zum Trinken mit der zur Liebe.

Das Leben ist kurz, die Jugend flüchtig, und ihr sollt die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, sondern jetzt, ehe es zu spät ist, trinken, feiern und der Liebe leben, meinte er.

 

[Seneca war anderer Meinung]

Ihre Genüsse sind voller Angst, und es kommt ihnen, besonders wenn sie ausgelassen sind, der sorgenvolle Gedanke in den Sinn: Das? Wie lange?

Immerwährende Ruhe folgt der Lösung von dem, was reizt oder schreckt. Denn die Genüsse und Reize, die unwesentlich und brüchig sind, und gerade durch ihren verlockenden Duft schädlich, löst eine ungeheure Freude ab, die unerschütterlich und gleichmäßig ist.

 

[Anmerkung in eigener Regie: Für die Stoiker ergibt sich die Gefahr des hohen und vielleicht überspannten Pathos. Die schroffe Abwertung empirischen Bedürfnisse bei ausschließlicher Insistenz auf Freiheit und Unabhängigkeit der handlungsnormierenden Vernunft ist moralischer Idealismus in Reinkultur. Epikur verfährt gemäßigter und sieht die Vernunft eher als Fähigkeit des Ausgleichs und der Bedürfnisintegration. Insofern erscheint er uns sympathischer und auch realistischer als sein stoischer Konkurrent. Man kann allerdings einwenden, die Berufung auf Empirie verheiße in der Morallehre nichts Gutes.

Im Falle von Horaz überschwänglichem Lob des Weines und der Liebesfreuden dichten wir selbst:

"Von Wein und Flötenklang berauscht wollt ihr nach Liebesfreuden jagen?

Auf hohe Güter steht ein hoher Preis!"]

 

[Autor]

Es gab damals wie heute lebensfrohe Alte und verdrossene Junge.

 

Die Sorge um sich wird zum Erlösungsmittel von der Sorge um die Zukunft.

 

Epikur hat uns gelehrt, in der Sterblichkeit die Quelle der Lebensfreude zu entdecken.

 

Das Vertrauen antiker Philosophen in das Projekt der Polis war schwach.

 

[Horaz]

Glückselig jener, der fern von Geschäften wie das ursprüngliche Geschlecht der Sterblichen, das väterliche Feld mit eigenen Stieren pflügt.

Ende

 

Zugabe in eigener Regie: .[Platon, Politeia, X, 604 b - d]

 

"... das beste Verhalten im Missgeschick ist, so ruhig wie möglich zu bleiben und nicht ungebärdig zu werden. Denn es ist unklar, was an dergleichen gut oder schlimm ist; auch ergibt sich kein Vorteil aus solchem Gebaren. Ferner soll man mit nichts, was dem Menschen begegnet, viel Aufhebens machen, und die Hingabe an den Schmerz wird nur ein Hemmnis für die Ermöglichung dessen, was wir in solchen Fällen am meisten nötig haben.

- Was wäre denn das?

Dass man zu Rate geht über das Geschehene und wie beim Fall der Würfel gemäß dem vorliegenden Wurf seine Maßnahmen trifft. Wenn man irgendwie zu Fall gekommen ist, soll man nicht wie Kinder die Hand auf die verletzte Stelle halten und fortwährend schreien. Vielmehr muss man immer die Seele daran gewöhnen, möglichst schnell sich daran zu geben, das Gefallene aufzurichten und das Kranke zu heilen, indem man durch ärztliche Kunst das Jammergeschrei vertreibt."