Erkenntnis und Irrtum

 

 

 

Das Wahre wird (bisweilen) für falsch gehalten, das Falsche (bisweilen) für wahr. Gutes (bis­weilen) für schlecht und Schlechtes (bisweilen) für gut.

 

Einige von uns dafür gehaltene Verpflichtungen sind wirkliche Verpflichtungen, einige nicht.

 

Starke werden (bisweilen) für schwach gehalten, schwache (bisweilen) für stark. Glück wird (bisweilen) für Unglück gehalten, Unglück (bisweilen) für Glück.

 

Wer von seinen Vorgesetzten Lob erfährt, muss sich manchmal ernstlich fragen, ob er nicht etwas falsch gemacht hat.

 

"Leicht ist die Zunge des Menschen gewandt, und viele sind der Reden." (Homer)

 

Trotz der leichten Wendung und Gewandtheit der menschlichen Zunge verfestigen sich durch häufigen Gebrauch typische Redewendungen und damit verbundene Bewusstseinsarten [Gesichtspunkte der Aufmerk­samkeit und auch der korrespondierenden Achtlosigkeit]. Alle diese Redeweisen und Bewusstseinsarten [Denkinhalte, Denk­weisen] haben das Ge­präge von Per­spektivität und Selektivität, indem sie Gewichtungen und Wichtigkeiten des für uns Bedeutsamen enthal­ten. Man kann mit M. Foucault von „normativen Klassifikatio­nen“ und von „Diskurs­forma­tionen“ spre­chen, aber auch von verhaltenssteuernden Bewusstseinsarten oder ver­haltenswirksamen „Mentalitä­ten“. Hier kommt der Aspekt zur Geltung, dass menschli­ches Verhalten im Zu­sammenspiel mit Denkinhalten, Denkweisen und typischen Arten von Unbewusstsein und Betriebsblindheit geschieht. Die Dis­kurs- und Be­wusstseinsstruk­tur ist eine Dispo­sition zu beobachtbarem Ver­halten, die sich in der Wechselwirkung vieler Be­teiligter verfestigt und erzeugt hat. Man kann auch von „Memen“ sprechen, die „erfunden“ wurden und sich als Üblichkeiten etab­lieren konnten.

 

Nach fragwürdigen Gesichtspunkten halten wir manches der Aufmerksamkeit und der Rede für wert, manches nicht.

 

Der Geist der Sterblichen schweift irrend umher, ihre Torheit ist gewaltig.

 

Unser Denken ist wahrheitsfähig und trügerisch zugleich. – Wir unterliegen gedanklichen, sprachlichen und psychologischen Illusionen, können dies aber [nur] zum Teil erkennen.

 

Wenn wir nur halb so viel wüssten, wie wir zu wissen glauben, wüssten wir bereits mehr, als wir wissen können.

 

Wir wissen niemals so viel oder so wenig, wie wir zu wissen glauben; - aber niemals genau das, was zu wissen gut für uns wäre.

 

Unsere Unwissenheit ist auf nahezu allen Gebieten universell.

 

Eins ist Wahr-sein, ein anderes Für-wahr-gehalten-werden.

 

Oft ist gerade das völlig unerweislich, was wir ganz genau zu wissen glauben.

 

Die Felsenfestigkeit einer Überzeugung ist kein Merkmal der Wahrheit, sondern eher ein Merkmal dafür, dass es sich um eine fixe Idee, eine Projektion oder gar um Wahn handelt.

 

Es ist Sache des richtigen Urteils, die Wahrheit zu erfassen.

 

Schlechte Zeugen sind Augen und Ohren für Menschen, wenn es ihnen an Verstand und Ur­teilskraft fehlt. (Bei Heraklit, fr. 107: "wenn sie Barbarenseelen haben.")

 

Unser nach Klarheit ringender Geist ist äußerst weitgehend in seine Auffassungsmuster, Er­zählmuster und illusionären Projektionen verstrickt. Die Berufung auf eine Wirklichkeit, wie sie wirklich ist oder war, kann einem unter diesem Gesichtspunkt bisweilen als ein Zeichen mangelnden Bewusst­seins [Aufmerksamkeitsdefizit] erscheinen.

 

"Die Wahrheit, Gastfreund, ist etwas Schönes und Bleibendes, davon zu überzeugen scheint aber gewiss nicht leicht." (Platon, Nomoi, 663 e)

 

Die bloß vorgespiegelten Sachverhalte sind diejenigen Sachverhalte, die eigentlich gar keine sind. - Wie bei den falschen Freunden, die eigentlich auch gar keine Freunde sind.

