Sterblichkeit der Individuen aus evolutionbiologischer Sicht

 

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist unser Tod weit weniger unverständlich als aus der Perspektive des subjekt- denkenden Ich- Bewusstseins, die es uns bisweilen so undenkbar erscheinen lässt, dass wir einmal nicht mehr denken und existieren werden. [Das beweist m. E. allerdings nicht, dass wir deshalb eine dieser Perspektiven als unhaltbar zurückweisen sollten.] In evolutionsbiologischer Sicht ist der individuelle Organismus samt seines eventuell vorhandenen Bewusstseins lediglich ein Überlebens- und Fortpflanzungswerkzeug für Leben und Daseinsweise einer spezifischen, genetischen Substanz. Irgendwann wird dieses Werkzeug sogar zum überflüssigen Abfallprodukt, dessen Sterben [und Recycling im Naturkreislauf] vereinbar ist mit der Fortexistenz der zugehörigen genetischen Substanz, welche mehr oder weniger kurzlebige individuelle Organismen [einer bestimmten Art] hervorbringt.

Die Erbsubstanz optimiert sich [in evolutionsgeschichtlichen Zeiträumen], indem in einer Reihe zufällig erfolgender Veränderungen der Codes [für erblich codierte Eigenschaften] diejenigen dieser Codes sich am wahrscheinlichsten erhalten, die zu bestimmter Zeit vorteilhaft an ihre Umwelt angepasste Individuen hervorbringen. Dabei fällt es diesen Individuen zu, als Vehikel und Medium der Genfortpflanzung zu agieren.

 

Zusatz für den speziell menschlichen Fall: Die schmachtend entbehrenden Jünglinge früherer Generationen [z. B. Arthur Schopenhauer] ahnten es: „Die Lust ist das Handgeld des Teufels und die Welt sein Reich.“ An den Teufel glauben wir nicht, weil er wahrscheinlich nur allegorisch existiert. Anstatt seiner finden sich reproduktive, evoluierende, anonyme Selbsterhaltungsmechanismen [bezüglich genetischer Substanz spezifischer Art] in der unaufhörlich sich wandelnden Natur. Diese unpersönlichen, anonymen Replikationsmechanismen sind es, die das nichtsahnende Individuum ungefragt und rücksichtslos in Dienst nehmen und ihm nur wenig freie Stunden gönnen, in denen es z. B. darüber nachdenken könnte, was für es selbst gut wäre. Im Individuum entsteht triebbedingt zum Zweck seiner Verblendung eine illusionsreiche Motivation von großer Stärke, als ginge es um die bedeutendsten persönlichen Interessen, dazu noch erotische Lust in endlosem Behagen usw.. Im Endeffekt ist der [bisweilen] grausamen und stiefmütterlichen Natur daran allerdings wenig gelegen. Die Hauptsache scheint darin zu bestehen, das „Rad von Geburt, Tod und Wiedergeburt“ in Bewegung zu halten. Wir denken, unser eigenes Spiel zu spielen. Aber im Endeffekt sind wir weitgehend Marionetten überindividueller, in hohem Maß anonymer  Daseinsmächte, von denen wir nicht viel wissen. „Du glaubst zu schieben, doch du wirst geschoben,“ dichtet Goethe. 

 

Ähnlich wie es für eine Firma in der wirtschaftlichen Konkurrenz von Vorteil sein kann, ihre Produkte z.B. in kürzeren Produktzyklen als die Konkurrenz hervorzubringen, kann es sich für bestimmte Gensequenzen als “vorteilhaft” erweisen, die Reproduktionszyklen der zugehörigen Individuen zu verkürzen; - wobei die Änderung allerdings rein nach dem Zufallsprinzip und nicht nach bewusster Planung erfolgt. Das heisst also, dass unter verschiedenen Umweltbedingungen ganz verschiedene durchschnittliche Lebensspannen (der Individuen), die ich hier als erblich determiniert annehme, für die genetische Substanz [d.i. der genetische Code] von Vorteil [funktional für ...] sein können. Übermäßig lang lebende oder gar unsterbliche Individuen stellen aber gewiss keinen Vorteil für die Verbreitung von Organismen mit einer bestimmten Erbsubstanz dar, vielleicht würden zu lange ‚Produktzyklen‘ sogar die Chance der erfolgreichen Substanzoptimierung [und Neuanpassung in veränderlichen Umwelten] schmälern. Also hat die Evolution vielleicht allein schon aus diesem Grund nichts Unsterbliches hervorgebracht. Es gibt sozusagen keinen Grund dafür, wie das bei dem angenommenen Auswahlmechanismus hätte geschehen können.

Es muss also keine speziellen Alters- oder Todesgene in uns geben, um unseren Tod aus evolutionstheoretischer Sicht mit Erklärungsansätzen [mit einer Erklärbarkeitsbehauptung] zu verbinden. Die Pointe der Betrachtung besteht im Gegenteil darin, dass die endlose Lebensdauer der Individuen aus dieser Sicht völlig bedeutungslos, eventuell sogar „zweckwidrig“ erscheint.

So ist der individuelle Organismus die ‚Beute’ des Todes, während der sich optimierende genetische Code nach Anpassungsvorteilen ‚strebt’.