 

Irrtum ist eine Erkenntnis, die keine ist. Dagegen ist Wahrheit eine Erkenntnis, die nicht gel­ten darf, was sie ist, damit die Irrtümer scheinen können, was sie nicht sind. [Rem. an Schop.]

 

Geist ist allen gegeben. Nicht aber die Kraft, ihn zu bewegen.

 

[Rechthaberei und Anmaßung] Die unbedingt recht haben wollen, sind diejenigen, die gar nicht fragen, was für oder gegen ihre Ansicht spricht.

 

"Das eben ist das Arge am Unverstand, dass er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt." So Platon, und er fügt hinzu: "Wer nun nicht glaubt, bedürftig zu sein, der begehrt auch das nicht, dessen er nicht zu bedürfen glaubt."

 

Diejenigen, denen Einsicht helfen könnte, sind selten der Meinung, dass ihnen gerade in die­sem Punkt etwas fehlt.

 

Wer fast nichts weiß, kann dennoch glauben, alles Maßgebliche zu wissen. So steht die Bes­serwisserei der Menschen in sonderbarem Verhältnis zu der Tatsache, dass den wahren Sach­verhalt oft niemand kennt.

 

"Wer gekommen ist, die Menschen in wichtigen Dingen zu belehren, soll froh sein, wenn er mit heiler Haut davonkommt", sagt Schopenhauer. – Ja, wir besitzen einen ausgesprochen starken Willen zur Unbelehrbarkeit.

 

Auf dem Weg zur Wahrheit sitzen Chimären [Projektionen, Unterstellungen, Illusionen].

 

Erleuchtung, die uns zuteil wird, wird uns nicht ein für alle Mal zuteil.

 

Es geht nicht einfach um eine Meinung über die Wirklichkeit, sondern um einen haltbaren Standpunkt inmitten der Vielfalt anderer Meinungen. – Deshalb müssen wir unsere Eviden­zen mit den Meinungen anderer auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede vergleichen.

 

Wir irren uns oft, denn irren ist menschlich. Wenn wir aber Recht haben wollen, was erstaun­lich oft der Fall ist, zweifeln wir nicht an der Erkennbarkeit von Wahrheit und Wirklichkeit und prüfen nur weniges.

 

Platon sagt uns: Die uns umgebende Wirklichkeit vermögen wir nur zu erkennen als Schat­tenspiel im Licht von Ideen, rein konstatierend nicht. Insofern geht unser Denken und Spre­chen zwangsläufig über die nüchtern beobachtete Wirklichkeit hinaus. Die nüchtern beo­bachtete Wirklichkeit im Un­terschied zur theoretisch modellierten Wirklichkeit wird sogar fraglich, wenn wir von der Theorien- und Begriffslastigkeit jeder Beobachtung ausgehen. Wirklichkeit ist nicht unab­hängig von Begriff und Gedanke wahrnehmbar. Auch nicht unab­hängig von sprachlich arti­kulierten Gedanken, also unserer Art, über die Wirklichkeit zu re­den.

Entgegen Platons Absicht kann man aus der Entdeckung der Unentbehrlichkeit von Ideen und gedanklichen Konstruktionen die Ansicht folgern, wegen des konstrukti­ven Gepräges der Begriffssysteme und „Diskurspraktiken“ werde es sinnlos, Wahrheit und Fiktion streng von­einander zu unterscheiden. Ist die jeweilige Wahrheit durch das Begriffssystem oder die „Dis­kurspraktiken“ einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin „determiniert“, wird die Wahr­heitsfähigkeit unserer Gedanken fraglich. Damit sind wir bei Nietzsches sich selbst de­mentie­render Konzeption von Wahrheit als einem „Heer von beweglichen Metaphern“, sozu­sagen bei der Wahrheit als einer wohlfeilen und üblichen Redensart, angelangt. Über die Re­alität besagt sie nicht mehr allzu viel. – Früher, sozusagen, glaubte man, die Wahrheit habe etwas über die Realität zu besagen. Heute neigen kritische, allzu kritische Geister zum Fiktio­nalis­mus, an dem ja viel Wahres ist.

Prinzipiell kann man dem begegnen, indem man an der Wahrheitsfähigkeit unseres Denkens trotz begrifflich-konstruktiver Denkinhalte festhält. Denn ansonsten müsste man selbst den Satz von der Konstruktionslastigkeit aller Wirklichkeitswahrnehmungen reflexiv dementie­ren. Das Selbstdementi soll und kann nicht die letzte Wahrheit bezüglich des menschlichen Den­kens sein. Im Einzelfall kann man Dichtung, Konstruktion und nüchterne Beobachtung ledig­lich graduell unterscheiden. Ebenfalls nicht mit einer rein konstatierenden Denkweise.