Ich habe in dieser Betrachtung Darwins Grundgedanken von Mutation (des Erbguts) und natürlicher Selektion als Hypothese bzw. Ansatz [zu Erklärbarkeitsbehauptungen bezüglich Variabilität und Entstehung biologischer Arten] aufgefasst. Es erscheint mir der Hervorhebung wert, dass weder die Individuen noch die biologischen Arten den eigentlichen Ansatz- und Angelpunkt für diese sonderbare Art von Zweckmäßigkeitsbetrachtungen darstellen, die uns Darwin eröffnet hat. Die Selektion arbeitet letztlich zum Vorteil irgendwelcher Ensembles genetisch determinierter Eigenschaften [bzw. der Codes dafür] und nicht zum Nutzen von Einzelorganismen oder biologischer Arten. Und im Wechselspiel mit einer Umwelt [wozu auch die Konkurrenzsituation um knappe Ressourcen mit anderen Individuen gehört], die selbst dem Wandel unterliegt, optimieren sich die Eigenschaften dieser Gene ohne planenden Verstand und ohne ordnende Hand. – Das meinte ich mit der Formulierung ”sonderbare Art von Zweckmäßigkeitsbetrachtung.”

Im Falle von evolutionsbiologischen Betrachtungen zu Themen wie Krankheit, Altern und Tod ist mir nun aufgefallen, dass der darwinistische Grundgedanke in hohem Maß sozusagen ‚dialektischer’ Wendungen fähig ist. Ohne dass wir z.B. Todesgene in’s Spiel bringen müssen, ergibt sich aus dem Ansatz, dass es aus evolutionstheoretischer Perspektive jedenfalls keinen Grund dafür gibt, dass irgendwelche Individuen unsterblich sein können sollten. Die Sterblichkeit des Individums, nachdem es sich fortgepflanzt hat, ist aus dieser Perspektive einfach so irrelevant, dass das Individuum einfach irgendwann als unnützes Überbleibsel des wirklich maßgeblichen Fortpflanzungsgeschehens dem nagenden Zahn de Zeit und sonstigem Verschleiß überlassen wird.

Ähnlich könnte man bezüglich der mangelnden Instinktivität oder ‚Undeterminiertheit’ des menschlichen Verhaltens argumentieren: die instinktive Undeterminiertheit unseres Verhaltens, worauf Kulturentwicklung und Freiheitsgedanken aufbauen, erscheint in dieser Sicht genetisch determiniert, d.h. wir sind gerade als undeterminierte Wesen genetisch determiniert. Insofern erscheint es als denkbar, dass die Natur ein Kultur- und Freiheitswesen hervorgebracht hat. – Solche Kodes konnten sich in einer Umwelt behaupten.

Für den Grundansatz Darwins bleiben unter dem Strich gewiss sehr viele Fragen offen, und bis in einzelne Details kann wohl niemand sagen, wie sich z.B. die Art der Vögel aus erdkriechenden Lebewesen entwickelt haben soll. Der Ansatz veränderlicher Arten ist ja sehr allgemein und fast ‚spekulativ’. Ich finde es beeindruckend, wie zwanglos man von diesem Gedanken aus zu Betrachtungen über Altern und Tod gelangen kann.

Bei der religiösen Auffassung des Lebens, vom Schöpfungsbericht der Genesis her, treffen wir auf eine fast spiegelverkehrte Situation. Dass der allmächtige Gott, wenn er existiert, Lebewesen verschiedenster Art erschaffen hat, kann jedem Kind fast zwanglos nahegebracht werden. Aber warum wir bei Voraussetzung göttlicher Allmacht in einer Welt der Krankheit, des Alterns, des Todes und der Leiden leben, erfordert beträchtliche Zusatzannahmen, die sich gar nicht leicht mit dem Allmachtsgedanken harmonisieren lassen. – Um diesen Fragenkreis zu bewältigen, müssen wir beispielsweise zum Sündenfallsmythos und zu Paulus’ Reden von der ‚Sünde Sold’ u. dgl. fortschreiten. Diese zusätzlichen Annahmen werden erforderlich, weil man anerkennt hat, dass in einer uranfänglich “vollkommenen” Welt durchaus kein Platz für Krankheit, Tod und unverschuldetes Leiden wären.

Die Theologie des unermesslich großartigen Gottes führt zum Folgeproblem der Theodizee [Problematik des Hiob], der Darwinismus hat dagegen [in spiegelbildlichem Gegensatz] das Problem, in puncto ‚Artentstehung’ von bloßen Erklärbarkeitsbehauptungen zu wirklich handfesten Erklärungen fortzuschreiten.

Es sind also bei diesen so gegensätzlichen Betrachtungsansätzen ein jeweils anderer Bereich von Phänomenen schwer verdaulich.

Der Hinweis mag überflüssig sein, dennoch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich die darwinistischen Grundgedanken von veränderlichen Arten, Mutation und natürlicher Selektion für rein naturalistische Konzepte halte, die in normativ- moralischen Kontexten keine grundlegende Bedeutung besitzen; - im moralisch wertenden Sinn sind sie m.E. sogar ‚irrelevant’. Mit Kant halte ich die Unterscheidung von Sein und Sollen für eine unentbehrliche und grundlegende Unterscheidung in der Philosophie. Das führt uns zur Unterscheidung von Fragen, die das, was ist, betreffen, und Fragen, die das betreffen, was normativ- verbindlich sein sollte. In manchen Fällen mag es so etwas wie die ‚normative Kraft des Faktischen’ geben, aber ich glaube nicht, dass wir die Philosophie des ethisch-moralisch Normativ-Gültigen auf diesem hybriden Phänomen aufbauen können. Wenn wir die ethisch- normative Kraft irgendwelcher Verhaltensforderungen aus der Biologie ableiten wollten, würden wir m.E. naturalistischen Missverständnissen erliegen, obwohl so etwas tatsächlich immer wieder versucht wird. Ich vermute aber, dass evolutionsbiologische Konzepte nicht zwangsläufig mit solchen Übergriffsversuchen verbunden sein müssen.