 

Es ist nicht vernünftig, der Vernunft zuviel oder zuwenig zuzutrauen.

 

Nahe liegende Redensarten sind bisweilen nicht die der Wirklichkeit entsprechenden.

 

Viele Irrtümer und Halbwahrheiten bleiben in Gebrauch, weil man nicht aufhört, immer wie­der die falschen Fragen zu stellen. – Falsche Fragen insofern, als sie auf unhaltbaren oder zu­mindest problematischen Voraussetzungen beruhen, deren man sich aber aus irgendwelchen Gründen nicht bewusst wird.

 

Misstrauen sollte man nur der nur angeblichen Wahrheit entgegen bringen, der wirklichen nicht. Aber die nur angebliche Wahrheit ist von der wirklichen nicht zu unterscheiden, ohne vermittelst geeigneter Worte die Wirklichkeit so darzustellen, wie sie ist oder war.

 

Halbwahrheiten machen uns mehr zu schaffen als eindeutige Irrtümer. Weil an fast jedem Standpunkt etwas Rich­tiges ist, gibt es kaum eine Chance, in einem Streit um Standpunkte „die Wahrheit“ zu erkennen.

 

Das angebliche Gegenteil eines Irrtums ist oft nur ein anderer Irrtum. – Aus der Verkennung dieses Sachverhalts speist sich der „politische Fehlschluss“ [Rem. an Weizsäcker]: „Weil du im Irrtum bist, muss ich im Recht sein.“ [Und noch folgenreicher: „Weil du Unrecht tust, bin ich berechtigt, so zu handeln, wie ich es tue.“] Unter zu findenden Aspekten können wir aber beide „im Recht sein“, und wir können in zu findender Weise auch beide irren. Je nach der Para­phrase, was wir „eigentlich“ sagen wollten und dachten.

 

Es gibt konsensfähige Irrtümer. Man erkennt dies, wenn man seine Aufmerksamkeit darauf richtet, wie wir tatsächlich Einvernehmen untereinander herstellen. Eine Gemeinsam­keit des Nicht-in-Frage-Stellens führt oft zum Konsens, obwohl die entsprechenden Überzeu­gungen oft z. B. auf sozialen Projektionen, Klischees und Stereotypen beruhen. In der Wech­selwir­kung menschlicher Verhaltensweisen entstehen, verfertigen und verfestigen sich [wie von selbst] z. B. Geschlechterrollen, z. B. eine zeittypische Mutter- und Vaterrolle, Konstrukte normge­rechten Familienlebens, Berufsrollen, Standes- und Klassenideologien usw.. Unser alltägli­ches Denken unterliegt in hohem Maße diesen vorge­fertigten Bildern, was man z. B. gut an Wer­bung und der alltäglichen Stimmungsmache beobachten kann. – Will man kriti­sche Geister von etwas überzeugen, genügt es manchmal, die Bilder einfach auf den Kopf zu stel­len, ohne sie zu prä­zisieren. Das zeigt natürlich, dass die kritischen Geister nicht durch Wel­ten von den unkriti­schen getrennt sind, weil beide Gruppen oft nicht wissen, wovon sie reden und was sie davon sagen; - nicht einmal für weitere Zwecke als die augenblickliche Stim­mung hinreichend genau. Das erzeugt natürlich immense Probleme für denjenigen, der fest­stellen möchte, welche Aussagen in diesem oder jenem Falle eigentlich zur Beurteilung ste­hen.

 

Die strukturierende Kraft falscher Ansätze zeigt sich oft in der Fixierung falscher, un­voll­ständiger Alternativen, die keinen dritten Weg zulassen möchte. Z. B. Shareholder Value ver­sus soziale Sicherheit in einer wirtschaftspolitischen Diskussion. – Den unbedachten Aus­weg aus einer unzureichenden Alternative zu finden, sollte eigentlich das Hauptproblem sein und nicht die Frage, ob man für oder gegen einen vorformulierten Standpunkt ist.

 

Überall erleben wir die Kraft strukturierender Erwartungen, die unser Verhalten zum Teil sta­bil und berechenbar macht, zum Teil aber auch in Ausweglosigkeiten verstrickt. – Oft gibt es keine Lösung in der Art, wie wir sie suchen, z. B. auch, wenn man denkt, die Diagonale müsse in rationalem Verhältnis zu den Seiten eines Quadrats messbar sein. Der höhere Stand­punkt ist hier, die Falschheit der Voraussetzung zu erkennen. – Noch schwieriger wird es, wenn wir es mit unerweislichen Voraussetzungen pro et contra zu tun haben.

 

Die Konstruktionen stehen in Zusammenhang mit Erwartungsbildungen. Oft genug besitzen diese sozialen Konstruktionen, die teilweise auf konsensfähigen Irrtümern beruhen, auch die Macht, entsprechende Realitäten durch ihre Struktur bildende Kraft tatsächlich hervorzubrin­gen. Sie gewinnen ein normatives Eigenleben und sind dann sozusagen kaum mehr zu falsifi­zieren. Aber es entsteht auch viel innere Not und Enttäuschung, wenn einer die ihm zuge­dachten Rollen nicht spielen kann oder will. Bereits kleine Kinder leiden sehr, wenn sie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können. Auch unausgesprochene Erwartungen wir­ken nachhaltig, sie können zum Teil sehr heimtückisch sein und den Gleichgewichtssinn der Psyche permanent irritieren.

 

Sozialen Konstruktionen, welche unser Verhalten und unsere Erwartungen stabilisieren, fal­len mit Gehlens „Institutionen“ zusammen, wie ich vermute. Die Vorteile ihrer stabilisieren­den Kraft sind mit den entsprechenden Nachteilen wie Starrheit und Unflexibilität verbunden. Der einzelne muss also maßvoll damit umgehen und sich fragen, was davon seinem Leben wirk­lich dient, und was er für seine eigenen Zwecke vielleicht etwas modifizieren sollte.

 

Nachträgliche Bemerkung: Viele Aussagen sind mehrdeutig und können deshalb wahr und falsch zugleich sein, je nachdem man sich die Aussageinhalte zurechtlegt. [Ein Beispiel mit schwerwiegendem Klärungsbedarf: „Freiheit ist ein hohes Gut.“ Ich halte den Satz für wahr. Was aber halte ich damit für wahr?] – Man auch sagen: We­der wahr, noch falsch, je nach Interpretation. – Je nach Situation, je nach Stimmung interpre­tieren wir unsere Äuße­rungen anders. Je nachdem werden sie auch von andern anders interpretiert, und sie können in situati­ons­abhängiger Weise auch tatsächlich, nach üblichen Maßstäben, etwas anderes bedeuten. Wir denken vermittelst fragwürdiger Abstraktionen, zudem unter dem Einfluss von Bil­dern, Situati­onen und Stimmungen. Die Art der Situation, offiziell, inoffiziell u. dgl. übt einen großen Einfluss darauf aus, wie wir uns äußern: Wortwahl und Perspektive werden dabei be­einflusst. Das alles macht die Erkenntnis von Wahrheit und Wirklichkeit in vielen Angele­genheiten schwierig.

 

Nehmen wir ein nicht ganz so schwieriges Beispiel, wie es der Gebrauch des Wortes „frei“ [z. B. in „freie Fahrt für freie Bürger“] darstellt. Ein Mensch kann krank und gesund zugleich sein, je nachdem man zwischen „gesund“ und „krank“ unterscheidet. „Wie definieren Sie Ge­sundheit?“ kann man fragen. Die Vagheit der Begriffsinhalte, bzw. der Denkinhalte, bzw. der Wortanwendungsregeln, schließt das Entweder-Oder als Denkfigur aus und macht ein So­wohl-als-auch, bzw. ein Weder-noch erforderlich.

 

Man kann bei unserem letzten Beispiel mit ver­schiedenen Konzeptionen von Gesundheit und Krankheit beginnen. Krank­heit nach der Art einer Infektionskrankheit, Krankheit nach einem psychosomatischen oder gar psychiatrischen Krank­heits­modell, Krankheit nach der Art eines Krankheitsmodells, das soziale Aspekte berücksichtigt, Krankheit nach der Art eines weiteren Modells.

 

Die Wahrheit und Falschheit einer Aussage wie „Hans ist krank“ ist also dahingestellt, je nachdem man die Bedeutung des Wortes „krank“ wählt. Nahe liegend ist zwar die Bedeutung von „krank“ als „nicht-gesund“. Aber Gegenbeispiele sind denkbar, wo jemand nicht gesund und doch nicht krank ist. Man kann nun versuchen, eindeutige Bei­spiele für Krankheit und Ge­sundheit anzuführen, um daraus Erkenntnisse bezüglich der Bedeutung von „krank“ und „gesund“ abzuleiten.

 

Das Problem des unpräzi­sen Begriffsinhalts tritt auf zweierlei Weise auf, je nachdem  man auf den Be­griffsinhalt selbst oder auf die zu klassifizierenden Individuen achtet. Im ersten Fall ist der Unter­schied von „krank“ und „gesund“ nicht ganz klar. – Der Begriff „schillert“, der Begriff ist geprägt von Aspektpluralität. - Man versucht nun, sich diesen Unter­schied von „gesund“ und „krank“ durch eindeutige Beispiele zu vergegenwärtigen. Im zwei­ten Fall, wenn man auf die zu klassifizierenden Individuen achtet, ist nicht ganz klar, ob wir nun wirklichkeitsgemäß sagen können, dass Hans krank, nicht-krank, ge­sund oder nicht-gesund ist. Wir treffen hier auf eine Wirk­lichkeit, die uns mit unserem „gege­benen“ Aussageinhalt vor ein Problem des Ermessens und des Entscheidens stellt. – Unsere vorgefassten Begriffe gleichen dem eisernen Bett des Prokrustes. Manchmal zu weit, manchmal zu eng, passen sie oft nicht auf den zu klassifizierenden [zu bestimmenden] Gegenstand.

 

Der Unterschied von „krank“ und „nicht-krank“ ist also nicht klar, der Unterschied von „krank“ und „gesund“ ist erst recht nicht klar, denn wer nicht krank ist, ist deshalb nicht schon gesund. Nicht-krank und doch nicht gesund sind zusammen denkbar, d. h. sie schließen sich nicht aus. Es gibt also eine weitere Möglichkeit, tertium datur. Das Prinzip der Bivalenz von Wahrheit .und Falschheit gilt nicht für die Anwendung von alltagssprachlichen Beg­riffen wie „krank“ und „gesund“. Man ist nicht einmal entweder „krank“ oder „nicht-krank“. – Ob wir mit der Anwendung von „wissenschaftlichen“ Termini aus dieser Situation völlig heraus­treten können, lasse ich hier offen. Meine Vermutung: auch nur „mehr oder weniger“.

 

Die Vagheit des Denkinhalts, wel­che in einer Vagheit der Unterscheidung bzw. des [wirkli­chen] Unter­schieds besteht, zeigt sich in der Existenz von Übergangsbereichen und Grenzfäl­len. Es gibt in diesem Falle eine Menge von Individuen, für welche der Aussageinhalt weder pro noch contra zu entscheiden ist. Unsere Aussage fixiert die Wirklichkeit nicht auf ja oder nein, weil der Aussageinhalt nicht eindeutig ist. Wir besitzen auch kein metrisches Kriterium für eine Mengenzuge­hö­rigkeit von z. B. 0,5 oder 0,6, was auf die Entscheidbarkeit eines metrischen Aussageinhalts höherer Stufe bezüglich eines Begriffsumfangs bzw. einer Men­genzugehörigkeit hinausliefe. Wir würden hier eigentlich nicht mehr über die Dinge selbst, sondern über die Eigenschaften sprechen, die wir von ihnen mehr oder weniger prädizieren. Und wir hätten darüber hinaus eine Metrik für das Ausmaß der Prädikation. – In der Praxis aber können wir oft lediglich versuchen, eindeutige Bei­spiele heranzu­ziehen. In der Folge können wir dann über ein partielles Für und Wider in uneindeuti­gen Fällen nach­denken. – Das sind dann Refle­xionen von Aussage- bzw. Denkinhalten, also ein Nachdenken be­züglich des [alltags­sprachli­chen] Denkens selbst. – Auch der Vergleich verschiedener Redeweisen und die Suche nach passenden Worten im Vergleich zu Formulierungsalternativen ist eine solche Re­flexion bezüglich zutreffender Denk­inhalte. Bzw: bezüglich der zu findenden zutreffenden Worte. – Und es ist uns durch nichts garantiert, dass passende, letzte und ab­schließende Worte in einem Thema zu finden sein werden. Unerschöpfliche Themen gibt es viele, vor allem im Bereich der menschlichen Verhaltensweisen, Mentalitäten, Empfindungen und Gefühle. - Es wird an dieser Stelle klar, dass die Sprache und die Sprechweisen, die wir erlernt und trainiert haben, uns viele Vorgaben nahe le­gen. U. a. auch deshalb, weil uns nicht im­mer die Zeit zur Verfügung steht, über angemes­sene Worte und Begriffe auch in angemes­sener Weise nachzu­denken. Dem gemäß werden wir sehr oft mit vorgefertigten, aber nur teilweise passen­den Redeweisen auf die Situationen reagieren, in die wir geraten sind. – Ende der nachträgli­chen Bemerkung.

 

© copyright Jürgen Baader, Bad Dürkheim, 2003, letzte Bearbeitung 31.01.10.